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"Die Personen werden deutlicher, wenn ich an sie denke"

Christoph Meckel ist während des Zweiten Weltkriegs geboren worden. In seinem Buch ruft die Erinnerungen an eine Kindheit in Nachkriegsdeutschland wach, die in Erfurt beginnt und mit einer Flucht über die grüne Grenze im Westen weitergeht.

Von Matthias Kußmann | 09.02.2012
    8. Mai 1945, endlich ist der Krieg zu Ende. Durchatmen, Befreiung, Glück …oder auch nicht. In Christoph Meckels Erinnerung ist der Krieg vorbei, doch was folgt, sind lähmende, bleischwere Tage - ein "Nachkrieg". Der Anfang seines neuen Buches "Russische Zone" lautet:

    Die letzten Tage des Kriegs und die ersten des Nachkriegs glichen einander grau in grau. Für das Wort Frieden war die Zeit zu früh, ich hatte es öfter im Krieg als danach gehört. Viel helle, harte Courage schien nötig, ein Weiterleben für menschenmöglich zu halten. Zukunft, das Wort war mager geworden wie die, die es riefen, es war in ihm kein Jubel und keine Gewissheit, es irrte herum ohne Zuständigkeit, alt geworden, kaputt wie alles und jeder, es war eine Last.

    Christoph Meckel:

    "Als ich anfing zu schreiben, wusste ich nicht halb so viel, wie als ich dann schrieb. Die Bilder stellen sich ein, die Atmosphäre stellt sich ein, die Personen werden deutlicher, wenn ich an sie denke. Und im Lauf der Gestaltung wird das Erinnerte immer deutlicher, immer deutlicher, bis es eine Deutlichkeit hat, die fast nicht mehr zu ertragen ist."

    Meckel hat sich mit diesem Buch im besten Sinn Erinnerungen "von der Seele" geschrieben, die ihn seit Jahrzehnten in Gedanken und Träumen verfolgen - doch erst jetzt, mit 76 Jahren, war die Zeit reif dafür. So hätte "Russische Zone" ein tristes, bedrückendes Buch werden können. Schon im ersten Satz taucht die Farbe "grau" auf, gleich zweimal, und kehrt danach immer wieder. Auch der Bucheinband ist grau. Doch in der Literatur ist es wie in der Malerei: Nicht am Grau, sondern am farbigen Grau erkennt man den Meister. Meckels Sprache bringt die Erinnerung an den dunklen Nachkrieg zum Leuchten: hoch musikalisch, dicht und bildhaft; im Wechsel von lyrischen, lakonischen und geradezu expressionistisch gesteigerten Passagen. Das ist große Literatur.
    Christoph Meckel:

    "Ich "schriftstellere" meine Texte nicht. Ich mache sie. Ich stelle Sprache her und das ist ein ungeheuer schwieriger, konzentrierter Prozess. Es ist eine kolossal starke, verdichtende Arbeit, die zum Teil auch im Schlaf geschieht. Ich wache manchmal auf im Schlaf und weiß plötzlich ein Wort. Mir ist ein Satz klar geworden und ich schreibe ihn auf, ohne dass ich ihn erarbeitet hätte. Aber ich muss jedes Wort kennenlernen. Das Wort hat ja - sagen wir das Wort "Nacht" - in jedem Satz, wo es vorkommt, eine vollkommen andere Kraft und natürlich auch eine andere Bedeutung, muss anders geschrieben werden, obwohl die Buchstaben die gleichen sind. Ein Wort ist etwas sehr wandelbares und muss seine Stelle vom Autor zugeschrieben bekommen. Das ist gewaltig anstrengend, aber ich kann mir nichts anderes vorstellen und wünsche mir auch nichts anderes. "

    Mai 1945. Christoph Meckel ist zehn Jahre alt, als er mit seiner Mutter, zwei Brüdern und einem Dienstmädchen nach Erfurt kommt - ohne den Vater, er ist in Kriegsgefangenschaft. Ihre Freiburger Wohnung mussten sie verlassen, also suchen sie bei den Großeltern Unterschlupf. Es ist absurd: Millionen Deutsche strömen aus Angst vor den Russen nach Süden, nur die Meckels ziehen nach Osten. Zuerst ist die Stadt von den Amerikanern besetzt, die den Jazz, Schokolade und Kaugummi dabei haben. Ihnen vertraut man. In einem einzigen kurzen Satz bringt es Meckel auf den Punkt:

    Sie spielten Fußball in den schmalen Straßen, drei Tage später befreiten sie Buchenwald.

    Aber dann ziehen die Amerikaner ab und die Russen kommen. Sie wirken ganz und gar fremd, bedrohlich, und sprechen eine Sprache, die keiner versteht:

    Christoph Meckel:

    "Die Amerikaner, die Franzosen, die Engländer und der Russe, es hieß immer "der Russe". Das allein drückt sehr viel von der Angst der Deutschen aus. Und die Angst war berechtigt, vor allen Dingen in der ersten Zeit nach dem Krieg. Sie waren getrennt von den Deutschen in einer Weise, die erschreckend war. Es kam hinzu, dass die Russen unter sich blieben, mehr als die Amerikaner, und nur durch ihre Übergriffe den Deutschen bemerkbar wurden - durch Razzia, nächtliche Überfälle usw. "
    Der Krieg ist vorbei, doch wieder gibt es Tote, die Menschen leben erneut in Angst. Der Junge erlebt all das mit, verwirrt, staunend, beklommen. Da sein Großvater überfordert ist, muss er den "Mann" in der Familie spielen. Er geht in den Wald zum Holzholen, illegal, darauf steht die Todesstrafe; er verliert die Axt, den kostbarsten Besitz der Familie. Er hungert mit den anderen, stiehlt. Er streunt durch Ruinen, die auch ein riesiger Abenteuerspielplatz sind, lernt ein Mädchen kennen, das seine Freundin wird - und läuft davon. Doch er macht auch andere Erfahrungen, etwa beim ersten Sankt Martinsumzug nach dem Krieg:

    Fest" war ein Wort, das den Deutschen nicht mehr gehörte. Etwas Unerhörtes stand bevor, denn jeder Mensch war eingeladen - die Erwachsenen und alle Kinder -, sich mit Windlicht und Kerze, Laterne, Lampion auf der riesenhaften Steintreppe zu versammeln, die zum Dom und zur Kirche Sankt Severin aufstieg. Ich war zum ersten Mal Teil einer Menge Menschen, die nicht Zähnezeigen, Faust und Getrampel, sondern Durcheinander ohne Feindlichkeit war.

    Das sind Erfahrungen, die die Wahrnehmung des Jungen schärfen und ihn einige Jahre später zum Schreiben führen.

    Christoph Meckel:

    "Der Krieg war das, was das Kind am meisten geprägt hatte. Von Frieden wusste ich im Grunde gar nichts. So bin ich ein Kriegskind gewesen, was heißt, dass ich nicht klüger als andre war, aber aufmerksamer, sprungbereit, alles notierend, im Gehirn oder weiß Gott wo, vielleicht in der Seele."

    1947 wird der Vater aus der Kriegsgefangenschaft entlassen. Der nun 12-jährige Christoph und seine Mutter fliehen auf abenteuerlichen Wegen aus der russischen Zone zurück nach Freiburg - wo den Jungen, so wird angedeutet, eine andere, aber nicht unbedingt bessere Zeit erwartet. Damit könnte die Erinnerung enden. Doch Meckel hat ein Schlusskapitel angefügt, in dem er zeigt, wie wichtig russische Kultur und Literatur später für ihn wurden. Diese Wendung ins Positive hätte der Text nicht gebraucht. Seine sprachliche Meisterschaft und Leuchtkraft trägt über alle Dunkelheit hinweg.

    Christoph Meckel: Russische Zone. Erinnerung an den Nachkrieg. Libelle Verlag Lengwil, 106 Seiten, 19,90 Euro