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Die Rolle des Ali

Seit vier Jahrzehnten enthüllt der Journalist und Schriftsteller Günter Wallraff soziale Missstände in Deutschland. 1977 schlich sich Wallraff als "Hans Esser" in die Redaktion der Bild-Zeitung ein und berichtete über die Machenschaften des Blattes. Sein größter Erfolg aber war das Buch "Ganz unten", das am 21. Oktober 1985 erschien.

Von Frank Kempe | 21.10.2010
    Reporter: "Günter Wallraff - ganz unten – sagt Ihnen das was?"
    Frau: "Ja natürlich. Undercover-Journalist"
    Junger Mann: "Da hat sich Wallraff als Türke Ali ausgegeben und ich glaube in den 80er-Jahren bei Thyssen oder irgendwo gearbeitet in Stahlwerken und geschildert, wie er da behandelt wurde. Schlecht natürlich."
    Frau: "Ich weiß, wer Günter Wallraff ist, ich kenne seine Recherchen, die er gemacht hat. Das ging ja durch die Presse."
    Mann: "Diese Maskerade war fantastisch. Mit dem Schnurrbart. Ja, ja genau, kann ich mich dran erinnern."

    "Ganz unten" - erschienen am 21. Oktober 1985 - ist heute noch vielen Menschen ein Begriff, selbst wenn sie das Buch nicht gelesen haben: Günter Wallraff deckt darin die dunklen Seiten des Kapitalismus auf – getarnt als türkischer Leiharbeiter Ali Levent Sinirlioglu.

    Günter Wallraff: "Es waren ein paar kleine Veränderungen erforderlich: ein paar dunkle Kontaktlinsen, die - Spezialanfertigung - so dünn waren, dass man auch dauernd nachts sie tragen konnte, dass sie auch hohen Staubbelastungen standhielten. Eine sehr dunkle exotische Perücke, die besonders fest verknotet und verklebt wurde, dann eine Sprache, die ich ein bisschen trainiert habe, die zwar ganz anders war als Ausländer sprechen, aber man hört Ausländern ja auch nicht zu, dadurch ist es auch nicht aufgefallen."

    Mit einer Zeitungsannonce fängt alles an:

    "Ausländer, kräftig, sucht Arbeit, egal was, auch Schwerst- und Drecksarbeit, auch für wenig Geld. Angebote unter 358458."

    Im März 1983 taucht Wallraff für zweieinhalb Jahre ab - ob bei McDonalds, auf Baustellen, in Versuchslaboren der Pharmaindustrie - oder als Leiharbeiter bei Thyssen in Duisburg - überall erlebt er Ausbeutung, Erniedrigung und Ausländerhass. Bei Thyssen muss er zum Teil in 16-Stunden-Schichten für einen Hungerlohn schuften. Ein Auszug aus dem Buch:

    "Unter der schlimmsten Staubentwicklung müssen wir - ohne Masken - den ineinandergepappten Eisenstaub hochwirbeln. Der Lärm der donnernden Pressluftgeräte dröhnt in den engen Stahlgängen schmerzhaft. So was wie Gehörschutz ist unbekannt. Die Augen brennen, und alle rotzen, husten und röcheln um die Wette. In solchen Situationen, erzählt mir später Mehmet, wünscht man sich, lieber Monate im Gefängnis zu sitzen, als das noch stundenlang ertragen zu müssen."

    Schwer zu ertragen sind auch die täglichen Schikanen der Vorarbeiter, die fremdenfeindlichen Parolen. Zum Chef seiner Verleihfirma baut Ali mit der Zeit so etwas wie ein Vertrauensverhältnis auf - der weiht ihn nach und nach in seine illegalen Geschäftspraktiken ein, seine perfiden Ausbeutungsmethoden. Wie sollte ihm auch ein Türke wie Ali gefährlich werden können?

    "Ich konnte Fragen stellen wie ein Kind. Ich konnte immer fragen, fragen, fragen, fragen. Und bekam die Antworten, die ein Erwachsener - erst recht ein Journalist oder Schriftsteller - nie mehr zu hören bekommt."

    Mit mehr als vier Millionen verkauften Exemplaren wird "Ganz unten" eines der erfolgreichsten Bücher der deutschen Nachkriegsgeschichte. Es macht die Lebens- und Arbeitsbedingungen der sogenannten Gastarbeiter erstmals zu einem heiß diskutierten Thema. Die Politik sieht sich zum Handeln gezwungen.

    Günter Wallraff: "Das Buch hat immerhin in sehr kurzer Zeit an Ort und Stelle Verbesserungen eingeleitet, womit ich - als ich das Buch schrieb - nicht im Entferntesten gerechnet habe. Ich bin also inzwischen in meiner Arbeit sehr ermutigt, dass man mit einem so schwachen Medium wie einem Buch im Zeitalter der visuellen Techniken doch unmittelbar soziale Veränderungen erreichen kann."

    Die Bundesregierung verschärft die Bestimmungen zum Verleih von Arbeitskräften. Staatsanwälte ermitteln gegen die im Buch beschuldigten Firmen. Die wiederum überziehen Wallraff mit Prozessen - das Buch aber darf weiter erscheinen.

    Es wird sogar in mehr als 30 Sprachen übersetzt, auch ins Türkische. Und es erscheint in der DDR: für Wallraffs Kritiker eines von vielen Indizien für seine angebliche Zusammenarbeit mit der Stasi.

    Neben dem Buch entsteht ein Dokumentarfilm, aus heimlich gedrehten Aufnahmen und zahlreichen Interviews.

    Günter Wallraff: "Ich wusste zu jedem Zeitpunkt, für wen ich die Arbeit machte, was ich damit verändern konnte, weiß es jetzt umso mehr und das gibt einem wieder Kraft."

    Nicht zuletzt die Rolle des Ali macht Wallraff zu einem Vorbild für viele junge Journalisten. In Schweden spricht man sogar vom "Wallraffen", wenn jemand Missstände aufdeckt.

    Wallraff selbst zog sich nach "Ganz unten" für längere Zeit zurück. In die Rolle eines Ausländers schlüpfte er erstmals wieder im vergangenen Jahr - da war Wallraff als Schwarzafrikaner Kwami Ogonno in Deutschland unterwegs. Aber an den Erfolg von "Ganz unten" konnte er damit nicht anknüpfen.