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Die protestantische Grundhaltung und die Wende

Seit Joachim Gauck zum Bundespräsident gewählt wurde, ist die friedliche Revolution von 1989 wieder Gegenstand von Debatten. Der Aufstand der Bürger in Leipzig und Berlin begann unter dem Schutz der evangelischen Kirche - aber ob er deshalb protestantisch ist, ist umstritten.

Von Hans Joachim Neubauer | 27.04.2012
    "''Ich werde nie vergessen: In Halle gab es einen Pfarrer, einen Korpsstudenten von mir, der sehr eng mit diesen Gruppen verbunden war, auch mit den Randgruppen der Gesellschaft.""

    Peter Maser kennt sie gut, die 80er-Jahre in der DDR, die Zeit der Bürgerrechtsbewegung, der Friedenskreise und Widerstandsgruppen:

    "Wenn man zu dem in den Gottesdienst kam, dann war eine klare Teilung: Rechts saß die traditionelle Gemeinde. Und links saßen die wilden Gestalten im Parka, mit den langen Haaren und so weiter und so fort. Und dieser Pfarrer musste versuchen, das nun alles irgendwie zusammenzuhalten."

    Maser weiß genau, wer damals was wie zusammenhielt. Der in Halle geborene, in Münster habilitierte Kirchenhistoriker hat über die wilden Gestalten im Parka und die friedliche Wende von 1989 geforscht. Welchen Anteil hatten die Konfessionen am Widerstand? Welche Rolle spielte die evangelische Kirche bei der Überwindung des SED-Regimes? Schon damals machte das Wort von der "protestantischen Revolution" die Runde. Zu Recht?

    "Protestantisch war das Unternehmen schon dadurch, dass eben ganz wesentliche Kräfte, die die Bewegung 89 getragen haben, entweder in direktem Zusammenhang mit den evangelischen Kirchen standen oder doch zumindest unter dem immer wieder erwähnten Schutzdach der Kirchen operierten und dadurch enge Beziehungen hatten."

    Zunächst schlüpften die Pazifisten und Wehrdienstverweigerer unter dieses Dach, nach und nach kamen weitere hinzu: Bürgerrechtler, Homosexuelle, Alkoholiker, andere Randgruppen. Nicht mit allen war die offizielle Kirche einverstanden. Doch die Gemeinden entschieden autonom, wem sie ihre Türen öffneten. In den Kirchen und Gemeindesälen trafen Intellektuelle auf fromme Gläubige, Politische auf Atheisten, Punks auf Stasi-Spitzel. Aber war es tatsächlich eine protestantische Revolution?

    "Ich habe nicht den Eindruck, dass diese Zuschreibung wirklich richtig ist."

    sagt Stephan Bickhardt. Als junger Theologe war er Mitglied der ostdeutschen Bürgerrechtsbewegung. Heute arbeitet er als Polizeipfarrer in Leipzig. Er bezweifelt, dass die Wende eine evangelische Angelegenheit war.

    "Nehmen Sie etwa die Leipziger Montagsdemonstrationen: Die Kirche hat ein Setting angeboten, eine Friedensandacht, ein Friedensgebet, über viele Jahre gehalten, auch in kleinen Gruppen. Zeugnis gegeben von der Wahrheit, dass die Veränderungen, die man, wo auch immer, anstrebt, gewaltfrei sein sollten. Und dann sind, weniger aufgrund dieses Zeugnisses, sondern aufgrund eigener Bedürfnisse, einem tiefen Gefühl von Ungerechtigkeit, einer Ohnmacht, eines Zorns, die Menschen auf die Straße gegangen."

    Die protestantische Kirche stellte den organisatorischen und geistigen Rahmen. Denn hinter ihren Mauern war Platz für einen von den Staatsorganen so gut wie nicht zu kontrollierenden Austausch, auch zwischen den unterschiedlichen Gruppen – etwa zwischen Ausreisewilligen und Bürgerrechtsaktivisten. Stephan Bickhardt:

    "Das christliche Zeugnis, die sonntäglichen Gottesdienste, die Organisation der Gemeinden. Auch, dass die Gemeinden vergleichsweise offene Körperschaften ja bis heute sind, wo man einfach hinzukommen kann. All das hat einen Diskussionsraum ermöglicht, der eben dann auch eine Streitkultur bereitgehalten hat, zwischen denen, die politisch mehr wollten, und denen, die politisch vorsichtiger gewesen sind."

    Die berühmte evangelische Streitkultur. Auch mit ihrer Hilfe blieb die Wende friedlich. Der sanfte Umsturz war ein zivilisatorisches Wunder, die unblutige Revolution wäre undenkbar gewesen ohne Mut, ohne Disziplin, ohne Vernunft und Bürgersinn. Stephan Bickhardt betont, wie eng sich die protestantische Kirche im Osten Deutschlands auf den Staat bezog und noch bezieht:

    "Insofern drückt sich dort ein Ideal des politischen Protestantismus aus, als dass deutlich wird, dass für jede Kirchgemeinde das kommunale Gegenüber – Christengemeinde und Bürgergemeinde spricht man das manchmal aus – nicht nur ein Gegenüber ist, sondern ein Raum der Mitgestaltung, ein Raum der Diskussion. Und im Falle von Konflikten die Kirche auch gerufen ist, wie seinerzeit am runden Tisch, eine moderierende Rolle zu übernehmen."

    Diesem spannungsreichen Gegenüber von Staat und Kirche hat sich der ostdeutsche Katholizismus konsequent verweigert. Katholiken stellten nur drei Prozent der Bevölkerung, eine klassische Minderheit.

    "Auf der anderen Seite war natürlich bekannt in der DDR, dass mit Katholiken nicht gut Kirschen essen ist."

    Glaubt Peter Maser. Der ostdeutsche Katholizismus hatte politisches Gewicht, weil die DDR alles daran setzte, international anerkannt zu werden.

    "Und die katholischen Bischöfe in der DDR haben die Karte immer sehr, sehr gekonnt ausgespielt, wenn es irgendwie brenzlig wurde, zu sagen: Ja also, wir hören das, wir nehmen die Warnungen, die Ermahnungen und was weiß ich zur Kenntnis, aber wir müssen das alles erst mal in Rom besprechen, bevor wir hier irgendwie etwas Verbindliches sagen oder erklären können."

    So wurden katholische Kinder in der Regel leichter zu Oberschule und Abitur zugelassen als Kinder aus evangelischen Pfarrhäusern. Partei und Staat hatten kein Interesse an einem Konflikt: Der Ruf des Regimes sollte gewahrt werden. Die friedliche Wende fand also als nicht-katholisches Ereignis statt. Auch wenn sie vielleicht nicht in allem und durch und durch evangelisch war – ihre konfessionelle Grundierung ist am Ende kaum zu übersehen. Inzwischen ist ein protestantischer Ost-Pfarrer ins Schloss Bellevue eingezogen, eine ostdeutsche Pfarrerstochter sitzt im Kanzleramt: Ist die protestantische Revolution endlich an ihr Ziel gekommen? Peter Maser:

    "Das kann man sagen: Es ist natürlich nicht ohne Witz der Geschichte, dass nun also unser Bundespräsident ein evangelischer Pfarrer aus der ehemaligen DDR ist und unsere Bundeskanzlerin aus einem evangelischen Pfarrhaus in der Mark Brandenburg kommt. Bei Bundespräsident Gauck wird man es wahrscheinlich in Zukunft auch deutlich merken, wo er herkommt. Bei der Bundeskanzlerin spielt das eher eine geringe Rolle. Sie behandelt diese Zusammenhänge nach meiner Wahrnehmung eher als Privatsache und ist da ausgesprochen zurückhaltend. Aber das bestimmt natürlich das Klima und ich frage mich manchmal, wie also etwa süddeutsche Katholiken damit klarkommen, dass an unserer Staatsspitze nun zwei norddeutsche Protestanten stehen."