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Die Natur als Gott in allen Dingen

Der Philosoph Jürgen Goldstein gibt in seinem fesselnden Buch einen Überblick über die Erfahrungsgeschichte der Natur. Er stützt sich darin ganz auf Bordbücher, Briefe und Notizhefte vieler berühmter Reisender und Entdecker wie Magellan, Goethe oder Darwin.

Von Tobias Lehmkuhl | 01.07.2013
    Was uns heute gänzlich normal erscheint, denkbar unspektakulär, grenzte vor bald 700 Jahren ans Ungeheuerliche: 1336 bestieg der Dichter Francesco Petrarca den Mont Ventoux, und zwar einzig der Aussicht wegen. Eine solche Neugierde galt vielen seiner Zeitgenossen als geradezu blasphemisch. Wenn jemand derart auf die Welt niederschauen durfte, dann war das Gott allein. Der Blick wie das Streben des Menschen dagegen hatte sich gen Himmel zu richten. Einen Berg zu ersteigen, nur weil er da war und weil man von ihm aus weit übers Land und bis zum Mittelmeer schauen konnte, war bis dahin niemandem eingefallen.

    Petrarcas viel kommentierter Bericht steht am Anfang der Erfahrungsgeschichte der Natur, die Jürgen Goldstein nun vorgelegt hat. Hier äußert sich erstmals ein Entdeckerdrang, der in den folgenden Jahrhunderten zu immer wagemutigeren Unternehmungen führt. Goldstein faszinieren dabei vor allem die Extremleistungen: Magellans Weltumsegelung, Edward Whympers Besteigung des Matterhorns oder Fridtjof Nansens Arktisexpedition. Auch die Reisen Georg Forsters und Charles Darwins gehören in diese Reihe. Ihr Beispiel zeigt besonders deutlich, welche Folgen die unmittelbare Anschauung der Natur, die Konfrontation mit dem Unbekannten zeitigen kann: Forsters Begegnung mit der vermeintlich egalitären Gesellschaftsstruktur Tahitis ließ ihn später, als Mitbegründer der Mainzer Republik, zu einem der bedeutendsten Praktiker der Französischen Revolution in Deutschland werden. Bei Darwin verband sich der Anblick wilder Patagonier wiederum bald darauf mit der Idee, dass alle Menschen und alle Säugetiere von einer Art Ursäugetier abstammen könnten und also nicht mit einem Mal und unveränderlich seit Erschaffung der Welt auf dieser existierten.

    Je intensiver der Mensch die Natur betrachtete, so könnte man meinen, desto weiter entfernte er sich von Gott und einem Glauben an himmlische Mächte. "Man gibt da gerne jede Prätension ans Unendliche auf", schrieb Goethe während einer Reise in die Schweiz, "da man nicht einmal mit dem Endlichen im Anschauen und Gedanken fertig werden kann."

    Das Gefühl fürs Überirdische, diese Prätension ins Unendliche, fand manch anderer dann aber gerade in eben dieser Natur: ein Gott in allen Dingen. Nietzsche schließlich machte aus dem Menschen selbst einen Gott - die Berge, die dieser bis 1900 bestiegen, die Meere die er durchkreuzt und die Gedanken, die er aufgetürmt hatte, sollten dafür wohl hinreichen. Ein gewisser Überdruss hatte sich eingestellt. War nicht längst alles entdeckt und gesehen? "Ich hasse Reisen und Forschungsreisende", schrieb Claude Levi-Strauss in "Traurige Tropen", seinem Abgesang auf den Expeditionsbericht, auf die Möglichkeit von Expeditionen überhaupt. Immer mehr wendete sich der Blick im 20. Jahrhundert nach innen.

    Als Reinhold Messner zum ersten Mal den Mount Everest bestieg, auch davon berichtet Jürgen Goldstein in seiner fesselnden, sich ganz auf die Bordbücher, Briefe und Notizhefte seiner Helden stützenden "Erfahrungsgeschichte", lag der Gipfel in dichtem Nebel. Keine zwei Jahre später stand Messner erneut auf dem höchsten Punkt der Erde. Wieder war nichts zu sehen. Aber darauf kam es nicht an: Der Bergsteiger hatte sich nicht der Aussicht wegen aufgemacht, für ihn war die Begegnung mit der Natur vor allem eine Konfrontation mit sich selbst: "Ich bin Sisyphus", schreibt er, "und der Stein, den ich den Berg hoch rolle, ist meine eigene Psyche."

    Zeit also, sich den kleinen Dingen zu widmen, den Bienen und Wespen etwa, die Jean-Henri Fabre auf dem Mont Ventoux bestaunt, genau dort, wo Petrarca einst das ferne Blau des Mittelmeers erblickte. Peter Handke macht in seiner "Lehre der Sainte-Victoire" gar den Vorschlag, "die Berggipfel nicht ganz zu besteigen". Nur weil es keine weißen Flecken mehr auf der Landkarte gibt, heißt das schließlich nicht, dass die Welt nicht mehr schön wäre, keine Überraschungen mehr berge. Man muss den Blick nur neu justieren.

    Jürgen Goldstein: Die Entdeckung der Natur. Etappen einer Erfahrungsgeschichte. Matthes und Seitz, Berlin 2013. 312 Seiten. 38 Euro.