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Die Republik im Kleinen

Niemand kannte ihn, bis er völlig überraschend den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt gewann. Seine ersten beiden Romane wurden von Kritik fast wie ein Offenbarung aufgenommen, die Rede ist von Norbert Niemann. Niemann bemüht sich, unsere bundesrepublikanische Wirklichkeit literarisch wach werden zu lassen, und das ist heutzutage bei wenigen deutschen Gegenwartsautoren der Fall. Sein jüngstes Buch "Willkommen neue Träume" ist ein Provinzroman.

Von Enno Stahl | 22.09.2008
    Die deutsche Provinz, was ist das? Immerhin noch die Realität, welche für zirka 60 Prozent der Deutschen verbindlich ist. Denn nur zwei Fünftel unserer Gesamtbevölkerung leben, so erstaunlich das zu sein scheint, in deutschen Großstädten. Dass die Provinz ein eigener Kosmos ist, dass hier nahezu alles bereits im Kleinen auftaucht, was in den ersten Etagen der Gesellschaft eine Rolle spielt: Korruption, Verblendung, falsche Ideale und Illusionen wissen wir längst aus der Literaturgeschichte. Nirgendwo lässt sich so lückenlos ein Panoptikum der Gegenwart zeichnen, wie im Bereich des Regionalen, ja Lokalen. Für Norbert Niemann, einen Autor, der neben seinen Romanen auch in engagierten Essays schonungslos aus der heutigen Gegenwart berichtete, einer durch Medienverflachung und Kulturverlust geprägten Epoche, ist der Provinzroman daher eine passende, ja eine optimale Form. Ist es seine Absicht, ähnlich wie Heinrich Böll, aber auch der Zeitgenosse Ingo Schulze, hier im Kleinsten, gewissermaßen im Wassertropfen die ganze Welt zu bespiegeln?

    "Ja, natürlich. Natürlich ist es eine Absicht des Buches. Wir leben ja in der Globalisierung, mich interessieren natürlich als Autor auch diese Veränderungen, die diese Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten durchgemacht hat, die so schleichend waren. Und für mich war interessant, die Globalisierung so zu zeichnen, dass man nicht ein Gesamtpanorama macht, wie das Fernsehen das zum Beispiel ja ständig macht, sondern eben auf einen mehr oder weniger beliebigen Punkt die Nadel zu setzen und zu gucken, wie sieht denn das konkret aus, wie sieht denn diese veränderte Gesellschaft aus, an einem konkreten sozialen Ort aus."

    Während andere deutsche Autorinnen und Autoren weiter über die Nazi-Vergangenheit schreiben oder gesellschaftsferne Beziehungs- und Liebesproblematiken umkreisen, richtet Niemann in seinem neuen Roman "Willkommen neue Träume" seinen kritischen Blick also auf genau jenen Alltag, den viele von uns einfach so hinnehmen, als könne er anders nicht sein. Diesen literarisch zu behandeln, erscheint jedoch schwierig: Zu unübersichtlich erscheint das Gebiet des Zeitgenössischen, zu viele Aspekte spielen hinein. Niemann aber - dies vorab - ist es ganz wunderbar gelungen, den polyphonen Chor der sozialen Fraktionen, Diskurse und Meinungen, die heute als omnipräsente Geräuschkulisse unsere Weltwahrnehmung untermalen, im fiktiven bayrischen Touristenort Vössen am See zu konzentrieren.

    Zahlreiche Personen treten auf, Lokalpolitiker, der städtische Archivar Wenzel Poßmann, der desillusionierte Fernsehjournalist Asger Weidenfeldt, seine Mutter, eine ehemalige Fassbinder-Diva, die von vergangenem Ruhm zehrt und schließlich ihr Herz für die bedrohten Kormorane entdeckt, das Mädchen Maya, die vom Starruhm in der Mediengesellschaft träumt und diesen Traum sogar wahr macht. Diese Figuren stehen für politisch-soziale Positionen, für die aussterbende "hochkulturelle" Welt, für den "neo-konservativen" Kulturpessimismus alt-linker Oppositioneller, für neo-liberale Wachstumsapologien und die affirmative Gesellschaftsbejahung kommender Generationen. Kurz: das diversifizierte soziale Miteinander von Personen, die verschiedenen Interessenssphären und Klientelgruppen angehören, die Republik im Kleinen.

    So etwas zu erzählen, bedarf komplizierter Mittel: So hat Niemann einen außerordentlichen Stil geschaffen, der all dieses mit einem Korsett versieht, das nirgendwo drückt: die Grundperspektive ist eine nüchtern-auktoriale, der Erzähler kann so über die Welt, ihre historischen und medialen Erscheinungsformen räsonieren, gleichzeitig aber vermag er immer wieder in die individuelle Sicht einzelner Protagonisten zu schlüpfen. Das ist ausgesprochen kunstvoll gemacht, weil es keine Brüche gibt. Der Leser folgt willens der Erzählkamera Niemanns, denn eine solche ist es. Eine Kamera, die Niemanns Figuren beständig umkreist. Wie hat er diese komplexe Perspektive entwickelt:

    "Die Frage war die, wie kriege ich es zustande, diesen breiten Wirklichkeitsstrom darzustellen, der ein großes Personal hat, eine große soziale Ausbreitung, und wie kriege ich dann ein Gerüst, mit dem ich dann diesen breiten Strom erzählen kann. Es ist ja nicht wirklich auktorial, der allwissende Erzähler ist das ja nicht, der Punkt ist ja der, dass der Erzähler permanent springt, er springt ja von dieser Person zur nächsten, also es gibt auch Nebenfiguren, aus deren Perspektive erzählt wird, im Grunde genommen ist es gleichzeitig so, dass es auch der Roman selbst ist, der spricht, also so gesehen ist es kein auktoriales Erzählen wie im 19. Jahrhundert."

    Das klingt schwierig. Fragen wir also nach, wie macht ein Schriftsteller das? Hat er einen Plan entworfen, eine Szenen-Partitur, eine Modell, quasi eine fiktive Panoramabühne?

    "Es ist eine Mischform. Also zunächst einmal war es für mich ganz wichtig, am Anfang des Romans, dass ich gar nichts geplant hatte. Ich hatte diese Idee, diesen breiten Strom zu erzählen, wusste aber nichts über die Figuren und wollte auch mir eben nicht vom Plan her das von vornherein festlegen und dann ausfüllen, also praktisch wie wenn ein Maler Konturen macht, das Gesamtbild, und dann malt er es aus. So war das überhaupt nicht. Sondern ich habe tatsächlich so angefangen, dass ich das Anfangsbild hatte: Also es geht ja los mit diesem Bild vom Bahnhof, und wo dann die Kamera reinfährt oder das Bild reinfährt in den Bahnhof und sich da aus dieser Menge von Leuten einige rauspickt und einer davon stellt sich später heraus als die Hauptfigur. Und der ganze Einleitungsteil ist auch so geschrieben, dass niemals aus der Perspektive der Hauptfigur erzählt wird, sondern immer nur von der Perspektive der völlig beliebigen Figuren außen rum. Und was mich interessiert hat, war tatsächlich, diese Figur aus dieser Außenperspektive auch für mich selber zu entwickeln."

    Niemann spricht hier selbst die Figurenentwicklung an, da wir schon über die Werkstatt plaudern, angesichts von zirka 50 Romangestalten, die sein Buch präsentiert und zwar durchaus lebensecht, fragt man sich schon - wie kommt er zu all diesen Charakteren?

    "Na, zunächst sind einfach so Grundideen da. Eine Grundidee ist zu sagen: Wir haben eine medial scheinbar total vermittelte Welt vor uns. Auf der anderen Seite ist es so, dass wenn man aus dem Fenster guckt und überlegt, wie die Leute unmittelbar um einen herum leben, die man ja nicht mehr mitkriegt, weil alles so anonymisiert ist, dass man merkt, man weiß über die ganze Welt Bescheid, angeblich, aber man sieht aus dem Fenster und erkennt, man lebt in einer Terra incognita. Das ist so eine Grundsituation, eine Ausgangsüberlegung gewesen, dass ich versuchen wollte, diese Wirklichkeit vor Ort einzufangen, von der ich der Meinung bin, dass sie durch die Totalinformation eher verschwindet, als dass sie sichtbar wird."

    Doch diese Terra incognita, diese unbekannte Welt ist nur die eine Quelle, die andere ist die Literatur selber:

    " Man lebt natürlich als Schriftsteller in einer literarischen Tradition, einer literarischen Geschichte, die Anknüpfungspunkt sind in der Literaturgeschichte, das heißt die Figuren schälen sich auch heraus aus dem, was man liest. Beispielsweise eine Figur wie Hans Castorp im Zauberberg von Thomas Mann ist eine Figur, mit der ich mich noch mal beschäftigt habe."

    Am Ende des Buches findet man den obligatorischen Hinweis: "Personen und Handlungen sind frei erfunden ... " Immer dann wird man gerade aufmerksam. Die Figur der alternden Filmdiva Clara Weidenfeldt beispielsweise erinnert in ihrer Art und auch der Beschreibung ihrer künstlerischen Vergangenheit stark an eine Fassbinder-Schauspielerin - war es also nur dichterische Fiktion oder floss also unmittelbare Anschauung in die Figurendarstellung mit ein?

    " Es heißt ja doch auch in dieser Nachschrift, dass Ähnlichkeiten mit lebenden Personen entweder dem Mangel des Autors, dem Mangel an Phantasie geschuldet sind oder den natürlichen Grenzen der Phantasie."

    Worum geht es nun eigentlich? So einfach ist das gar nicht zu sagen, denn - ähnlich wie Niemann es ausgedrückt hat - die Welt selbst scheint zu erzählen. Es ist ein fiktiver Ausschnitt aus der Lokalgeschichte des Ortes Vössen, Umweltschützer und Wirtschaftsliberale ringen miteinander, Menschen treten auf, die sich leiden können oder auch nicht, das ganz normale Leben. Und dieses ist - wie wir seit der gleichnamigen französischen Filmkomödie wissen - "ein langer ruhiger Fluss". Die Personen machen jede für sich individuelle Wandlungen durch, wodurch sie aufeinander zu driften oder auseinander, das ist schon etwas melancholisch, zumal auch der Tod des beliebten Bürgermeisters Franz Stegmüllers zu beklagen ist. Auf dem Wege jedoch zeigt Niemann vielfältige Seiten der deutschen Gegenwart, so wie sie ist. Und womöglich, wenn dieses Buch übrig bleibt, was angesichts seiner Qualität durchaus sein könnte, wird es unseren Nachkommen einmal die deutsche Gegenwartsgesellschaft des beginnenden Jahrtausends erklären können.

    Das ist so, weil es sehr detailliert ist, weil es seine Figuren ernst nimmt und nicht zuletzt weil es sprachlich sehr sorgfältig komponiert ist: Unprätentiös im Ton, greift Niemann zugleich zahllose Sachgebiete und das in der ihnen eigenen Fachsprache. Auch hier kein Bruch, man liest es einfach weg und attestiert dem Autor Kennerschaft, wie kommt das, wie schafft er das, über lokale Politik und Wirtschaft gleichermaßen sprechen zu können wie über Umweltschutzinitiativen, Medienwirklichkeit und das Holzfällen?

    "Ich recherchiere diese Bereiche, in den der Roman spielt, also die Milieus, aus denen die Figuren stammen und so weiter. Es wird also sehr genau recherchiert. Es spielt da zum Beispiel die Kommunalpolitik eine ganz große Rolle in dem Roman, die zerfällt ja wie die restliche Politik auch total ins Fragmentarische und ich hab dann beispielsweise, um die kommunalpolitischen Ereignisse richtig einschätzen zu können, einfach die Lokalnachrichten genauestens studiert und tatsächlich ein Mosaik zusammengestellt. Ich hab das ausgeschnitten über die Jahre hinweg und mir angeguckt, wie sieht das aus, die Gewerbepolitik, wie sieht das aus mit dem Umweltschutz und, und, und. Also alle diese Bereiche, wie funktioniert eigentlich ein Haushalt einer Gemeinde, wo kommt das Geld her, beispielsweise. Und dann ist es natürlich so, dass ja in dem Roman - deswegen heißt er ja auch "Willkommen neue Träume", verschiedene neue Wege, verschiedene Lösungsmöglichkeiten, also wie verorten sich die Menschen, wie richten sie sich in dieser ökonomisierten Welt ein, da gibt's ja verschiedene Modelle konservative, religiöse, kulturelle. Und je nachdem musste ich dann, da wo ich mich nicht so gut auskenne, richtig rackern, arbeiten, Material nutzen, auch Leute treffen, mit denen reden."

    Dieses Rackern, diese Arbeit im Hintergrund merkt man dem Roman an, fast nie hat man den Eindruck, hier sei etwas künstlich wie im deutschen Film oder Fernsehen, nein, alles wirkt authentisch, das mag man mögen oder auch nicht. Wenn aber man's mag, ist Niemanns Roman so mit das Beste, was man in Deutschland heute lesen kann: Informationen aus der Wirklichkeit und wie sie geworden ist.

    Norbert Niemann, Willkommen neue Träume,
    Hanser Verlag, 600 Seiten, Preis: 24,90 Eur