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Die Protokolle der Weisen von Zion

Die sogenannten "Protokolle der Weisen von Zion" sind die vielleicht folgenreichste Fälschung der Weltgeschichte. Sie dienten dem Antisemitismus als Beleg für seine mörderische Behauptung, das internationale Judentum plane die systematische Zersetzung der bestehenden Staaten und Völker und bereite damit die Errichtung seiner Weltherrschaft vor. Bis heute übt dieser Mythos von der jüdischen Weltverschwörung seine verhängnisvolle Wirkung aus. Manche russische Nationalisten glauben ebenso fest daran wie viele arabische Israelhasser und sogar einige schwarze Extremisten des "Nation of Islam" in den USA.

Richard Herzinger | 25.08.1998
    Der amerkanische Historiker Norman Cohn hat seine Analyse der Entstehung und Verbreitung dieses tückischen Lügengespinstes schon Ende der sechziger Jahre vorgelegt. Sein Buch ist bis heute das gültige Standardwerk über die Geschichte der "Protokolle" geblieben. Jetzt ist es, ergänzt um eine aktuelle, kommentierte Bibliographie, neu aufgelegt worden. Cohns Arbeit gibt nicht nur eine detaillierte Darstellung der verhängnisvollen Karriere des obskuren Werkes. Sie liest sich auch wie eine exemplarische Fallstudie über die verhängnisvolle Faszinationskraft von Verschwörungstheorien.

    Fabriziert wurden "Die Protokolle der Weisen von Zion" um die Jahrhundertwende in Rußland von Agenten der zaristischen Geheimpolizei, vermutlich im Auftrag ihres stockreaktionären Auslandschefs. Das antisemitische Horrorgemälde sollte die Angst vor Liberalismus, Sozialismus und Demokratie schüren. Angeblich geben die "Protokolle" den Wortlaut der Zusammenkunft einer geheimen jüdischen Weltregierung wieder, bei der diese ihre Strategie zur globalen Machtergreifung festgelegt habe. Alle gängigen Klischees reaktionärer Furcht vor der Moderne werden dabei auf die Juden projiiziert: Sie seien die geheimen Drahtzieher der Aufklärung, der liberalen Demokratie, aber auch der sozialistischen Arbeiterbewegung. Die Juden, so heißt es zum Beispiel, hetzten Bourgeoisie und Proletariat gleichermaßen zum Klassenkampf auf, um das Gefüge der Gesellschaft zu zerstören. Auf den Ruinen der Ordnung könnten sie dann als Retter hervortreten und ihre blutige Tyrannis errichten.

    Diese Konstruktion erlaubte es den Antisemiten zu suggerieren, die Juden stünden hinter ausnahmslos allen, auch den gegensätzlichsten Bewegungen der Moderne. Sie steuerten das Finanzkapital ebenso wie die Gewerkschaften, sie hätten die französische Revolution ebenso angezettelt wie die industrielle Revolution, sie hätten den Marxismus ebenso erfunden wie den Anarchismus. Später, bei den Nationalsozialisten, wurde aus dieser Wahnvorstellung das monströse Schlagwort vom "jüdisch-bolschewistischen Kapital" generiert.

    Das abstruse Machwerk stützt sich zu großen Teilen auf einen Text, der mit der Rolle der Juden überhaupt nichts zu tun hat. 1864 hatte der französische Journalist Maurice Joly einen fiktiven Dialog zwischen dem Aufklärer Montesquieu und dem Renaissance-Machttheoretiker Machiavelli geschrieben. Montesquieu verteidigt in diesem Werk die liberalen Freiheiten, während Machiavelli die Notwendigkeit der Despotie begründet. Die antisemitischen Fälscher schrieb ganze Passagen dieses Textes ab und unterschoben sie den vermeintlichen jüdischen Verschwörern. Abgekupfert wurden vor allem die Machtphantasien des fiktiven Machiavelli, man verrührte sie aber mit den liberalen Argumenten Montesquieus. Schließlich sollten die Juden ja für beides verantwortlich sein: Für die bindungslose Freiheit ebenso wie für die eiserne Despotie.

    Zwischen 1903 und 1907 erschienen in Rußland mehrere Ausgaben der "Protokolle". Richtig los ging es mit ihrer Rezeption jedoch erst 1917, als der mystische Apokalyptiker Sergej Nilus die Legende in die Welt setzte, bei der geheimen Zusammenkunft der jüdischen Weltverschwörer habe es sich um den internationalen Zionistenkongreß in Basel 1897 gehandelt. Der unsichtbare Feind hatte nun eine, wenn auch phantastische Gestalt, und die Protokolle konnten als Propagandainstrument im politisch-ideologischen Tageskampf eingesetzt werden. So verwendete sie der amerikanische Industrielle Henry Ford nach dem Ersten Weltkrieg für seine Kampagne gegen eine angebliche Unterwanderung der Vereinigten Staaten durch deutsche Agenten, durch Katholiken und Kommunisten.

    Die Fälschung wurde bereits 1921 erwiesen, als die englische "Times" den Text von Maurice Joly als Quelle der Fabrikation entdeckte. Den Nazi-Führern waren diese Fakten nur zu bekannt. Das hinderte Alfred Rosenberg nicht daran, die "Protokolle" 1923 auf deutsch herauszugeben und den Glauben an ihre Echthheit damit zum Dogma der NS-Ideologie zu erklären.

    Im Jahre 1935 stellte ein Schweizerisches Gericht nach peniblen Ermittlungen unzweideutig fest, daß es sich bei den "Protokollen" um eine pure, abscheuliche Erfindung handelt. Das hinderte die antisemtische Internationale freilich nicht, weiter mit Inbrunst an ihre Authentizität zu glauben. Derartiges liegt ganz in der gegen rationale Einwände immunen Logik verschwörungstheoretischer Wahngebilde: Der Nachweis, daß die "Protokolle" eine plumpe Fälschung sind, war eben auch nur wieder ein perfides Täuschungsmanöver, hinter dem, wie hinter allem, der Jude steckte. Für Verschwörungstheorien gilt: Je monströser und absurder ihr Phantasma ist, desto effektiver und haltbarer sind sie. Verschwörungstheorien blühen, wann immer die Weltläufte schwer erklärbar werden oder rationale Erklärungen der Welt die eigene Paranoia nicht lindern können. Also immer und überall.