Donnerstag, 18. April 2024

Archiv

Die Popkultur zieht aufs Land
Die Holzhütte als Corona-Fluchtort

Backen, stricken, häkeln und dazu eine Strickjacke, die einen warm hält. Untermalt von sanften Klängen des neuen Taylor Swift Albums. In der Pandemie träumen sich die Popkünstlerinnen und Künstler auf die grüne Wiese, feiern das Landleben und die Holzhütte als sicheren Raum für alle.

Mike Herbstreuth im Gespräch mit Adalbert Siniawski | 26.10.2020
Eine Frau geht auf eine rote Holzhütte im Wald bei Kuopio in Finnland zu
In Coronazeiten flüchten viele aufs Land und Taylor Swift und andere liefern den Soundtrack zur grünen Wiese (Imago/ Westend61)
Taylor Swift schlägt auf ihrem aktuellen Album "Folklore" nicht nur ganz neue, zarte Indie-Folk-Töne an, auch ihren Look hat sie für das Album sehr verändert. Sie steht in Wäldern herum, trägt beige überdimensionierte Wollpullover, Spitzenblusen und trägt die Haare geflochten. Mit diesem Look und diesem Sound von Swift ist eine Ästhetik jetzt auch endgültig im Mainstream angekommen, die schon seit ein paar Monaten vor allem auf Social Media die Runden macht, und dort vor allem von vielen aus der LGBTQI Szene gefeiert wird – Cottagecore. Bevor es um die Gay-Varinate des Cottagecore geht, erstmal zu dem Phänomen allgemein. Der Name "Cottagecore" bedeutet, sozusagen "Landhaus extrem" – also abgeleitet von Hardcore.
Typischerweise gehört zu dieser Ästhetik, zu dieser Welt von Cottagecore, die sich hauptsächlich abspielt auf Tumblr, Pinterest, TikTok oder Instagram, eine einsame, romantische Holz-Hütte irgendwo in einer wunderschönen Landschaft – eine Cottage eben. Man sieht da oft Leute, die in Klamotten in Erdtönen oder Blumenmustern in Kräutergärten herumwerkeln oder auf einer Blumenwiese picknicken und einen Gedichtband lesen, wie sie in einer rustikalen Hütte was Backen oder Basteln, oder über sonnendurchflutete Lichtungen flanieren mit einem selbstgeflechteten Korb selbstgesammelter Beeren.
Eine klassische Form des Eskapismus?
Mike Herbstreuth: Es ist auf jeden Fall eine Form von Eskapismus. Es ist so eine sehr sanfte Art davon, von Entschleunigung, Romantik, Rückkehr zu Natur und einem einfachen Leben, Self-Care – es ist eine visuelle Repräsentation von diesen Ideen in Videos und Fotos. Aber niemand ist tatsächlich so weltfremd, dass er sich ernsthaft in eine Hütte zurückwünscht. Es ist das Spielen mit dieser Fantasie und natürlich auch eine total romantisierte Vorstellung vom Leben in so einer Hütte. Aber Eskapimsus ist schlicht auch sehr wichtig, in Krisenzeiten oder einer Pandemie sowieso. Aber es geht auch nicht nur ums Wegträumen aus der Pandemie, es gibt zum Beispiel auch eine sehr große queere "Cottagecore Community", für die Cottagecore eine Art Safe Space ist.
Die lesbische Bloggerin Rowan Ellis, die sehr aktiv ist in der Cottagecore Community, hat es so ausgedrückt: "Cottagecore erlaubt es homosexuellen Frauen, sich an einen Ort ohne Homophobie zu denken, ohne Angst, der sich nicht wie eine Exil anfühlt, sondern wie ein sehr speziell kuratiertes Paradies. Eine Welt der Unabhängigkeit und eine Welt, in der man glücklich und friedlich mit der Partnerin zusammenleben kann. Eine Welt, die sich nicht um Männer dreht."
Normalerweise gelten ländliche Räume eigentlich nicht als sichere Orte für Homosexuelle, da hier häufig noch klassische Rollenbilder herrschen, aber in einem Artikel in der Zeitschrift "Vice" bringt ein junger, queerer Mann namens Reid, der aus nem Dorf in Arkansas kommt, das ganz gut auf den Punkt. Er hat sich früher in diesem Landleben nie sicher gefühlt, wurde stark diskriminiert. Durch Cottagecore kann er das jetzt für sich umdeuten, kann das idyllische Landleben haben, ohne sich und seine Sexualität zu verstecken oder Angst haben zu müssen.
Ist Cottagecore eine Welt, in der das Patriarchat keine Rolle spielt?
Herbstreuth: Genau. Es gibt da keine Sexualisierung, keine Objektifizierung, kein Male Gaze, dem viele Frauen täglich ausgesetzt sind, keine Unterdrückung von Homosexuellen. Alles, was diese Cottagecore Ästhetik ausmacht, ist ja sehr delikat, sehr soft, sehr zierlich, kann eher als feminin gelesen werden. Aber im Cottagecore hat dieser Ausdruck von Weiblichkeit nichts schwaches oder unterlegenes. Was in Cottagecore als weiblich gesehen wird, wird respektiert, ist stark. Sanftheit macht einen nicht schwach, Empathie ist wichtig und trägt dazu bei, dass ein Gemeinschaftsgefühl entsteht. Und das ist eine schöne Botschaft, finde ich.
Nur ein Pandemie-Hype, oder geht es über die Corona-Zeit hinaus?
Herbstreuth: Also das gibt’s schon länger, seit ein paar Jahren, aber Corona hat extrem dazu beigetragen, dass das populär geworden ist - der Hashtag Cottagecore hat auf Tiktok 4,3 Milliarden Aufrufe und seit dem Beginn der Pandemie sind die Likes auf Tumblr für Cottagecore Content um 514 Prozent angestiegen. Klar, in Isolation und Lockdown ist es natürlich sehr schön, über Cottagecore Zugang zur Natur oder gemütlichen Orten und Tätigkeiten zu haben.
Und viele haben ja auch während der Quarantäne angefangen zu backen, Hefe war ja ne Zeit lang überhaupt nicht mehr zu kriegen. Auch sehr cottagecorig. Aber durch diesen Safe Space, den Cottagecore bieten kann, durch die Anknüpfungspunkte auch an die Umweltbewegung, an Nachhaltigkeit, auch an Anti-Kapitalismus – man macht die Sachen selbst, man baut an, näht, bastelt – glaube ich, dass uns definitiv noch lange begleiten wird. Wahrscheinlich entwickelt es sich weiter, es gibt kein Cottagecore-Manifest oder so, keine in Stein gemeißelte Defintion, es ist eben eine Internet-Ästhetik und keine Subkultur - das ist alles sehr offen und im Fluss, aber bleiben wird es definitiv.