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"Die Menschen wollen keinen Marktradikalismus"

Der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering hat mit Blick auf den gestrigen Bundesparteitag seiner Partei betont, Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier mache von Woche zu Woche deutlicher, dass er für das Soziale und Demokratische stehe. Das Wichtigste sei, Arbeit zu schaffen und zu sichern. Der Großteil der Menschen in Deutschland sei davon überzeugt, dass die Sozialdemokraten in der Regierung wichtig seien, betonte Müntefering.

Franz Müntefering im Gespräch mit Sandra Schulz | 15.06.2009
    Sandra Schulz: Mit einem Richtungswahlkampf aus der Krise, diese Marschroute hat SPD-Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier gestern ausgegeben. Kämpferisch hat er sich gezeigt bei seinem Auftritt auf dem Parteitag in Berlin und die Genossen eingeschworen auf eine Aufholjagd rund dreieinhalb Monate vor der Bundestagswahl. Bei rund 25 Prozent steht die Partei derzeit in Umfragen. Nach der Enttäuschung bei der Europawahl war das Ende der Woche ein zweiter Tiefschlag in die Magengrube der Sozialdemokraten. Gestern haben sie ihr Wahlprogramm verabschiedet. Finden die Genossen mit neuer Geschlossenheit aus dem Tief?
    Geschlossenheit bei den Sozialdemokraten also gestern in Berlin. Ein paar Fragen sind aber noch offen geblieben. Wir bemühen uns, so viele wie möglich davon zu klären. Am Telefon begrüße ich den SPD-Vorsitzenden. Guten Morgen, Franz Müntefering.

    Franz Müntefering: Guten Morgen. Ich grüße Sie!

    Schulz: Andrea Nahles, Ihre Stellvertreterin, hat gestern gesagt, wer jetzt noch daran zweifelt, dass Frank-Walter Steinmeier der richtige Kandidat sei, dem geben Sie Saures. Drohen Sie Ihren Wählern jetzt?

    Müntefering: Nein. Das ist sicher ein Ausspruch in der Euphorie des gestrigen Tages und es ist gestern deutlicher geworden als je zuvor, dass wir mit Frank-Walter Steinmeier einen an der Spitze haben, der Kanzler kann und der auch deutlich macht - von Woche zu Woche mehr -, dass er den Wahlkampf gewinnen will.

    Schulz: Aber Frank-Walter Steinmeier hat gestern auch gesagt, dass er von einem Wahlerfolg Ihrer Partei ausgeht, weil Deutschland eben kein Land kalter Egoisten sei. Jetzt liegt Ihre Partei im Moment ja nur bei 25 Prozent. Heißt das, dass der Rest kalte Egoisten sind?

    Müntefering: Nein. Es ist ja auch noch keine Wahl. Das wird zu bewerben sein und dann wird klarzustellen sein, wer was will. Wir haben unser Programm gestern vorgelegt und da ist deutlich geworden, wo bei uns die Richtung hingeht, was Bildung angeht und was soziale Gesellschaft angeht, was Integration angeht, aber natürlich auch vor allen Dingen was Arbeitsplätze angeht, die Sicherung von Arbeit ganz vorne an. Wir kümmern uns um die Menschen und Frank-Walter Steinmeier ganz vorne an, und das hat er gestern sehr glaubwürdig und überzeugend deutlich gemacht.

    Schulz: Es ist noch keine Wahl, aber wir haben natürlich schon Umfragen und danach stecken Sie in einem Tief. Was haben die Sozialdemokraten denn falsch gemacht?

    Müntefering: Umfragen sind Umfragen. Wir müssen vorne sein mit unserer Nase, wenn die Wahl ist. Das ist der entscheidende Punkt.

    Schulz: Aber das heißt jetzt im Moment, Fehler sind nicht zu konstatieren?

    Müntefering: Wir haben gestern noch mal klargemacht, dass der Inhalt unserer Politik stimmt, dass das Soziale und Demokratische die Antworten sind auf diese Zeit, was die Innenpolitik angeht, aber auch was die internationalen Zusammenhänge angeht. Wir haben ja nicht zufällig gestern deutlich gemacht in zwei großen Kapiteln in unserem Programm, es geht darum, die soziale Marktwirtschaft neu zu starten, ihr wieder Impulse zu geben, deutlich zu machen, dass Marktwirtschaft eine soziale sein muss, und zweitens, dass damit verbunden sein muss die Regelung der Finanzmärkte international, damit die nicht noch mal in der jetzt auszutragenden Weise die Welt in Unruhe setzen können und Arbeitsplätze gefährden.

    Schulz: Aber die Umfragen legen ja zumindest nahe, dass es die Sozialdemokraten nicht schaffen, von der Krise zu profitieren. Wie erklären Sie sich das?

    Müntefering: Das legen die Umfragen überhaupt nicht nahe. Es sind ja bis jetzt Umfragen. Die Entscheidung über das, was innenpolitisch getan wird, fällt im September, am 27.September. Wahlkämpfe haben es an sich, dass sie die Umfragen verändern, das was man bisher gesehen hat, und je überzeugender wir auftreten - und wer das gestern gesehen hat, wer dabei war, wer das gehört hat und wer dann noch immer rummosert, der will es einfach nicht besser lernen. Es gibt keine klarere Ansprache dessen, was zu tun ist, und es gibt keinen in der Republik, der das deutlicher macht im Augenblick wie Frank-Walter Steinmeier. Das ist so!

    Schulz: Frank-Walter Steinmeier steht als einer der Architekten ja auch für die Agenda-Politik der SPD. Er hat gestern ja diese Richtungswahl beschworen zwischen sozialer Gerechtigkeit und dem marktradikalen Prinzip. Aber wie soll er das vermitteln, da die Agenda für viele ja gerade nicht für soziale Gerechtigkeit steht?

    Müntefering: In der Agenda waren zum Beispiel 230.000 Krippenplätze für die unter Dreijährigen, darin war die ökologische Modernisierung unserer Gebäude, also damit verbinden sich ganz viele Dinge, die Arbeitsplätze geschaffen haben und heute noch sichern und die etwas Zentrales tun für die Bildung und für die Lebenschancen der Menschen. Wenn man diese Überschriften, die von manchen als Schimpfworte gebraucht werden, mal runterbuchstabiert auf die tatsächlichen Inhalte, dann wird deutlich: Wir haben in unserer Regierungszeit natürlich nicht alles richtig gemacht, jeder macht auch Fehler, aber wir haben das Land in entscheidender Weise vorangebracht und damit auch die Arbeitslosigkeit reduziert von 5 Millionen Anfang 2005 auf 3,2, und wir werden, wenn diese Krise vorbei ist, auch wieder mit Steinmeier an der Spitze einen Weg gehen, der Arbeitslosigkeit reduziert, und das ist das Wichtigste - nicht das Land in defensive Positionen bringen lassen und mit Sozialtransfers glauben, man kann alles retten, sondern Arbeit schaffen, Arbeit sichern, den anständigen Unternehmern und Unternehmerinnen helfen, dass sie die nötigen Kredite haben, dass sie Menschen beschäftigen können, darum geht es uns.

    Schulz: Arbeit geschaffen haben Sie ja auch mit einer Ausweitung der Regeln für die Leiharbeit in der Agenda-Politik. Verstehen Sie es, dass die Leiharbeiter, die jetzt in der Krise ihre Jobs verlieren, dass vielleicht ein bisschen anders sehen als Sie?

    Müntefering: Na ja, diese Regelung für die Leiharbeit ist von uns zusammen mit den Gewerkschaften entwickelt worden. Leiharbeit war eine verrufene Sache, aber sie ist im Prinzip vernünftig, sie muss allerdings bestimmte Regeln haben und es gibt einige Dinge, die wir ändern wollen. Wenn die CDU da mitginge, hätten wir schon länger ein entscheidendes Problem gelöst, nämlich Mindestlohn in der Leiharbeit. Wir wollen gleichen Lohn für gleiche Arbeit und wir wollen, dass die Betriebsräte stärker als bisher und Personalräte natürlich auch mitreden können, wie viel Leiharbeit es in dem jeweiligen Unternehmen geben kann. Wir wollen, dass die großen nicht outsourcen und sich selbst Leiharbeitsfirmen gründen, und wir wollen eben, dass es einen Mindestlohn bei Leiharbeit gibt, und das ist meine Aufforderung noch mal an die Union, das mit uns noch zu machen. Wir möchten das in dieser Legislaturperiode, das heißt in den nächsten Wochen beschließen. Wieso Leiharbeiter dramatisch sittenwidrig niedrige Löhne in Deutschland bekommen sollen, ist überhaupt nicht einzusehen.

    Schulz: Herr Müntefering, Sie sind ja jetzt im Moment in der Regierungsverantwortung. Frank-Walter Steinmeier hat angekündigt, die SPD wolle für eine neue Zeit kämpfen. Warum ist die nicht schon längst angebrochen nach 11-jähriger Regierungsverantwortung der Sozialdemokraten?

    Müntefering: Wir sind in der Regierungsverantwortung; ich habe Ihnen ja gerade ein Beispiel beschrieben. Wenn man in einer Koalition ist mit einer Gruppe, die gleich groß ist, bei der CDU/CSU, und die machen die Mindestlöhne für Leiharbeit nicht mit, dann kann man sie halt auch nicht beschließen. Deshalb muss das eine Zeit werden, in der diese Friktion, die es da noch gibt, beseitigt ist, und das geht am besten, wenn die Sozialdemokraten an der Spitze sind in Sachen Sozialem und Demokratischem.

    Schulz: Und darum will Frank-Walter Steinmeier, darum will die SPD mit heißem Herzen kämpfen. Woran merkt man das bei dem Kanzlerkandidaten, dass er mit heißem Herzen kämpft?

    Müntefering: Ich weiß nicht, ob Sie gestern dabei waren. Wahrscheinlich nicht, sonst hätten Sie es gemerkt.

    Schulz: Ich habe es im Fernsehen gesehen. Erklären Sie uns das?

    Müntefering: Ja, er hat als Person, als Frank-Walter Steinmeier deutlich gemacht, was ihm am Herzen liegt, und da war ganz vorne an die Arbeit und das sich Kümmern um die Sorgen der Menschen, aber auch wissen, dass wir uns in internationalen Zusammenhängen bewegen müssen und dass man deshalb den Mut haben muss, Europa zu gestalten und auch international dafür zu sorgen, dass nicht Geld die Welt regiert, dass klar ist, nicht Geld und Wirtschaft sind für die Menschen da, sondern umgekehrt. Das ist eine Botschaft, die die Menschen in diesem Lande überwiegend wollen. Die Menschen wollen keinen Marktradikalismus, sie wollen nicht, dass das passiert, was dort die Merzens und die Kirchhofs 2005 und damals Frau Merkel auch und Herr Westerwelle zum Gegenstand ihrer Politik gemacht haben.

    Schulz: Aber reicht das denn aus für einen Kanzlerkandidaten, die Delegierten seiner eigenen Partei zu begeistern?

    Müntefering: Ich war ja noch nicht ganz fertig. Es ist auch wichtig, dass wir mitregieren, und der Großteil der Menschen in Deutschland ist auch überzeugt, dass es gut ist, dass die Sozialdemokraten in der Regierung dabei sind, Steinmeier und Steinbrück, Scholz und Gabriel, Wieczorek-Zeul und wie sie alle heißen, Ulla Schmidt für die Gesundheitspolitik. Da sind die Leute schon überzeugt, dass es gut ist, dass wir dabei sind. Das bestreitet keiner.

    Schulz: Aber Herr Müntefering, das müssen Sie uns erklären. Wie kommen Sie darauf, dass die Leute davon überzeugt sind?

    Müntefering: Ich treffe ja genug Leute. Ich weiß nicht, wahrscheinlich mehr als Sie, sonst wüssten Sie das ja auch, dass die Menschen sagen, es ist wirklich gut - und zwar nicht nur unsere eingefleischten Wähler, sondern auch die in den großen Industrieverbänden sagen, es ist gut, dass die Sozialdemokraten dabei sind, dass Frau Merkel das nicht alleine mit ihrer Truppe machen muss. Wir haben eine Linie, eine sozialdemokratische Linie in die deutsche Politik gebracht, und die möchten wir gerne noch ein bisschen verstetigen und die möchten wir noch präzisieren, und dazu gehört dann, dass man noch stärker als bisher, nämlich übers Kanzleramt diese Politik bestimmen und steuern kann.

    Schulz: Das war im Gespräch mit dem Deutschlandfunk heute Morgen der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering. Danke schön!

    Müntefering: Bitte schön. Tschüß!