Donnerstag, 18. April 2024

Archiv


Die polnische Wunde

In seinem Buch zeigt Journalist Franz Kadell vor allem eins: Katyn ist in den Köpfen der Polen längst noch nicht abgeschlossen. Vom Trauma des sowjetischen Massenmordes an rund 23.000 Polen im Jahr 1940 und der nachfolgenden Vertuschung hat sich das Land immer noch nicht erholt.

Von Martin Sander | 04.04.2011
    "Das erste Gefühl, als die Nachricht am 10. April 2010 uns alle erreichte, war doch: Schon wieder Katyn, ausgerechnet bei Smolensk, ausgerechnet zu einer Gedenkfeier stürzt diese Maschine mit 96 hochrangigen Polen an Bord ab."

    Das zweifache Trauma der Polen, so lautet der Untertitel des neuen Katyn-Buches von Franz Kadell. Dem neuerlichen Trauma widmet sich der Autor und ehemalige Chefredakteur der "Magdeburger Volksstimme" im Schlusskapitel. Es handelt von dem Flugzeugabsturz vor einem Jahr, von der Reaktion der polnischen Öffentlichkeit auf den Tod des damaligen Staatspräsidenten Lech Kaczyński und weiterer 95 Fluggäste, die auf dem Weg zu einer Gedenkfeier in Katyn waren. In diesem Schlusskapitel wird deutlich, warum so viele Menschen in Polen den Untersuchungskommissionen misstrauen, die menschliches und technisches Versagen als Absturzursache ermittelt haben. Hier versteht der Leser, warum das gesamte nationalkonservative Spektrum der Gesellschaft das Flugzeugunglück als Verschwörung, als Komplott gegen Polen auslegt.

    Diese Interpretation konnte sich nur deshalb verbreiten, weil das erste Katyn-Trauma, ausgelöst vor 70 Jahren, immer noch nicht bewältigt ist. Darum geht es Kadell. In sechs chronologisch geordneten Kapiteln schildert er, was in Katyn 1940 geschah und wie sich danach die unterschiedlichen politischen Mächte der Geschehnisse von Katyn bedienten.

    Das vorliegende Buch versteht sich nicht als weiterer Beitrag zur historischen Detailforschung. Es soll ein Gesamtbild zum Thema Katyn über sieben Jahrzehnte hinweg zeichnen.

    Rückblende: Am 5. März 1940 tagt unter der Leitung von Stalin das Politbüro der KPdSU. Die sowjetische Führung will reinen Tisch machen mit den Polen, laut Dienstmitteilung 794/B "allesamt eingefleischte, unverbesserliche Feinde der Sowjetmacht". Mindestens 23.000 Polen, Angehörige der Eliten, Offiziere, Polizeibeamte, Priester, Professoren und Gutsbesitzer haben die Sowjets nach dem Einmarsch der Roten Armee verhaftet. Die meisten der Festgenommenen werden erschossen. Franz Kadell:

    "Nimmt man die Zahl der ermordeten Polen, ist diese Zahl relativ gering im Vergleich zu der Gesamtzahl der Ermordeten. Nimmt man die Bedeutung für Polen, ist es eine Enthauptung gewesen."

    Die Sowjetunion beseitigt die polnischen Eliten in ihrer Einflusszone so, wie es Nazideutschland in seinem Besatzungsgebiet Polens tut. Männer des Geheimdienstes NKWD vollziehen die Hinrichtungen an mehreren Orten Russlands, Weißrusslands und der Ukraine – per Genickschuss, mit Pistolen und Munition aus Deutschland. Doch nur ein Ort, das Dorf Katyn unweit des westrussischen Smolensk, wird diesem Verbrechen seinen Namen geben. Denn dort werden schon bald danach über viertausend Leichen unter dem Waldboden entdeckt. Wehrmachtsangehörige sind nach dem Überfall auf die Sowjetunion auf dieses Massengrab gestoßen.

    Die Deutungsmaschinerie kommt in Gang. Während Goebbels Propaganda-Ministerium der Welt die Gräueltaten der Sowjets als "Werk jüdischer Schlächter" präsentiert, macht Stalin die Deutschen für Katyn verantwortlich. Die polnische Exilregierung aber schenkt der sowjetischen Deutungsweise keinen Glauben, bohrt nach und wird dafür - mit Billigung des damaligen britischen Premierministers Winston Churchill - aus der Anti-Hitler-Koalition verstoßen. Die Westalliierten brauchen Stalin als Verbündeten, und die Polen sind für sie nicht mehr als Quertreiber, die das Klima vergiften. Das Ergebnis: Stalins Version, die Deutschen hätten nach dem Überfall auf die Sowjetunion in Katyn gemordet, gilt bis 1989 im gesamten Ostblock, auch im Westen wird dieser Behauptung nicht immer laut genug widersprochen. Die 1980 gegründete "Solidarność" machte den sowjetischen Massenmord von Katyn hingegen zum zentralen Bestandteil ihrer Geschichtsaufarbeitung. Für Franz Kadell ein Grund, näher hinzuschauen.

    "Ich bin damals als außenpolitischer Redakteur bei der "Welt" darauf gestoßen, dass ich mir die ganze Politik um die Freiheitsbewegung der "Solidarność" nicht ausreichend erklären konnte. Ich sah, dass dieses Thema Katyn zwischen Polen und Russen steht. Und ich konnte nichts Rechtes, um mich selbst kundig zu machen, dazu finden. So fing alles an. Dieses Thema ist damals in Deutschland nicht gesehen worden, während für die Polen in aller Welt dieses Beispiel des Martyriums die Nation zusammengehalten hat, weltweit, es war immer das Thema Katyn dabei."

    Franz Kadell schreibt über Katyn mit unverkennbarer Sympathie für die polnische Forderung einer bedingungslosen Aufklärung des Verbrechens. Diese Sympathie scheint berechtigt, berücksichtigt man, wie sehr sich die Westalliierten auf die Katyn-Lüge einließen. Der damalige US-Präsident Roosevelt und der britische Premierminister Winston Churchill stützten die sowjetischen Manipulationen und unterbanden kritische Stimmen im eigenen Land. Das entlarvt Kadell zu Recht. Vor allem aber beleuchtet er die Mechanismen der sowjetischen sowie postsowjetisch-russischen Politik. Gewiss: Michail Gorbatschow hat 1990 die sowjetische Alleinverantwortung für Katyn erstmals offen eingestanden. Boris Jelzin übersandte 1992 den Polen die Politbüroakten. Die russische Duma gab im November 2010 eine Erklärung zur sowjetischen Verantwortung für Katyn ab. Gleichwohl weigert sich Russland weiterhin, die Angehörigen der Opfer zu entschädigen, wogegen Polen Klage vor dem Europäischen Gerichtshof in Straßburg führt.

    "Die bisherige russische Position ist ja die, nur Opfer selbst können den Antrag auf Rehabilitierung stellen. Nur, das sind ja die Ermordeten. Wie sollen die das tun? Das ist ja geradezu absurd ..."

    Solange Russlands Standpunkt zu Katyn widersprüchlich ist, bleibt Katyn ein hochbrisantes Thema für Polen. Das Unglück von Smolensk vor einem Jahr hat die polnische Gesellschaft tief polarisiert. Viele Menschen halten ihren tödlich verunglückten Präsidenten für einen Märtyrer, das Flugzeugunglück für russische Sabotage. Sie gehen für den Nationalhelden Lech Kaczyński auf die Straße, wie Franz Kadell in seinem Schlusskapitel darlegt.

    Der Autor teilt die Verschwörungstheorie vom Mord in Smolensk aber nicht. Gleichwohl zeigt er immer wieder Verständnis für die polnische Wunde Katyn. Anschaulich erzählt er die spannende Geschichte einer sieben Jahrzehnte währenden Manipulation. Auch wenn er nicht in Archiven geforscht hat und praktisch nicht auf russische und polnische Quellen in der Originalsprache zurückgreift, nutzt der Autor doch eine breite Materialbasis und wird seinem eigenen Anspruch, ein Gesamtbild für den deutschen Leser zu entwerfen, durchaus gerecht. Wer also eine übersichtliche, gut lesbare Darstellung zu diesem Thema sucht, wird sie hier finden.

    Franz Kadell: Katyn. Das zweifache Trauma der Polen.
    Herbig Verlag, 254 Seiten, 19,99 Euro
    ISBN: 978-3-776-62660-5