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Die politische Brisanz falsch eingeschätzt

Am 5. März 1983 prallte der vier Jahre zuvor aus der DDR geflüchtete Braunschweiger Bundesliga-Profi Lutz Eigendorf mit seinem Auto an einen Baum und verstarb zwei Tage später. Viele Indizien deuten darauf hin, dass die Stasi bei diesem Unfall seine Finger mit im Spiel hatte.

Von Thomas Purschke | 03.03.2013
    Bereits kurz nach dem Unfalltod von Lutz Eigendorf in Braunschweig kamen Hinweise und Gerüchte auf, dass das Ministerium für Staatssicherheit der DDR daran beteiligt gewesen sei. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig schloss den Fall dennoch rasch ab, da man bei Eigendorf einen Blutalkoholwert von 2,2 Promille festgestellt hatte. Mehrere Zeugen hatten allerdings damals ausgesagt, Eigendorf habe vor seiner tödlichen Autofahrt weitaus weniger getrunken.

    Erst nach der Wiedervereinigung wurden zahlreiche Stasi-Akten entdeckt, die enorme Aktivitäten des DDR-Geheimdienstes bei der Überwachung des "Verräters" Eigendorf in Westdeutschland dokumentieren. Über 50 Stasi-Spitzel wurden bei der bis zu seinem Tod fast vier Jahre andauernden Observation von Eigendorf und seiner Familie zum Einsatz gebracht. Dafür erhielten die Spitzel zum Teil erhebliche Geldsummen. Auch die mögliche Verwendung von Giftstoffen und Gasen bei Eigendorf wurde von den Stasi-Offizieren in Ostberlin diskutiert, wie aufgefundene Dokumente belegen. Demnach könnte der mysteriöse Verkehrsunfall durchaus ein geplanter Mordanschlag der Stasi gewesen sein. Von den DDR-Spitzenfunktionären wurden Flüchtlinge wie Eigendorf als "Sport-Verräter" gebrandmarkt und auch in West-Deutschland von der Stasi bedroht. Eigendorf hatte ausgerechnet für den Ostberliner Stasi-Klub BFC Dynamo gespielt, dessen oberster Chef Erich Mielke war. Für den Minister für Staatssicherheit stellte Eigendorfs Flucht zum westdeutschen "Klassenfeind" natürlich eine schwere Niederlage dar.

    Der Unfalltod von Lutz Eigendorf sorgt bis heute für Diskussionen. Andreas Holy befasste sich an der Uni Mainz in seiner Abschlussarbeit zum Lehramts-Staatsexamen intensiv mit der Causa Eigendorf. Beim Studium der Aktenlage stellte der fußballinteressierte Pädagoge fest, dass die Ermittlungsbehörden in Westdeutschland die politische Brisanz des Falles damals unterschätzt und nicht einmal eine Obduktion des Leichnams und eine Untersuchung auf eventuelle Giftstoffe angeordnet hatten. Auch das Unfallauto wurde nur von einem Kfz-Sachverständigen auf eine mögliche Manipulation von Bremsen, Lenkung und Reifen hin überprüft. Eine ausführliche kriminaltechnische Untersuchung unterblieb indes. Andreas Holy:

    "Zunächst mal ist zu sagen, dass die Polizei Braunschweig den Fall ziemlich schnell als Alkohol-Unfall abgehakt hat. Das heißt, Eigendorf wurde dann ohne Obduktion als Unfall-Toter in Kaiserslautern erdbestattet. Nach der Wende hat dann die Staatsanwaltschaft Berlin 1990 die Ermittlungen wieder aufgenommen und bei der Analyse der Verhöre von Beschuldigten oder auch von Zeugen ist mir aufgefallen, dass die Staatsanwaltschaft ja eher den Fall als Belastung angesehen hat und zum Teil auch zu wenig Ressourcen bereitgestellt hat, um diesen Fall zu bearbeiten."

    So wurde neben anderen wichtigen Verdächtigen aus dem DDR-Geheimdienst-Apparat beispielsweise der Stasi-Oberstleutnant Heinz Heß, der mit der Observation von Lutz Eigendorf im Westen befasst war, von den Ermittlern nie vernommen. Heß war in der Ostberliner Stasi-Zentrale Abteilungsleiter für Sonderaufgaben der "Zentralen Koordinierungsgruppe ZKG". Diese war für die Bekämpfung von "Republikfluchten" zuständig. In DDR-Geheimdienstakten ist dokumentiert, dass Heß ausgerechnet am Todestag von Eigendorf mit einer Sonderprämie von 1.000 DDR-Mark ausgezeichnet worden war.

    Andreas Holy rekonstruiert:
    "Heinz Heß wurde als Beschuldigter in einem Mordfall vorgeladen von der Polizei. Dieser Herr Heß ist doch einfach nicht erschienen zu diesem Verhör, woraufhin eine Aktennotiz zu finden ist, dass Herr Heß nicht erschienen ist und sich demnach nicht auf den Vorwurf eingelassen hat. Daraufhin wurden auch keine weiteren Schritte mehr unternommen, was meiner Meinung nach sehr kritisch zu sehen ist. Also ich muss hier schon ein Versagen der Staatsanwaltschaft betonen."

    Stasi-Offizier Heinz Heß verstarb im Jahr 2004. Die Staatsanwaltschaft Berlin, die den Fall über Jahre bearbeitet und 2004 eingestellt hatte, erklärte nach nochmaliger Prüfung Anfang 2011, dass es "keine objektiven Hinweise auf ein Fremdverschulden" gebe.

    Der Chef der Stasi-Unterlagenbehörde, Roland Jahn, erklärte aktuell gegenüber dem Deutschlandfunk, dass es durchaus möglich sei, dass in den nahezu 15 000 Papiersäcken mit zerrissenen Stasi-Akten noch Dokumente gefunden werden, die eine weitere Aufklärung auch der Causa Eigendorf befördern können. An der Rekonstruktion des Aktenmaterials werde intensiv gearbeitet.