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Die Mordnacht von Rechnitz

Im März 1945 ermordeten im österreichischen Rechnitz Funktionäre der NSDAP und der SS fast 200 halbverhungerte Zwangsarbeiter aus Ungarn. Die Täter waren Gäste eines Festes, ausgerichtet von Gräfin Margit Batthyány, einer Tochter des Großindustriellen Heinrich Thyssen-Bornemisza. Die Tat selber ist gut dokumentiert.

Moderation: Jasper Barenberg | 05.11.2007
    Die Frage ist, ob Margit Batthyány dabei anwesend war oder nicht. Und: Wie weit war die Familie Thyssen verstrickt - in dieses Verbrechen und in das NS-Regime im allgemeinen? Dazu hat David Litchfield im vergangenen Jahr ein Buch veröffentlicht. Titel: "The Thyssen Art Macabre". Tobias Armbrüster hat es gelesen und in London mit dem Autor gesprochen.
    Die Mordnacht von Rechnitz ist nur ein Kapitel in dieser 500-Seiten-Studie der Familie Thyssen. Aber so, wie David Litchfield die Geschichte dieser Dynastie schildert, erscheint der grausame Höhepunkt einer Dinner-Party am Ende des Zweiten Weltkriegs wenig überraschend. Hass, Habgier und Skrupellosigkeit - das sind die Leitmotive in diesem Familienportrait, das vier Generationen ablichtet. Litchfield lässt die Geschichte mit dem Firmengründer August Thyssen beginnen. Der entwickelt im wilhelminischen Deutschland ein Gespür dafür, wie sich das lasche deutsche Arbeitsrecht und der unstillbare Hunger nach Stahlprodukten ausnutzen lassen, um an der Ruhr ein bis dahin beispielloses Firmenimperium aufzubauen. 1889, sechzehn Jahre nach Gründung der ersten Thyssen-Firma, ist Thyssen und Co. das größte Bergwerk-Unternehmen Deutschlands.

    "Inzwischen beschäftigte der Konzern 2305 Menschen, darunter war eine beachtliche Zahl von Kindern. Die Arbeiter waren der ständigen Einwirkung von Rauch und Kohlenstaub ausgesetzt. Und sie blieben Gefangene der Thyssen-Welt. Denn die Firma verwaltete sämtliche Bedürfnisse auf dem Werksgelände. Dort waren die Thyssen-eigenen Badehäusern, Kantinen und Wohnbereiche - für viel mehr hatten die Arbeiter keine Zeit."
    In dieser Welt der ungebremsten Industrialisierung kennt auch die Vermögensbildung keine Grenzen. David Litchfield beschreibt in kurzen Episoden, wie der Reichtum des Firmenimperiums die Kinder von August Thyssen formt und antreibt. Da ist vor allem Heinrich Thyssen, dem die Herkunft aus dem Industriellenhaus nie ganz genügt. 1906 erfüllt er sich einen Wunsch und wird adelig, indem er Margit Bornemisza heiratet. Die Thyssen-Bornemiszas werden nach dem Tod des Firmenpatriarchen August zur bestimmenden Kraft im Unternehmen, sie steigen außerdem ins Geschäft mit der Kunst ein - und sie nutzen zwei Weltkriege als willkommene Gelegenheit, um den eigenen Reichtum zu vergrößern. Der Autor David Litchfield:

    "Die Thyssens haben für beide Kriege Stahl, Kohle und Rüstungsgüter geliefert. Das ist nicht überraschend, wenn man bedenkt, dass es sich um ein wichtiges Industrieunternehmen gehandelt hat. Das überraschende ist, dass Heinrich Thyssen nach dem Krieg immer behauptet hat, die Familie habe mit der Waffenproduktion nichts zu tun gehabt. Das ist natürlich falsch. Meine Nachforschungen haben ergeben, dass die Thyssens außerdem viel Geld mit Bank- und Finanzgeschäften im Dritten Reich verdient haben."
    Trotz guter Geschäfte im Hitler-Deutschland kehrt Heinrich Thyssen seiner Heimat Anfang der Dreißiger Jahre den Rücken und lässt sich in der Schweiz nieder. Laut David Litchfield sind dafür allerdings die deutschen Steuer-Gesetze verantwortlich, nicht die nationalsozialistische Regierung. Außerdem unterhält er ein Schloss in Rechnitz im österreichischen Burgenland. Und dort zeigt sich dann, dass die Thyssens die Nazis nicht nur geschäftlich unterstützen. Ursprünglich war das Schloss Teil der Wandlung Heinrich Thyssens vom Industriellen zum Adligen.


    "Für seinen neuen Status als Aristokrat brauchte Heinrich einen standesgemäßen Landsitz. Und seine Wahl fiel auf Rechnitz. Seine Familie hat dort viel Zeit verbracht. Er hat es schließlich seiner Tochter Margit überlassen. Zu Anfang des Zweiten Weltkriegs ist die SS in das Schloss eingezogen. Und Margit hat die ganze Zeit mit der SS im Schloss gewohnt."
    Margit Battiany, geborene Thyssen, fühlt sich in Gesellschaft der SS sehr wohl, schreibt David Litchfield. Sie findet unter den Männern sogar zwei Liebhaber. Im März 1945 kommt es dann zu jener Schloss-Party, bei der 200 jüdische Zwangsarbeiter ermordet werden. Veranstaltet wird das Fest von Margit - es herrscht eine Art Endzeitstimmung, denn der Einmarsch russischer Truppen steht kurz bevor. Vierzig Gäste sind da, vor allem lokale Nazi-Prominenz.

    "Um den Gästen zusätzliche Unterhaltung zu bieten, wurden gegen Mitternacht etwa 200 halbverhungerte Juden aufs Schloss gebracht. Ein Lastwagen lieferte sie am Kreuzstadel ab, in Fußweite zum Schloss. Der Ortsgruppenleiter hat dann 15 Gäste in einen Raum gebeten, dort wurden Gewehre ausgeteilt. Dann hieß es: Lasst uns gehen und ein paar Juden töten. Die Juden mussten sich nackt ausziehen, bevor sie von betrunkenen Party-Gästen erschossen wurden. Die Gäste gingen anschließend zum Schloss zurück, um weiter zu trinken und weiter zu tanzen."

    "Ich habe nie gesagt, dass es sich um eine exklusive Neuigkeit handelt. Das einzige, was bisher niemand beachtet hat, ist die Verstrickung der Thyssens in diese Grausamkeit. Wir wissen, dass die Thyssen-Tochter Margit Batthyany Eigentümerin des Schlosses war. Wir wissen, dass sie das Fest veranstaltet und dass sie mitgefeiert hat. Außerdem hat sie zwei der Hauptverdächtigen anschließend bei der Flucht geholfen. Auch wenn sie nicht mit geschossen hat, hat sie sich als Mitwisserin schuldig gemacht."
    Nach dem Krieg haben die Thyssens versucht sich als Kunstmäzene rein zu waschen, schreibt David Litchfield. Schon August Thyssen hatte zur Jahrhundertwende eine Sammlung begonnen, mit Skulpturen von August Rodin. Sein Sohn hat dieses Hobby in den 20er Jahren mit Werken des Expressionismus fortgesetzt, und für den Enkel Heini Thyssen wurde die Kunst zum Lebensinhalt. David Litchfield, der für dieses Buch mit zahlreichen Mitgliedern der Thyssen-Familie gesprochen hat, erkennt in diesem Hang zum Kunstbetrieb ein Familienmuster:

    "Ich war immer überrascht, dass ich in keinem einzigen Privathaus der Thyssens jemals eine Erinnerung an die industrielle Geschichte dieser Familie gesehen habe. August Thyssen, der Unternehmensgründer, hatte noch das Modell eines Förderturms im Schlafzimmer. Aber so etwas habe ich bei keinem anderen Thyssen gesehen. Diese Familie lässt sich sozusagen niemals daran erinnern, woher ihr Geld ursprünglich kommt."
    David Litchfield ist kein Historiker, und diese Thyssen-Biografie ist nicht als Lehrbuch angelegt, dennoch erscheint es gründlich recherchiert, auf jedes Kapitel folgen ausführliche Quellenangaben. Es wurde in allen großen britischen Zeitungen besprochen, die Times bescheinigt ihm, dass er zahlreiche unangenehme Wahrheiten aus der Geschichte der Thyssens ans Tageslicht bringt. Ursprünglich war das Buch für den deutschen Markt geplant. Zunächst hat Litchfield allerdings keinen Verleger in Deutschland gefunden. Das ist allerdings nicht allzu überraschend. Denn diese deutsche Familiengeschichte spricht zahlreiche Stereotypen an, die sich vor allem in britischen Buchhandlungen nach wie vor gut verkaufen. Es geht um deutsche Industrielle, das Kaiserreich, Nazi-Deutschland und Verwicklungen mit der SS. Wer über die deutsche Industrie im 19. und 20. Jahrhundert schreibt, der kommt daran allerdings nicht vorbei. An einigen Stellen des Buch kommt Litchfields Ironie durch, vor allem wenn er die Doppelmoral dieser Unternehmerfamilie beschreibt - allerdings wird er nie hämisch, und er verzichtet auf den triumphierenden Ton, der in britischen Deutschland-Beschreibungen oft durchschlägt. Litchfields Buch liefert eine gründliche, unterhaltsam geschriebene Familiengeschichte, die Anlass bietet zu weiteren Forschungen. Deshalb ist es sicher ein Gewinn, wenn "The Thyssen Art Macabre" doch noch auf deutsch erscheint. Nach den Debatten der vergangenen Tage hat David Litchfield mehrere Anfragen von Verlagen, die das Buch nun doch auf deutsch herausbringen möchten.

    Tobias Armbrüster über "The Thyssen Art Macabre". Das Buch ist bei Quartet Books in London erschienen und kostet etwa Euro 32,00. Im nächsten Frühjahr soll es auch in einer deutschen Übersetzung erscheinen.