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"Die Rechte der Anderen"

Müssen Länder weltweit Menschen, die aus ihrer Heimat wegziehen oder flüchten, reinlassen? Ja, man muss, sagt die in Yale lehrende Politikwissenschaftlerin und Philosophin Seyla Benhabib.

Vorgestellt von Kersten Knipp | 20.08.2009
    Das Problem beginnt damit, dass man, solange man nicht tot ist, immer irgendeinen Platz auf dieser Welt braucht. Wer lebt, braucht einen Ort, wo er das tun kann. Das ist einfacher als es klingt. Denn man darf sich zwar aussuchen, wo man nicht leben will. So sieht es die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" vor, die darum ein Menschenrecht auf Auswanderung kennt. Aber wo man leben will, das zu entscheiden und vor allem zu realisieren, ist schon wesentlich schwieriger. Denn die Menschenrechtserklärung kennt eines nicht: das Recht auf Einwanderung. Will sagen: Der Mensch kann entscheiden, aus welchem Land er weg will – aber darum noch lange nicht, wo er hin will. Vor seinen Willen haben die Nationalstaaten ihre Grenzen gesetzt, und die halten sie dicht. Darum müssen die Menschen, die weg wollen aus ihrer alten Heimat, immer irgendwo anklopfen. Aber muss man sie auch reinlassen?

    Ja, man muss, die in Yale lehrende Politikwissenschaftlerin und Philosophin Seyla Benhabib. Sie plädiert neben der in den letzten Jahren ins Spiel gebrachte Idee der "Verteilungsgerechtigkeit" – den Anspruch, vom Kuchen mitzukriegen, hat jeder Mensch – auch für die der "Zugehörigkeitsgerechtigkeit". Der Mensch hat den Anspruch zu einem Staat zu gehören, und zwar nicht unbedingt zu dem, in den er geboren ist. Das ist nachvollziehbar, auch dann, wenn dieser Mensch nicht aus politische, sondern aus ökonomischen Gründen anklopft – weil er etwa vor dem Hunger flieht. Und diese Menschen stellen uns eine unangenehme Frage: Ist es zulässig, sie abzuweisen, nur weil unser eigener Lebensstandard sinkt? Weil wir also etwa abgeben müssen, aber eigentlich zu geizig dazu sind? Nein, das ist nicht zulässig. Nirgends steht geschrieben, dass der Norden der Welt auf alle Zeiten reicher bleibt als der Süden. Und schaut man sich die Akkumulationsgeschichte des europäischen Reichtums ein – die ehemaligen Kolonien lassen grüßen – lässt sich der Gedanke moralisch noch weniger rechtfertigen.

    Mit Hannah Arendt bezieht sich Benhabib angesichts dieser Situation auf das, Zitat, "Recht, Rechte zu haben". Arendt formulierte es angesichts der Flüchtlingsströme in der Mitte des 20. Jahrhunderts, als Staatenlosigkeit und Vertreibung Millionen von Menschen – eine Zeitlang jedenfalls – zu rechtlosen Subjekten machte. Dieses Recht auf Rechte, meint Benhabib mit Arendt, müsse über den "Zufällen der Geburt" stehen.
    Die Frage ist nur: Was folgt daraus? Was haben eigentlich die zu sagen, die den Anklopfenden die Türe öffnen, also die Bürger der Aufnahmestaaten? Benhabib stellt der Zugehörigkeitsgerechtigkeit hier die demokratischen Selbstbestimmungsrechte gegenüber. Die gälten eben auch für Nationalstaaten, und deren Identität steht dem globalen Gleichheitsstreben entgegen. Sie wirft die Frage auf, ob man nicht Bedingungen stellen kann, unter denen man bereit wäre, Fremde dauerhaft ins eigene Land zu lassen. Denn es geht ihnen ja auch darum, die eigene Identität zu bewahren. Aber was ist Identität?

    Benhabib zerpflückt zunächst jene Vorstellungen nationaler Identität, die aus Zeiten der europäischen Romantik herrühren und sich auf jene "Kulturnation" berufen, die einst Herder beschwor. Kulturen wandeln sich, sie existieren nicht außerhalb der Geschichte. Je lebendiger eine Kultur, schreibt Benhabib, desto umstrittener ihre zentralen Elemente. Kulturelle Faktoren dürften demnach kein Hinderungsgrund sein, die Türen zu öffnen. Aber es gibt eben auch eine politische Identität, wie sie sich etwa in der Verfassung und den Rechtstraditionen eines Staates zeigt. Sie gehören zu den vornehmsten Identitätszeichen eines Staates, den sie verleihen ihm erst seine Legitimität. Sie sollte jenseits aller individuellen Vorlieben von allen geachtet und respektiert werden. "Die Trennung zwischen individueller und kollektiver Loyalität, demokratischen Mehrheiten und privaten Bindungen", schreibt Benhabib, "ist eine Voraussetzung bürgerlicher Freiheit."

    So weit, so gut. Die Frage ist nur, ob das so auch all jene sehen, die von draußen anklopfen. Das Problem: Man weiß es meistens nicht. Das kann zu erheblichen Schwierigkeiten führen, wie Benhabib anhand der in Frankreich und Deutschland geführten Kopftuchdebatten zeigt. Dürfen französische Schülerinnen oder eine deutsche Lehrerin Kopftuch tragen? Benhabib argumentiert vorsichtig: Man wisse ja gar nicht, warum die beiden Mädchen, an denen sich der Streit in Frankreich 1989 entzündete, das Tuch aufgesetzt hätten – man habe sie ja gar nicht angehört. Es könne sich durchaus um einen Akt der Emanzipation, des vorsichtigen Hinübergleitens in die Moderne handeln.

    Kann sein. Kann auch nicht sein. Sind also, fragt Benhabib, Zitat, "die Praktiken und Institutionen der französischen Staatsbürgerschaft flexibel genug, um multikulturelle Unterschiede mit dem Ideal republikanischer Gleichheit zu versöhnen? Diese Fragen sind bis heute nicht abschließend beantwortet", Zitat Ende. Der französische Staat wäre allerdings gut beraten, fährt sie fort, sich der Zustimmung der 5 Millionen Muslime zu versichern als die Erfahrungen der revolutionären Tugendrepublik zu wiederholen. Wo aber beginnt das Werben für die eigene Verfassung, und wo schlichte Erpressbarkeit? Das Problem zeigt, wie sehr die kulturellen Traditionen eines Staates sich möglicherweise auf eine Art verändern, die dann auch politisch auf ihn einwirken – man muss ja nicht gleich vom Gottesstaat reden. Erstarkendes religiöses Bewusstsein, hinreichend druckvoll demonstriert und eingefordert, tut es ja auch schon. Im Fall der deutschen Lehrerin entschied das Bundesverfassungsgericht gegen deren Ansinnen, übertrug die endgültige Ausformulierung der künftiger Rechtsprechung aber dem Gesetzgeber. Was folgert man daraus? Das Gericht, kommentiert Benhabib, "konnte sich also nicht zu einer konsequenten Verteidigung des verfassungsmäßigen Pluralismus entschließen." Es kann also zu Konfrontationen zweier unterschiedlicher Auffassungen kommen.

    Es ist nicht einfach mit der Einwanderung und ihren Folgen. Mag sein, dass man die Dinge in Deutschland noch zu pessimistisch sieht, Gefahren für größer hält als sie sind. Mag sein. Mag aber auch nicht sein. Die Zeit wird es klären. Aber was soll man bis dahin tun mit der Einwanderung? Benhabib hält ein grundsätzliches Verbot von Einbürgerungen zwar nicht für statthaft, ebenso wenig den prinzipiellen Ausschluss der in einem Land lebenden Ausländer, da dies gegen die Menschenrechte verstoße. Allerdings hält sie auch nichts von schrankenloser Einreise. Sie befürworte, erklärt sie auf der letzten Seite ihres Buches, nicht offene, sondern bedingt durchlässige Grenzen. Der aufnehmende Staat habe das Recht, zu bestimmen, auf welche Weise er Migranten einbürgern wolle. Soweit waren wir in der öffentlichen Diskussion auch schon. Damals redete – und redet man im Grunde immer noch – vom Verfassungspatriotismus. Wie der sich verwirklichen lässt, ist immer noch nicht geklärt. Der Staat steht vor dem Problem, dass er ein Bekenntnis zur Verfassung verlangen muss, aber nicht weiß, ob er im Zweifel mehr als ein Lippenbekenntnis erhält. Pauschalrezepte gibt es nicht. Sie hat auch Benhabib nicht zu bieten. So bleibt einstweilen nur die Hoffnung, man handle klug, vielleicht sogar weise. Was immer das bedeuten mag.

    Syla Benhabib, "Die Rechte der Anderen".
    Suhrkamp, 225 S., EUR 24,80