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Die organisierte Hölle

Gaskammer, medizinische Experimente, Epidemien, Zwangsarbeit: 1959 wurde die Gedenkstätte im ehemaligen Konzentrationslager Ravensbrück nördlich von Berlin eröffnet.

Von Bernd Ulrich | 12.09.2009
    Am 12. September 1959 versammelten sich nahezu 50.000 Bürger der DDR in Ravensbrück. Hier, nahe des einstigen Luftkurorts Fürstenberg, hatte die SS in den Jahren 1938/39 das erste Lager für Frauen errichten lassen. Die Schauspielerin Mathilde Danegger sprach an jenem Septembertag den "Schwur von Ravensbrück":
    "Wir werden das Andenken an die vom Hitlerfaschismus hier ermordeten 92.000 Frauen und Kinder stets in unseren Herzen bewahren und ihr Vermächtnis hüten. Wir rufen von dieser geweihten Stätte alle Menschen guten Willens in der Welt: Hört die Mahnung der Opfer von Ravensbrück!"

    Bis Kriegsende 1945 waren über 132.000 Frauen und Kinder, 20.000 Männer und 1000 weibliche Jugendliche in Ravensbrück als Häftlinge registriert worden.

    "Viele starben an Unterernährung, schlechter Behandlung, Mangel an Krankenpflege und Medikamenten, an Kummer und Herzeleid."

    So die Dresdnerin Elisabeth Lynhard - "Schutzhäftling 8119" - in einem Bericht aus dem Jahre 1946. Fleck-Typhus Epidemien waren ebenso an der Tagesordnung wie medizinische Experimente. Zum Jahresende 1944 schließlich erbaute die SS eine behelfsmäßige Gaskammer im Lager, in der bis April 1945 fast 6000 Häftlinge ermordet wurden. Frauen und Jugendliche aus 40 Nationen fanden sich nach Ravensbrück deportiert, "politische" Häftlinge, rassisch Diskriminierte oder als asozial Abgestempelte wie Sinti und Roma. Die als Kommunistin inhaftierte Hildeburg Späth erinnert sich:

    "Ich selbst habe erlebt, als die ersten Zigeunerinnen hier antransportiert wurden, wie man ihnen die Kinder aus den Armen riss. Und ich habe selbst mit eigenen Augen sehen müssen, wie man diese Kinder zertrampelte."

    Der Alltag in Ravensbrück nahm, wie es Elisbeth Lynhard formulierte,

    " ... die Form einer organisierten Hölle an, in der planmäßig getötet und vernichtet, aber auch seitens der Monopole profitiert und ausgebeutet wurde."

    Tatsächlich war das Frauen-KZ Ravensbrück von Anfang an auch als wirtschaftliches Unternehmen geplant worden. Schneidereien und Strickereien sowie weitere Kleinwerkstätten befanden sich innerhalb des Lagers. Direkt daneben errichtete die Firma Siemens eigens Werkhallen, in denen Häftlingsfrauen ab Sommer 1942 zur Zwangsarbeit anzutreten hatten. In 40 reichsweiten Außenlagern von Ravensbrück wurden Häftlinge überdies als Zwangsarbeiter an Industriebetriebe vermietet.
    An all dies erinnerte auch schon die Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück in der DDR – und auch wieder nicht. Der erste Kultusminister Brandenburgs, Hinrich Enderlein, in einem Interview Ende 1993:

    "Auf der einen Seite hat man sich natürlich intensiv drum gekümmert in den vergangenen Jahren. Es ist eigentlich nicht so gewesen, dass man wirklich systematisch vor allen Dingen auch das Umfeld dieser Gedenkstätten in eine entsprechende Situation gebracht hat, wie es angemessen gewesen wäre. Wir haben zum Beispiel in Ravensbrück einen kleinen Teil, der wirklich als Gedenkstätte gepflegt und gehegt worden ist. Direkt daneben auf einem großen Teil, der auch zur Gedenkstätte eigentlich gehört, sitzt nach wie vor die russische Armee."

    Und zwar bis 1977 gar in der einstigen SS-Kommandantur. Erst im Jahre 1994 rückten die Soldaten der Roten Armee ab – und damit endlich auch jene Häftlingsgruppen in den Mittelpunkt, die bis dahin eher vernachlässigt worden waren. Die Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück in der Zeit der DDR hat, so die Historikerin Gudrun Schwarz,

    " ... jahrzehntelang die Frauen ´vergessen`, die nicht zum kleinen, erlesenen Teil der kommunistischen Widerstandskämpferinnen gehörten, hat somit alle anderen in Ravensbrück inhaftierten Frauen unsichtbar gemacht."

    Das mag übertrieben sein. Aber erst jetzt, nach 1989/90, vermochten auch jene Gehör zu finden, deren Leidenszeit in Ravensbrück sich nicht allein unter dem Signum des kommunistischen oder antifaschistischen Widerstands subsumieren ließ. Die heutige, erweiterte Gedenkstätte Ravensbrück versteht sich als "offener Lernort". In ihm hat die wissenschaftliche Forschung ihren Platz, aber auch die in Ausstellungen und Projekten gepflegte Erinnerung und deren Weitergabe an kommende Generationen.