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Die Nägel

Ich lernte Bachatow bereits im Säuglingsheim kennen. Wobei wir übrigens gar nicht begriffen, dass diese Bekanntschaft stattfand - wir waren beide erst wenige Monate alt. Als ich Bachatow zum ersten Mal bewusst wahrnahm, geschah das in der Rehabilitationsabteilung des Krankenhauses, im Schlafsaal für geistig zurückgebliebene Kinder. Bachatow weckte von frühester Kindheit an deprimierende Vorstellungen vom Zustand seines Intellekts, was an der verbeulten Schädelform und seinem endlosen Gesabber lag. Bachatow hieß er deshalb, weil die Windeln, in denen man ihn fand, neben seinen Ausscheidungen noch den Stempelaufdruck »B.Ch.T.« enthielten. Meine Windeln, sollte ich denn welche besessen haben, offenbarten nichts außer mir und meinem Buckel.

Elena Beier | 04.04.2003
    Bereits im ersten Absatz des Romans wird eine der vielen falschen Spuren gelegt: Hinter der Abkürzung »B.Ch.T.« sucht man vergebens einen Sinn. Der Name des Ich-Erzählers dagegen spricht für sich: Seinen "königlichen" Nachnamen erhielt das Findelkind Alexander Gloster vom belesenen Heimdirektor als Anspielung auf seine Behinderung. Gloster und Bachatow, zwei Kinder, die aus einem Aberglaube heraus vom Heimpersonal für geistige Zwillinge gehalten werden, wachsen in der irrealen Welt der Anstalt für geistig Behinderte auf und werden dann in die surreale Welt des postsowjetischen Russlands entlassen. Sie versuchen nach Kräften zurecht zu kommen und scheitern beide. Jeder auf seine Weise. Doch das wäre eine zu oberflächliche Zusammenfassung dieses Romans, dessen Autor von den russischen Literaturkritiken als der neue Gogol gefeiert wurde. Denn genau wie viele Werke Gogols nimmt die Geschichte eine mystische Wendung. Doch Michail Jelisarow bestreitet vehement jede Verbindung zu seinem literarischen Idol:

    An Gogol habe ich dabei gar nicht gedacht, obwohl ich Gogol sehr mag. Mein Text hat auch ein ganz anderes Tempo und den Rhythmus als bei Gogol.

    Das stimmt tatsächlich: Diesen Roman liest man in einem Zug, nicht nur weil er relativ kurz ist. Es ist vor allem seine Dynamik, die den Leser mitreißt. Besonders im russischen Original ist es ein stilistisch bis zur Präzision geschliffener Text, der keine langen Sätze duldet, und doch sich durchaus an die alten metaphorische Traditionen der russischen Literatur aus Gogols Zeiten anknüpft. Es ist auch die kunstvolle Wortwahl die ein Kaleidoskop von bizarren und doch so realistisch aufflackernden Bildern schafft. Doch trotz der hervorragenden Übersetzung von Hannelore Umbreit geht leider einiges davon verloren. Der Verlag entschied sich statt Anmerkungen, welche die Dimension des Assoziativen durch eine zusätzliche dem westeuropäischen Leser oft verborgene Information erschließen könnten, zusätzliche Umschreibungen direkt in den Text des Romas einzubauen. Das hätte eine stilistische Veränderung bewirkt, meint Michail Jelisarow:

    Das größte Problem bei der Übersetzung ist natürlich die Metapher und das Wortspiel. Doch es gibt eine weitere Schwierigkeit: Es sind die Elemente der russischen und sowjetischen Kultur und Ästhetik, die dem deutschen Leser kaum geläufig sind. Da muss vieles erklärt werden. So gibt es ganz am Anfang des Romans eine Passage, ich zitiere: »Und jetzt der Bucklige! Der Bucklige, sagte ich!«. Im russischen Kulturkreis löst es eine immense assoziative Kettenreaktion aus. Es ist ein Zitat aus einem Kultfilm, und man hört sofort eine Kultstimme, die das im Film sagt, die vom Wladimir Wyssotzki. Hier kennt ihn ja kaum jemand. Reclam-Verlag wollte, dass solche Fälle direkt im Text angedeutet werden. Also heißt es jetzt: Zur Untersuchung beim Arzt, zum Essen, zum Spaziergang riefen sie mich, wenn ich trödelte, mit verstellter, heiserer Stimme, die wie jene des Sängers und Schauspielers Wladimir Wyssotzki klingen sollte: »Und jetzt der Bucklige! Der Bucklige, sagte ich!«. Dieser Zusatz "Wyssozki, Sänger und Schauspieler" klingt für mich etwas lächerlich, wie eine Grabrede:

    Ehemann, Vater, Bruder, Freund", wie eine Grabinschrift, damit wirklich alle wissen, wer es war. Aber vielleicht ist es besser so: Der Text wirkt dadurch naiver.

    Trotzdem macht dieser Text auch in der deutschen Fassung seinen Leser zum aufmerksamen Detektiv, der hinter dem Bericht des Ich-Erzählers wie durch eine Kristallkugel verzerrte Umrisse der Wirklichkeit wahrnimmt. Die Erfahrung als Regisseur und Kameramann helfen dem Diplomphilologen Michail Jelisarow, die Wirklichkeit mit den literarischen Blenden kunstvoll zu verzaubern. Doch märchenhaft bleibt dabei nur die Geschichte selbst, die wie jedes Märchen eine Moral enthält und zumindest die Möglichkeit eines Happy-Ends zuläßt. Die mystische Achse des Romans bildet der vom Bachatow erfundene Kult um einen höllischen Brunnen, einen Monsterhund und Bachatows Fingernägel, die er monatlich abbeißt und in einem Ritual opfert. Damit versucht er die Welt, in der er und Gloster leben, beeinflußbar zu machen. Doch genau dieser Kult bringt Unglück, wie alles Okkulte in der Auffassung der russischen orthodoxen Glaubenstradition. Die Geschichte endet tragisch: Der Bachatow stirbt und iein geistiger Zwilling Gloster ist somit als sein geistiger Zwilling ebenfalls dem Tode geweiht.

    In der Natur zeigten sich die ersten Anzeichen von Morgengrauen. Die ausgeblichene Schwärze des Himmels wich dunkelblauen Tönen. Ich ging zum Auto - ohne Hoffnung und ohne Angst. Ich wusste, der Tod ist nur aufgeschoben bis zu jenem Augenblick, in dem Bachatows Leichengift wie bei zwei verbundenen Gefäßen, in meinen Körper hinüber fließt und das Herz zum Stillstand bringt.

    Doch hinter diesem Ende öffnen sich weitere Horizonte. Denn die Annahme, das beide "geistigen Zwillinge" zeitgleich sterben müssenibasiert nur auf dem alten Aberglauben aus dem Weisenheim. Das Ende sei völlig offen, betont der Autor:

    Vielleicht stirbt Gloster auch nicht. Es ist hier alles sehr relativ. Ich wollte keine Ursache-Wirkung-Geschichte erzählen. Es kann ja sein, dass diese mystische Komponente auch nur der krankhaften Phantasie des Ich-Erzählers entspringt, der sich das alles, auch sein ungewöhnliches Musiktalent und den raschen Erfolg als Konzertpianist nur ausgedacht hat, um sich wichtig zu machen, weil er nun Mal einen Buckel hat und krank ist.

    Nichts ist in diesem Großstadtmärchen mit philosophischem Tiefgang sicher und nicht alles ist auch wirklich wahr, auch wenn im Hintergrund viele Genrebilder aus dem russischen Alltag zu sehen sind. Der Roman "Nägel" vom Michail Jelisarow ist aber auf jeden Fall ein großes Vergnügen für alle, die sich nicht vor einem Irrgarten des Märchenhaften und Exotischen der neuen russischen Literatur fürchten, die trotz ihrer Moderne tief in der alten Tradition verwurzelt ist.