Die Nähe zur Macht

Von Karla Hielscher · 24.05.2005
Für das Roman-Epos "Der Stille Don" erlangte Scholochow 1965 den Literaturnobelpreis. Der bedeutendste Autor seiner Epoche wurde – wegen machtnahen Funktionen als hoher Polit- und Literaturfunktionär - auch von vielen im literarischen Milieu geächtet. Gegenwärtig wird Scholochow in Russland im Zuge neokonservativ-nationalistischer Strömungen wieder enthusiastisch gefeiert.
"So war nun das Wenige, das Grigori in den schlaflosen Nächten ersehnt hatte, in Erfüllung gegangen. Er stand vor dem Tor des Vaterhauses und hielt seinen Sohn auf dem Arm. Das war alles, was ihm im Leben geblieben war, was ihn einstweilen noch mit dieser Erde und mit dieser ganzen weiten, unter einer kalten Sonne gleißenden Welt verband."

Michail Scholochow liest die letzten Sätze aus dem "Stillen Don", jenem gewaltigen vierbändigen Romanepos über das historische Schicksal der Kosaken in Weltkrieg, Revolution und Bürgerkrieg. Sein sympathischer Hauptheld, der junge Kosak Grigorij Melechow, der die ganze Härte und Grausamkeit dieser Umbruchsepoche durchlebte, auf Seiten der Roten wie der Weißen kämpfte, endet als ein Gescheiterter.

"Der stille Don", dieses erschütternde, in Russland wie im Westen viel gelesene Buch, das den Weltruhm seines Autors begründete und ihm 1965 den Literaturnobelpreis einbrachte, ist ein Werk voller Rätsel, Brüche und Widersprüche. Während die einen das Buch mit der Fülle seiner Figuren, seiner kraftvoll farbigen Sprache und den wunderbaren Naturbildern als wahrhaftige, psychologisch tiefe epische Gestaltung des unerbittlichen aber gerechten Klassenkampfes und schließlichen Sieges der Sowjetmacht interpretieren, lesen es andere als Roman über den Aufstand der freiheitsliebenden Kosaken gegen das bolschewistische Joch und den tragischen Untergang des Kosakentums.

Genauso zwiespältig wird auch die Persönlichkeit seines Autors bewertet. Michail Alexandrowitsch Scholochow wurde am 24. Mai 1905 in Krushilin am Don geboren. Nach einer kärglichen Schulbildung in den chaotischen nachrevolutionären Jahren in Moskau begann er 1923 zu schreiben. Mit seinen "Geschichten vom Don" über die Bürgerkriegszeit avancierte er schnell zum anerkannten proletarischen Schriftsteller. 1925 ging er zurück in seine Heimat und ließ sich für sein weiteres Leben in der Kosakenstanitza Vjoschenskaja nieder.

An den vier Bänden des "Stillen Don", gegen dessen Publikation es mehrfach Widerstand gab, arbeitete er von 1925 bis 1940. Dazwischen entstand der Roman "Neuland unterm Pflug", mit dem Scholochow den brutalen Prozess der Kollektivierung der Landwirtschaft aus dogmatischer Parteiperspektive, jedoch ohne Schönfärberei gestaltete. Noch 1969 verherrlichte er auf einem Kongress der Kolchosarbeiter die Kollektivierung.

"Welch gewaltigen Willen und welche Kraft musste unsere Partei aufbringen, um gleichzeitig mit der Industrialisierung des Landes das Kolchossystem zu verwirklichen."

Seit den 30er Jahren entwickelte sich Scholochow zunehmend zur gefeierten, mit Preisen überhäuften Galionsfigur der Sowjetliteratur. Er war persönlicher Gesprächspartner Stalins, Chruschtschows und Breschnews, einflussreicher Funktionär des Schriftstellerverbandes, Deputierter des Obersten Sowjet, Mitglied des ZK und profilierte sich im Kampf gegen Dissidenten.

Diese Nähe des talentierten Schriftstellers zur Macht war es wohl, die zu seinem künstlerischen Abstieg führte. In keinem seiner späteren Werke erreichte er mehr die Gestaltungskraft des "Stillen Don" und verstummte schließlich als Schriftsteller ganz. Übrigens sind bis heute die sogleich bei Erscheinen des Romans auftauchenden Gerüchte nicht verstummt, dass Teile dieses Werks nicht von ihm stammen können. In zahlreichen Reden trat Scholochow als serviler Diener seiner Partei auf.

"Von uns, den Sowjetschriftstellern, sagen die boshaften Feinde im Ausland, wir schrieben nach Weisungen der Partei. Die Sache sieht ein wenig anders aus: Jeder von uns schreibt nach Weisung seines Herzens, doch unsere Herzen gehören der Partei und unserem Volk, denen wir mit unserer Kunst dienen."

Michail Scholochow starb 1984, ein Jahr vor Beginn der Perestrojka. Bedeutender Klassiker der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts oder ideologisch verblendeter Literaturfunktionär? Die Debatte darüber geht weiter.