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"Die Pflicht des Revolutionärs ist die Revolution"

Die Außerparlamentarische Opposition - kurz APO - war eine Protestbewegung. Ihre Themen waren die repressive westdeutsche Gesellschaft, die sich der Nazi-Vergangenheit nie richtig gestellt hatte, sowie der Kampf gegen die Diktaturen in Persien und Griechenland, die Befreiungsbewegung der Dritten Welt und der Krieg in Vietnam. Viele sahen in den Kriegsgegnern allerdings den "roten Mob".

Von Käthe Jowanowitsch und Stephanie Rapp | 19.02.2008
    2. Juni 1967: Die politische Elite der Bundesrepublik lauscht in der Deutschen Oper Berlin zusammen mit den Staatsgästen aus Persien, Schah Reza Pahlevi und seiner Gattin Farah Diba, den Klängen der Zauberflöte.

    Während sich die Honoratioren an den Mozart-Arien delektierten, demonstrierten draußen auf der Straße Tausende gegen den Besuch des Diktators auf dem Pfauenthron. Der Berliner Polizeipräsident hatte seinen Beamten die Anweisung gegeben, hart durchzugreifen.

    "Nehmen wir die Demonstranten als Leberwurst, dann müssen wir in die Mitte hineinstechen, damit sie an den Enden auseinanderplatzt."

    Opfer dieser Strategie wurde der 26-jährige Student Benno Ohnesorg. Er starb an einem Kopfschuss. Der Historiker Wolfgang Kraushaar:

    "Diese Erfahrung, dass es tödliche Schüsse eines Polizisten in zivil auf einen friedlich demonstrierenden Studenten gegeben hat, hat nicht nur in Berlin gezündet, in Westberlin, sondern dieser Funke sprang dann über auf die gesamte Bundesrepublik, auf die Universitätsstädte vor allen Dingen. Und das war dann eine Studentenbewegung."

    Sie verstand sich als "außerparlamentarische Opposition", als ein Gegengewicht zur Großen Koalition, die seit dem 1. Dezember 1966 unter Kanzler Kurt Georg Kiesinger in Bonn regierte. Die großen Themen der APO waren: die repressive westdeutsche Gesellschaft, die sich der Nazi-Vergangenheit nie richtig gestellt hatte, sowie der Kampf gegen die Diktaturen in Persien und Griechenland, die Befreiungsbewegung der Dritten Welt und der Krieg in Vietnam.

    1968 standen eine halbe Million US-Soldaten in Indochina. Um jeden Preis wollten die Vereinigten Staaten verhindern, dass der Südteil Vietnams kommunistisch wird. Der Krieg gegen den Vietcong wurde zum Kristallisationspunkt für Aufbegehren und Protest der studentischen Jugend und für den Traum von der Weltrevolution.

    "Man bewegte sich da ja im Rahmen eines großen, man würde heute sagen eines globalen Bündnisses an Studentenschaften. Man hat zuweilen an einem selben Datum, meistens an einem 15. eines Monats, gegen den Vietnamkrieg protestiert, und zwar von Kalifornien über Australien, Kopenhagen, Prag, Paris, Frankfurt, Berlin usw., und man fühlte sich da aufgehoben sozusagen."

    In der Bundesrepublik wurde der Sozialistische deutsche Studentenbund, kurz SDS, zum Sammelbecken der Unzufriedenen. Auch wenn er selbst auf dem Höhepunkt der Revolte nie mehr als 2000 Mitglieder hatte, war sein Einfluss enorm. Michael Naumann war einer der Frontmänner des SDS.

    "Der Vietnamkrieg war gewissermaßen die Folie, vor der sich innerhalb des SDS die Antiimperialismustheorie entwickelte. Es gab wegen des Vietnamkriegs Demonstrationen vor dem Amerikahaus und dem amerikanischen Konsulat in München und anderswo."

    Die Proteste verschärften sich Anfang 1968 mit der Tet-Offensive des Vietcong. Nordvietnamesische Guerillakämpfer starteten am 30. Januar, zu Beginn des buddhistischen Neujahrsfestes Tet, einen Überraschungsangriff, auf den die USA mit großer Brutalität reagierten. Im Februar erschütterte das Foto eines amerikanischen Kriegsreporters die Welt. Zu sehen war, wie der Polizeichef von Südvietnam einen jungen Vietcong auf offener Straße durch einen Kopfschuss hinrichtet. Das Bild wurde zu einer millionenfach gedruckten Anklage gegen die USA.

    "Heute muss man entweder die US-Aggression in Vietnam verurteilen, oder man muss sich mit ihr identifizieren. Ein Zwischending hilft nur den Henkern und nimmt Partei gegen die Opfer, die Vietnamesen."

    Der Soziologiestudent Rudi Dutschke war die charismatische Leitfigur des SDS, dessen politische Ausrichtung er einige Jahre maßgeblich prägte. 1940 in Luckenwalde in der Mark Brandenburg geboren, war er nach dem Mauerbau in Westberlin geblieben, um an der Freien Universität zu studieren.

    "Mord durch Napalmbomben! Mord durch Giftgas! Mord durch Atombomben! Die US-Aggression in Vietnam verstößt gegen Interessen des demokratischen Systems. Amis raus aus Vietnam!"

    Bereits 1966 hatten Rudi Dutschke und seine Mitstreiter diesen Aufruf in Berlin an Häuserwänden und Schaufenstern plakatiert. Zwar blieb die Bonner Politik unbeeindruckt. Die Protestbewegung aber beschleunigte sich. Die moralische Empörung über den Vietnamkrieg war um so größer, als die USA, Garant eines freien Westens, mit ihrer Kriegsführung in Fernost die eigenen demokratisch-ethischen Grundsätze verriet, so der Schriftsteller Friedrich Christian Delius, damals Germanistikstudent in Berlin:

    "Wir waren die Leute, zu denen Kennedy vor der FU gesagt hat: Leute, mischt Euch ein. Demokratie ist, wenn Ihr Euch beteiligt. Macht was. Und genau das ist ja passiert. Also, diese Enttäuschung, dass die ja von uns bewunderten Amerikaner sich da in einen Krieg begeben, der sozusagen den eigenen Prinzipien auch völlig widersprach. Und das hat uns aufgewühlt und aufgeregt, so wie es ja auch Hunderttausende von amerikanischen Studenten in der Zeit aufgeregt hat und aufgewühlt hat."

    Stefan Aust, 1968 Jungredakteur bei "konkret":

    "Wir waren ja keinesfalls irgendwie amerikafeindlich. Aber dass dieses große Amerika, das uns vom Faschismus befreit hatte, dieses liberale, demokratische Amerika nun plötzlich sich in einem grausamen Dschungelkrieg wiederfand und grausame Dinge angeordnet und getan hat, das hat viele in ihrem Glauben an die Amerikaner total erschüttert. Es war eine enttäuschte, eine durch Blut bitter enttäuschte Liebe."

    Am 17. und 18. Februar 1968 trafen sich in Westberlin die Gegner des Vietnamkrieges zu einem großen internationalen Kongress. Initiator und Gastgeber war der SDS.

    "Die Pflicht des Revolutionärs ist es, Revolution zu machen."

    Diese schwer zu widerlegende Losung Che Guevaras war als Spruchband quer über die Bühne des Audimax der Technischen Universität gespannt, die mit einer Flagge der nordvietnamesischen Nationalen Befreiungsfront dekoriert war.

    "Wir sind froh und dankbar, dass unter uns Zig-Genossen aus dem Ausland weilen."

    5.000 Kriegsgegner waren der Einladung nach Berlin gefolgt: Franzosen, Italiener, Engländer und Amerikaner. Unter den Teilnehmern waren auch prominente Intellektuelle, wie der italienische Verleger Giangiacomo Feltrinelli, der Lyriker Erich Fried und der belgische Ökonom Ernest Mandel. In Grußadressen erklärten sich Künstler und Wissenschaftler mit den Zielen der Organisatoren solidarisch: Günther Anders, Michelangelo Antonioni, Ernst Bloch, Luigi Nono, Hans-Magnus Enzensberger, Pier Paolo Pasolini und Jean Paul Sartre. Frenetisch gefeiert wurde der Dramatiker Peter Weiss, der im Mai 1967 am Russel-Tribunal gegen den Vietnamkrieg teilgenommen und Anfang 1968 sein neuestes Stück "Diskurs über die Vorgeschichte und den Verlauf des lang andauernden Befreiungskrieges in Vietnam als Beispiel für die Notwendigkeit des bewaffneten Kampfes der Unterdrückten gegen ihre Unterdrücker sowie über die Versuche der Vereinigten Staaten von Amerika, die Grundlagen der Revolution zu vernichten" fertig gestellt hatte.

    "Zehntausend in Westberlin, Hunderttausend in der BRD, Millionen in Europa und in den Vereinigten Staaten, gefährden tödlich die Freiheit der Machthabenden. Millionen lassen sich nicht vertilgen, wie die Kämpfer in Vietnam sich nicht vertilgen lassen mit Bomben, Napalm und Giftgas."

    Auch der SDS-Bundesvorsitzende KD Wolff hatte in der Eröffnungsrede an die Zuhörer appelliert, es nicht bei verbalen Protesten gegen die USA und deren Krieg in Vietnam zu lassen.

    "Es kommt darauf an, die Macht der imperialistischen Militärmaschine zu verunsichern."

    Aber wie? Einig war man sich, dass den Worten Taten folgen sollten. Zu viel Theorie, zu wenig Praxis, resümierte ausgerechnet Rudi Dutschke, der als Rhetoriker des SDS berüchtigt war. Er rief dazu auf, mit direkten Aktionen die Militärmacht der USA zu schwächen.

    "Es ist keine Zeit nüchterner, kalter, von der Praxis getrennter Reflexion, sondern eine Zeit der Mobilisierung. Die Aufgabe der Intellektuellen ist mit der des Organisators der Straße, mit der des Wehrdienstverweigers, mit der der lohnabhängigen Massen insgesamt identisch."

    Die Stimmung oszillierte zwischen fiebriger Erwartung und Besinnungsrhetorik. Während im Audimax stundenlange Reden die Geduld der Zuhörer strapazierten, wurden auf den Gängen der TU Ansichtskarten von Berlin mit dem Aufdruck "Saigon" verkauft. Die Kongressbesucher fühlten sich als Teil der Weltrevolution. Sie sahen sich Seite an Seite mit den Guerillakämpfern der Dritten Welt. Was sich im Dschungel bewährte, sollte auch in den europäischen Metropolen funktionieren. Um sich der gemeinsamen Sache zu versichern, skandierten die Teilnehmer immer wieder den Namen des nordvietnamesischen Präsidenten Ho Chi Minh.

    Die "Gewalt-Frage" wurde zum zentralen Thema, hatte doch bereits am 1. Februar der spätere Terrorist Holger Meins am selben Ort, dem Audimax der Berliner TU, einen "Lehrfilm" zur Herstellung von Molotow-Cocktails gezeigt. In der folgenden Nacht gingen die Fensterscheiben der "Berliner Morgenpost" zu Bruch.

    "Wir kennen zurzeit nur einen Terror, und das ist der Terror gegen unmenschliche Maschinerie. Die Rotationsmaschinerie von Springer in die Luft zu jagen und dabei keine Menschen zu vernichten, scheint mir eine emanzipierende Tat zu sein."

    Während sich die Kongressteilnehmer an ihrer eigenen Bedeutung berauschten, rumorte es in den Straßen der Stadt. Durch die Boulevardpresse aufgehetzt, sahen viele Berliner in den Kriegsgegnern den "roten Mob". Als Rudi Dutschke nachts über den Kudamm fuhr, umzingelten zehn Taxifahrer sein Auto. Nur in rasanter Rückwärtsfahrt konnte er entkommen.

    "Verbrennen müsst man sowat." "Na ja, der sollte mal so richtig den Arsch voll kriegen, damit er auf deutsch gesagt, damit ihn dat, wat sein Vater versäumt hat, noch nachjeholt werden könnte." "Der geht nach der Zersetzung der Demokratie."

    Zum Ende des Vietnam-Kongresses verabschiedeten die Teilnehmer ein Aktionsprogramm. Sie forderten die Zerschlagung der Nato, riefen zur materiellen Unterstützung der vietnamesischen Befreiungsbewegung auf und appellierten an die US-Soldaten, zu desertieren. Bei der Abschlussdemonstration zogen 12.000 Kiegsgegner durch das nasskalte, graue Berlin. Um der massiven Polizeipräsenz etwas entgegen zu setzen, hatten sich die Demonstranten untergehakt und stürmten blockweise im Laufschritt voran. Diese Taktik sollte Schule machen.

    Ziel des Demonstrationsmarsches war der Platz vor der Deutschen Oper, nur wenige Meter von der Stelle entfernt, wo im Juni 1967 der Student Benno Ohnesorg erschossen worden war. Dass die Kriegsgegner ausgerechnet in der Frontstadt Berlin die Schutzmacht USA attackierten, stieß bei Politik und Bürgertum auf heftige Ablehnung. Bereits am Abend fanden sich kleinere Gruppen zu Gegendemonstrationen zusammen. Am 19. Februar titelte das Springer-Blatt "Berliner Morgenpost":

    "Berlin darf nicht Saigon werden!"

    Der Schriftsteller Friedrich Christian Delius:

    "Natürlich war es unerhört, überhaupt gegen die Besatzungsmacht, die uns ja geschützt hat vor der Sowjetunion - und das war ja nun eine echte Gefahr in Berlin - dass man es wagte, gegen die zu demonstrieren. Aber das war ja gerade das, was uns provoziert hat, dass man gesagt hat, also ihr habt nicht gegen die Amerikaner zu sein, weil die uns hier beschützen. Diese harsche und feindliche Haltung, die dann von der Berliner Politik und von der Springer-Presse gegen diese Demonstranten sofort aufkam, die hat einen ja noch mehr dazu gebracht, ja das muss ja - wenn die so aufbellen - muss das ja doch richtig sein. Wenn die nicht mal das ertragen können."

    Und sie konnten es nicht ertragen.

    "Die Ereignisse vom letzten Sonntag haben eben doch die Geduld und die Toleranzbereitschaft arg strapaziert und das Misstrauen gegenüber den allzu radikal artikulierten Reformbestrebungen der jugendlichen Demonstranten verstärkt. Und rote Fahnen und Hammer und Sichel auf dem Kurfürstendamm, Bilder von Rosa Luxemburg und Lenin, Bilder des ehemaligen südamerikanischen Revolutionärs Che Guevara, beleidigende Plakate - wem kann man da verübeln, wenn er die Frage stellt: Was hat das alles noch zu tun mit einem aktuellen und konkreten Protest gegen den Krieg in Vietnam?
    Berlin steht für Freiheit und Frieden"."

    Für den 21. Februar hatte der Berliner Senat zu einer großen Gegenkundgebung vor dem Schöneberger Rathaus aufgerufen. Angestellte des öffentlichen Dienstes bekamen frei. Die Verkehrsbetriebe richteten Sonderlinien ein. Im Radio wurde ausgiebig für die Veranstaltung geworben. Etwa 80.000 Menschen folgten dem Aufruf. Der Regierende Bürgermeister Klaus Schütz:

    ""Nun, was ist die Lage? Bei uns versucht eine kleine Gruppe von Extremisten, den freiheitlichen Rechtsstaat handlungsunfähig zu machen. Unsere Antwort: Schluss damit! Berlin ist und bleibt kein Tummelplatz für Extremisten."

    Franz Amrehn, Chef der Berliner CDU, sekundierte:

    "Das gefährliche Rüpelspiel der Randalierer muss jetzt ein Ende haben. Wir haben nicht über 20 Jahre lang unsere freiheitliche Existenz gemeinsam verteidigt, um sie dann von einer Schar anarchistischer Weltverbesserer zerstören zu lassen."

    "Die Gefahr ist, dass unsere Freunde am wahren Berlin zu zweifeln beginnen. Aber ich sage, Freund und Feind sollen wissen, wir lassen uns unser freiheitliches Berlin nicht zertrampeln. Wir setzen uns zur Wehr."

    Der Zorn der Gegendemonstranten richtete sich vor allem auf Rudi Dutschke. Transparente stilisierten ihn zum "Volksfeind Nummer eins". Nach dem Ende der Veranstaltung entlud sich die aufgestaute Wut in Angriffen auf junge Männer, die man für Studenten hielt. Ein junger Mann, der Rudi Dutschke angeblich ähnlich sah, musste von der Polizei vor der randalierenden Meute geschützt werden. Bei den Ausschreitungen wurden insgesamt mehr als 30 Personen verletzt. Im März reagierte eine Gruppe prominenter Wissenschaftler und Schriftsteller auf die Tumulte, nach der bestellten Demonstration vor dem Schöneberger Rathaus. Sie wandten sich in der Wochenzeitung "Die Zeit" an den Berliner Senat und die Vorsitzenden, der im Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien. Die Freiheitsglocke, so hieß es in dem Appell, habe gegen Studenten und Bürger, die wie Studenten aussähen, "Pogromstimmung" eingeläutet. Zu den Unterzeichnern gehörten Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas, Werner Maihofer, Hans Mayer und Wolfgang Abendroth. Die "Bild"-Zeitung verfolgte ihre Hetzkampagne weiter. Als Rudi Dutschke am 11. April fast einem Attentat erlag, stand für die APO fest: Die eigentlichen Täter saßen im Springer-Haus. Auf dem Höhepunkt, der durch den Anschlag auf Rudi Dutschke ausgelösten Osterunruhen, richtete Justizminister Gustav Heinemann mahnende Worte, sowohl an die studentische Jugend, als auch an die Vertreter von Staatsmacht und Medien:
    "Wer mit dem Zeigefinger allgemeiner Vorwürfe auf den oder die vermeintlichen Anstifter oder Drahtzieher zeigt, sollte daran denken, dass in der Hand mit dem ausgestreckten Zeigefinger gleich drei andere Finger auf ihn selbst zurückweisen."

    Im Sommer 1968 verlor die westdeutsche Protestbewegung ihren Schwung. Der Vietnam-Kongress in Westberlin hatte die Entwicklung angestoßen: die Spaltung des SDS und der Studentenbewegung in einen radikalen und einen gemäßigten Teil. Die einen entschieden sich für Gewalt und ein Leben im Untergrund. Die anderen begannen den langen Marsch durch die Institutionen.