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Die Narbe im Erbgut

Biologie. - Früher hielten Genetiker das Erbgut für den Bauplan eines Lebewesens, in dem Buchstabe für Buchstabe unumstößlich feststehe. Doch das Genom unterliegt stark Einflüssen aus der Umwelt, wie Neuroforscher heute konstatieren.

Von Arndt Reuning | 18.11.2008
    Erfahrungen, die ein Mensch in seiner frühesten Kindheit macht, können sich deutlich auf seine Gehirnentwicklung auswirken. Vernachlässigung oder sogar Misshandlung hinterlassen Narben auf seiner Persönlichkeit, sagt Tania Roth von der University of Alabama in Birmingham.

    "Die Kinder wachsen heran und haben mit schweren Lern- und Gedächtnismängeln zu tun. Sie haben Probleme, mit anderen Menschen umzugehen, mit ihrem sozialen Kontakten. Und sie sind anfälliger für psychische Störungen."

    Die Forscherin ist auf der Suche nach lange anhaltenden Spuren, die als Folge eines frühkindlichen Traumas dem Erbgut aufgeprägt werden, nach den Narben auf der DNS. Besonders interessiert sie sich für das Gen, welches den Bauplan für eine Eiweißverbindung mit der Abkürzung BDNF trägt. BDNF ist ein Signalstoff, der eine wichtige Rolle für die Gehirnentwicklung spielt. Ein Mangel an dieser Eiweißverbindung hat wahrscheinlich auch einen Einfluss auf die Entstehung von psychischen Störungen. Tania Roth ist von der Annahme ausgegangen, dass eine traumatische Erfahrung in der Kindheit das BDNF-Gen dauerhaft blockiert. Überprüft hat sie das an Ratten. Dazu hat sie frisch gebackene Rattenmütter künstlich unter Stress gesetzt.

    "Wenn man eine Rattenmutter unter Stress setzt, wenn man sie in eine ungewohnte Umgebung bringt, und wenn man ihr die Möglichkeiten nimmt, sich angemessen um ihren Nachwuchs zu kümmern, dann ähnelt das – denke ich – einer realen Situation: Die gestresste Betreuerin ist ungeduldig, wenn es um ihre Bereitschaft zur Kinderpflege geht."

    Die erwachsenen Ratten haben ihren Nachwuchs öfters einfach links liegen gelassen, sind auf den Jungtieren herumgetrampelt oder haben sie fallen gelassen. Die Forscherin aus Alabama hat sich nach der ersten Lebenswoche der Jungratten dann eine ganz spezielle Region im Gehirn angesehen: die Amygdala, den so genannten Mandelkern. Selbst nach drei Monaten konnte Tania Roth dort noch Hinweise auf die Vernachlässigung finden.

    "Nachdem sie in ihren ersten sieben Lebenstagen solch eine Misshandlung erfahren haben, können wir erkennen, dass sich das langfristig in der Genaktivität niederschlägt. Es kommt zu Veränderungen an der DNS, wodurch bestimmte Erbanlagen entweder ein- oder ausgeschaltet werden."

    Besonders das BNDF-Gen war betroffen. Die Abfolge der einzelnen genetischen Buchstaben ist dabei erhalten geblieben. Aber die entsprechende Gensequenz ist mit zusätzlichen chemischen Markierungen versehen worden, so dass die Information nicht mehr abgelesen werden kann. Oft kommt es vor, dass diese erworbene Veränderung der DNS auch an die nächste Generation, also an die Kinder der Kinder weitergegeben wird. So auch in diesem Fall.

    "Wenn die jungen Ratten, die misshandelt worden sind, groß werden, dann gehen sie mit ihrem eigenen Nachwuchs ganz genau so um, wie sie das kennen gelernt haben. Es scheint auch so, als würden sie die chemischen Veränderungen an der DNS weitergeben. Die Modifikationen aus der ersten Generation sehen wir auch in der nachfolgenden."

    Auch wenn die Ergebnisse bei den Ratten eindeutig zu sein scheinen: Einfach so auf Menschen übertragen lassen sie sich wohl nicht. Aber zumindest könnten sie einen Hinweis darauf liefern, wie man die chemischen Veränderungen an der DNS wieder rückgängig machen kann. Die Narben aus der frühen Kindheit wären damit schlagartig verschwunden. Zumindest die im Erbgut.