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Die Mentalität deutscher Wehrmachtssoldaten

In einem internationalen Forschungsprojekt werden Abhörprotokolle von deutscher Kriegsgefangener aus dem Zweiten Weltkrieg analysiert. Die Zeitdokumente sind für die Forschung ein Glücksfall, denn sie eröffnen direkten Einblick in die Welt des Krieges und in die Mentalität der Deutschen unter der NS-Diktatur.

Von Matthias Hennies | 06.10.2011
    Wer etwas über die Mentalität deutscher Soldaten des Zweiten Weltkriegs erfahren wollte, wer wissen wollte, wie diese Männer Gewalt, Angst und Verbrechen erlebten, hat bisher vor allem Feldpostbriefe und autobiographische Texte analysiert. Doch wie viel leisten diese Quellen? Die Feldpost wurde zensiert, Erinnerungen werden - bewusst und unbewusst - geschönt. Eine neue Quelle erschließt seit einer Weile ein Forscherteam um den Historiker Sönke Neitzel von der Universität Glasgow und den Sozialpsychologen Harald Welzer: Unterhaltungen deutscher Kriegsgefangener, die nicht wussten, dass sie von britischen und US-amerikanischen Geheimdiensten abgehört wurden. Die Protokolle dieser Gespräche eröffnen nahezu einzigartige Einblicke aus erster Hand, berichtet Welzer, Professor am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen:

    "Wenn Kriegsgefangene in der Zelle zusammensitzen, dann reden sie über ganz viele Dinge und sie reden besonders viel über Technik und über Frauen. Und Letzteres kommt in Feldpostbriefen so gut wie nie vor, weil man selbstverständlich den Lieben daheim oder der Mutter nicht schreibt, dass man gerade Zwangsarbeiterinnen vergewaltigt hat. "

    Gewalt gegen Frauen empfanden viele Soldaten im Krieg als normal, das machen die Abhörprotokolle deutlich. Aus dem umfangreichen Material - nicht weniger als 150.000 Seiten – wird aber auch klar, dass nicht alle Grausamkeiten gegen Zivilisten als selbstverständlich galten.

    "Wenn ein Verbrechen als Partisanenbekämpfung definiert ist, dann ist es für sie kein Verbrechen, sondern ist es für sie eine Notwendigkeit oder Selbstverständlichkeit und sie haben keinerlei Probleme oder Scheu, darüber zu berichten, wie sie die von heute aus betrachtet unglaublichsten Grausamkeiten an der Zivilbevölkerung begangen haben. Wenn es hingegen um die sogenannten Judenaktionen, also die Erschießungen von jüdischen Opfern geht, Männern, Frauen und Kindern, dann ist es bemerkenswert, dass die meisten Soldaten sich dazu eher äußerst distanziert und mit Abscheu äußern. Der Grund dafür: Sie finden dieses Vorgehen gegen die jüdische Bevölkerung unmilitärisch."

    Dass die Ermordung der Juden Teil der nationalsozialistischen Ideologie war, für die sie gekämpft hatten, nahmen die Soldaten nicht wahr. Sie waren keine Weltanschauungskrieger, folgert Harald Welzer: Anders als die Nazi-Propaganda behauptete, die das ganze Volke ideologisieren wollte - und anders als viele Forscher bisher angenommen haben. Die überzeugten Nazis machten nur 5-10% der rund 30.000 belauschten Kriegsgefangenen aus.

    "Dann gibt es eine sehr breite Masse von Soldaten, die als unpolitisch einzuschätzen sind, was an solchen fast witzigen Stellen deutlich wird, wo ein Soldat vom Verhör in den Raum zurückkommt, wo sein Kamerad sitzt und er ganz peinlich berührt ist, weil ihn der Abhöroffizier gefragt hat, er soll das Hitler-System erklären und er sagt, wie soll ich denn das erklären, ich habe mich doch niemals für solche Dinge interessiert. Diese Form des unpolitischen Handwerkers des Krieges ist die Mehrheit und dann gibt es auch unter den Soldaten deutliche Anti-Nazis, die sich politisch deutlich als Systemgegner äußern, wenn es aber ums Kriegshandwerk geht, unterscheiden die sich in keiner Weise von Menschen mit anderer politischer Auffassung."

    Das Militärische war der alles dominierende Bezugsrahmen: aus welchem Beruf einer kam, ob er Kaufmann, Maurer oder Lehrer war, trat in den Hintergrund. Ob er aus einer katholischen Familie stammte oder aus einem sozialistischen Milieu – die totale Vereinnahmung durch das Militär machte es nebensächlich. Die extrem reduzierte Erfahrungswelt einer vereinheitlichten, hierarchisierten Männergruppe, ohne andere Außenkontakte, bestimmte die Wahrnehmung. Diese Gruppe hatte eine existenzielle Qualität: Dass sie funktionierte, konnte über Leben und Tod entscheiden.

    Darum verlieren andere Normen ihre Bedeutung, Grausamkeiten werden selbstverständlich, erklärt Welzer, der das Handeln von Soldaten verschiedener Nationen verglichen hat.

    "Man stellt in jedem Fall fest, dass Gewalthandeln eine Dynamik entfaltet und eine Eskalation entfaltet, in der die Betroffenen Dinge tun, von denen sie nie geglaubt hätten, dass sie das tun könnten. Und wenn man sich über Grausamkeit im Krieg aufregt, begeht man im Grunde einen Denkfehler: Krieg entgrenzt Gewalt und entgrenzt die Handlungsbedingungen, die Menschen normalerweise für gegeben halten, die werden regelmäßig überschritten und das heißt, wenn wir in den Medien skandalisieren, dass dinge, die wir für Kriegsverbrechen halten wie Abu Ghraib oder die Erschießung von Zivilisten in Bagdad, stattfinden, dann unterliegt man demselben Denkfehler: So was gehört zum Krieg dazu, ist nicht die Ausnahme."

    Dass die deutsche Kriegsführung jedoch außergewöhnlich grausam war, dass es gerade in Osteuropa zu unzähligen Greueln kam, hing mit dem Charakter des Vernichtungskriegs zusammen. Angetrieben vor allem von SS-Verbänden, die die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung organisierten, eskalierten Gewalttaten der Wehrmacht weit über das Maß hinaus, das bei anderen Armeen vorkam.

    Die Wehrmacht unterschied sich auch durch ihre Verbissenheit im Kampf. Die Kriegsgefangenen äußerten sich denn auch sehr stolz über ihre Armee, sahen sie als besonders tapfer an - möglicherweise eine Folge der durchgreifenden Militarisierung der deutschen Gesellschaft seit der wilhelminischen Epoche, von der auch linke Parteien nicht ausgenommen waren, da sie eigene paramilitärische Einheiten aufstellten.

    Die Mehrheit italienischer Soldaten kannte diese starke Identifikation mit Armee, Staat und Vaterland nicht. Ihre Einstellung konnten die Wissenschaftler ebenfalls analysieren, weil auch eine Anzahl italienischer Kriegsgefangener abgehört wurde.

    "Für ein Vaterland zu kämpfen, dessen Regierung aber als illegitim, dekadent und korrupt angesehen wurde, damit können sich die Soldaten überhaupt nicht identifizieren und deshalb setzen sie auch weniger ein – was in den Augen der anderen dann als Feigheit oder schlechte Ausbildung erscheint. "

    Feigheit und Angst waren für die deutschen Soldaten inakzeptabel, auch als sie längst nicht mehr im Kampf standen. Über Gefühle, über Angst, Zweifel oder Reue, wurde in den Zellen der Deutschen nicht gesprochen. Diese Seite ihres Erlebens ist in den Abhörprotokollen nicht dokumentiert, denn die Regeln der Männergesellschaft schlossen solche Äußerungen aus.

    "Wir haben systematisch danach gesucht, was jetzt Beschreibungen eigener Angst sind oder eigener Gefühle, das findet man wirklich nur in Spurenelementen und meistens im Rahmen von Stellvertretererzählungen – also dass jemand völlig runtergekommen ist nervlich, weil er dieses oder jenes gesehen hat. Die Soldaten erzählen das aber nicht über sich selbst. "

    Literatur:
    Harald Welzer, Sönke Neitzel und Christian Gudehus (Hg.): "Der Führer war wieder viel zu human, viel zu gefühlvoll". Der Zweite Weltkrieg aus der Sicht deutscher und italienischer Soldaten. Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main 2011. 12,99 Euro.

    Sönke Neitzel, Harald Welzer (Hg.): Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben. S. Fischer Verlag Frankfurt am Main 2011. 22,95 Euro.