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"Die Menschen hier besaßen die Welt"

Der 1952 in Oslo geborene Ketil Bjørnstad ist eine künstlerische Doppelbegabung: Der klassisch geschulte Pianist hat sich heute dem Jazz verschrieben. Als Schriftsteller wurde er bei uns durch seine biografischen Schriften über Edvard Grieg und Edvard Munch bekannt. In seinem erst jetzt auf Deutsch erschienenen Roman "Oda" von 1983 lässt er die norwegische Boheme Ende des 19. Jahrhunderts wieder auferstehen.

Von Peter Urban-Halle | 11.06.2008
    "Die Menschen hier besaßen die Welt", steht irgendwo in diesem Roman, aber man fragt sich, ob sie sich eigentlich selbst besaßen, von der Welt ganz zu schweigen. Was sie besaßen, war eine grenzenlose Sehnsucht: nach dem Absoluten, nach einem Leben ohne Zugeständnisse, nach der Wahrheit um jeden Preis, ohne Rücksicht auf familiäre Bindungen, ohne Rücksicht auf sich selbst. Ende des 19. Jahrhunderts erlangten die Mitglieder der sogenannten Kristiania-Boheme auch in Berlin und Paris eine gewisse Berühmtheit, sie waren beispielhaft radikal und kompromisslos, gleichzeitig aber auch "hypersensible, von Potenzstörungen geschlagene Neurastheniker", wie Helmut Kreuzer in seiner bekannten Studie über "Die Boheme" anmerkt. Die Überspanntheit, die leichte Hysterie, das schnelle Kokettieren mit dem Selbstmord und die ständige Beschwörung bedingungsloser Liebe - all dies dokumentiert Ketil Bjørnstad in einem glücklicherweise ganz hysterielosen Stil. Sein Buch liest sich wie ein Roman, wahrscheinlich weil das Leben seiner Heldin Oda Krohg und ihrer Weggefährten so romanesk war. Wie viel Wahrheit steckt in diesem Buch? Der Autor Ketil Bjørnstad:

    " Es gibt eine ganze Menge authentischer Quellen im Buch, und ich fühle mich wie eine Mischung aus Journalist und Romancier, weil ich gleichzeitig auch Schriftstellertricks anwenden musste, um die Geschichte erzählen zu können. Ich hatte viele authentische Briefe von Oda, von und an Hans Jaeger, ich hatte die Briefe anderer Leute und Edvard Munchs Tagebücher. Das ergibt ein Mosaik. Dazu kommen noch die verschiedenen Bücher von Autoren, die mit ihr ein Verhältnis hatten, und die wie Schlüsselromane geschrieben sind. Die Zeit war damals so naturalistisch, dass ich davon ausgehen konnte, dass der Stoff sozusagen fertig war, dass ich ihn also als authentische Quelle verwenden konnte. "

    Der von Bjørnstad genannte Hans Jaeger war der Wortführer der Kristiania-Boheme, unter diesem Titel hatte er 1885 ein Skandalbuch veröffentlicht, in dem es eigentlich nur um Sex geht, um politisch begründete Verführung, freie Liebe und die Anerkennung der Prostitution. Jaeger musste für sein Buch und sein Verhalten bitter büßen, er wurde nicht nur zu Gefängnis verurteilt, er verlor auch seine Stelle als Parlamentsstenograf und damit sein Auskommen. Außerdem wurde ihm das Recht zum Studium abgesprochen, und von wem? Ausgerechnet von Odas Vater, dem Regierungsrat Lasson. Jaeger litt, gab aber keine Handbreit nach. Nicht einmal die Heldin ist so radikal und wahrheitsfanatisch wie Hans Jaeger.

    " Nach allem, was ich in den letzten Jahren über Hans Jaeger geforscht habe, muss er einen ungeheuren Einfluss gehabt haben. Er besaß eine gnadenlose Logik und ein Wahrheitsbedürfnis, das für die Leute wirklich abschreckend war. Die Gesellschaft hat ihn dann ja auch ausgestoßen, und er hat sein Leben als armer Mann beendet. Für einen Autor ist das ein spannendes Szenario und ein Kontrapunkt im Leben und sehr dramatisch. Seine Stellung in der heutigen Literaturgeschichte ist meiner Meinung nach unterbewertet, ich möchte ihn etwas aufwerten mit meinem Buch. "

    Aber im Mittelpunkt steht Oda Lasson, geschiedene Engelhart, verheiratete Krohg. Sie stammte aus einer gesellschaftlich einflussreichen Familie, ihr Vater konnte ihr lange nicht verzeihen, dass sie sich in Künstlerkreisen bewegte und sich Dinge herausnahm, die einem anständigen großbürgerlichen Mädchen verboten waren. Mit Hans Jaeger verband Oda eine Amour fou, und Jaeger war es, der "fanatische Realist", wie Bjørnstad ihn nennt, der seiner Geliebten Oda den Titel verlieh, den sie ihr Leben lang tragen sollte: "la vraie princesse de la bohème", "die wahre Prinzessin der Boheme". Aus erster Ehe hatte sie zwei Kinder. Mit ihrem zweiten Mann, dem Künstler und Autor Christian Krohg, bei dem sie Malunterricht nahm, hatte sie zwei weitere Kinder, darunter den kleinen Per, der später ebenfalls Maler werden sollte; von Per Krohg stammt das Wandbild im berühmten Grand Café, das die Osloer Intelligenz und Boheme abbildet, im Vordergrund sieht man die beiden Schwestern Oda und Alexandra Lasson. Christian Krohg war stolz auf seine Frau Oda, er hat sie regelrecht vorgezeigt, sie merkte, schreibt Bjørnstad, "dass er sie förmlich weiterschob, von einem Mann zum nächsten". Oda wurde die Muse der Boheme, sie hatte mit vielen Künstlern und Dichtern ein Liebesverhältnis, alle umschwärmten sie, während sie trotz allen Kummers, den sie besonders in ihren Beziehungen zu den beiden wichtigsten Männern ihres Lebens empfand, nämlich Christian Krohg und Hans Jaeger, beinahe nüchtern bleiben konnte. Oda sagt am Schluss: "Ich glaube, dass alle Männer, die mir begegnet sind, etwas anderes erwarteten, sie erwarteten mehr, als es gab." Aber ist es nicht andererseits auch die Stärke der Männer, dass sie eine Utopie haben?

    " Es geht genau um die Mystifizierung, die ja in gewisser Weise Odas Gestalt lebendig gemacht hat, die aus dem entstand, was Edvard Munch malte oder Christian Krogh oder was Hans Jaeger schrieb oder Jappe Nielsen oder Gunnar Heiberg, und da sind wir beim Thema des magischen Kodes, der dazu beiträgt, Kunst zu erschaffen. Es ist klar, dass diese Männer in ihr die Gestalt sahen, die sie mystifizieren konnten, weil sie in gewisser Weise so frei und modern war. "

    Man darf dieses Buch wie eine Dokumentation lesen, viel mehr im übrigen als die ähnlich gedachten Romane des Schweden Per Olov Enquist. Enquists Thema ist das schmale Grenzgebiet zwischen Vernunft und Gefühl. Bjørnstad, obwohl es bei ihm auch um Liebe geht, arbeitet viel rationaler und nüchterner. Das liegt wohl an seinem Stoff, die Kristiania-Boheme hatte ein Programm, das wollte sie durchziehen. Hat die "wahre Prinzessin der Boheme" erreicht, was sie wollte? Am Ende musste Oda zwar einsehen, dass das Leben aus Kompromissen besteht. Aber sie hatte Einfluss und Wirkung gehabt und mitten im kraftvollsten künstlerischen und intellektuellen Milieu der norwegischen Geschichte gestanden. Ihre Stärke beruhte darin, dass alle sie verehrten und respektierten, obwohl sie sich mit vielen einließ und obwohl ihre Dichterfreunde Bücher über sie schrieben, die man heute wahrscheinlich wegen Persönlichkeitsverletzung verböte. Letztendlich ist ihr Leben trotz allem eine Emanzipations- und Erfolgsgeschichte geworden. Ketil Bjørnstad beschreibt diese Geschichte mit großer Sympathie, er hätte sie noch straffen können, wenn er auf die seitenlange Abschrift persönlicher Briefe verzichtet hätte. Aber Odas Geschichte bleibt packend, denn der Autor schafft ja einen Balanceakt: die manchmal verstiegenen, dann aber wieder bewundernswerten Handlungen der Boheme in einer ausgereiften, ruhigen Sprache zu erzählen.

    Ketil Bjørnstad: Oda. Roman. Aus dem Norwegischen von Lothar Schneider. Insel Verlag, Frankfurt/Main 2008. 430 Seiten. 19,80 Euro.