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Die Rückkehr des Mittelalters

In Tunesien wurden zwei linke Oppositionspolitiker offenbar mit derselben Waffe von Unbekannten getötet. Viele vermuten radikale Salafisten hinter den Taten - mit Billigung der regierenden Ennahda-Partei. Politisch profitieren ausgerechnet Ex-Funktionären des alten Regimes von der wachsenden Unsicherheit.

Von Marc Thörner | 10.08.2013
    Ob Hohn und Spott oder wütende Beschuldigungen - für viele, die tagtäglich in Tunis demonstrieren, ist er zum neuen Feindbild geworden: Rachid Ghannouchi, der Führer der islamistischen Ennahda. Er und seine mitregierende Partei, so meinen die Demonstranten, sind verantwortlich für die Pistolen-Morde an zwei säkularen Oppositionellen. Doch inzwischen mehren sich auch unter den Gegnern der Islamisten Stimmen, die Analysen mit mehr Tiefenschärfe fordern. Stimmen wie die von Sihem Bensedrine, einer säkular orientierten Journalistin und Leiterin des Infosenders Radio Kalima:

    "Die Mehrheit der politischen Elite und der Zivilgesellschaft versteift sich auf die Ansicht, die Ennahda hinter der Gewalt zu vermuten, aber das ist aus meiner Sicht zu simpel. Ich sage nicht, dass die Ennahda-Leute Engel sind. Aber durch Gewalt gewinnen sie nichts. Was jetzt passiert, destabilisiert das Land und davon haben sie nichts, denn sie besitzen ja im Land die Macht."

    Im Gespräch mit dem Deutschlandfunk weist Rachid Ghannouchi, der Führer der stärksten Regierungspartei, der islamistischen Ennahda, Vorwürfe zurück, mit Gewalt etwas zu tun zu haben. Er verlangt nichts anderes als den Respekt vor der Demokratie. Weder wolle seine Partei ein islamisches System einführen, noch ein Szenario vorbereiten, an dessen Ende eine islamische Republik steht. Nur ein Ziel strebe man an: geordnete Verhältnisse. Eine echte Gewaltenteilung. Ein parlamentarisches System statt präsidialer Autokratie.

    Vorwurf: Ennahda pflegt doppelte Sprache
    Nichts als Sirenengesänge, meint Radhia Nasraoui, eine in Tunesien höchst prominente linke Anwältin, die 2012 den Olof-Palme Preis für Menschenrechte erhielt:

    "Die Ennahda-Leute pflegen seit langem eine doppelte Sprache. Was sie verkünden, wechselt und klingt anders, je nachdem, mit wem sie gerade zu tun haben. Wenn sie sich an Gesprächspartner aus dem Westen wenden, geben sie sich weltoffen. Reden sie zu Salafisten, sagen sie denen, was sie hören wollen. Wenn sie zu Frauen sprechen, versichern sie ihnen, dass sie ihre Rechte nicht antasten werden. Aber eins ist klar: Sobald wir auch nur einen Moment lang aufhören wachsam zu sein, wird die Ennahda ein islamistisches Regime einführen. Samt Scharia-Recht. Mit allem was dazugehört. Allein, dass die Gesellschaft auf dem qui vive ist, hindert sie daran."

    Durch Demokratie zur islamischen Republik. Auch Radiochefin Sihem Bensedrine hält es für wahrscheinlich, dass Ghannouchis Ennahda eine solche Doppelstrategie betreibt.

    Aber gerade damit die Enahda ihr langfristig angelegtes Ziel ungestört erreichen kann, meint sie, könne die Partei eines zu aller letzt gebrauchen: Dass Tunesien in Chaos, Anarchie oder gar Bürgerkrieg abgleitet. Sihem Bensedrine:

    "Ich frage mich ständig, ob die Mordanschläge nicht eher vom alten Regime ausgehen und dessen versteckte Seilschaften könnten die Eskalation heraufbeschwören, Panik unter den Leuten säen. Und man hört ja in den Medien schon Rufe nach einer Rückkehr von Ben Ali. Das spricht für sich. Wenn man überlegt, wer von dieser systematisch organisierten Unsicherheit profitiert, dann sind das eindeutig die Leute des alten Regimes."

    Ex-Funktionäre geben sich geläutert
    Es gibt Hinweise darauf, dass Präsident Ben Alis ehemalige Geheimdienstmitarbeiter heute als Salafisten auftreten. Politisch profitiert tatsächlich eine Partei von der wachsenden Unsicherheit: Nida Tounès, gegründet von Ex-Funktionären des Ben-Ali-Regimes. Sie geben sich geläutert und erklären, statt Helfershelfer der Diktatur nun Demokraten zu sein.

    Nach Meinungsumfragen könnte ihre Gruppierung bei Wahlen auf gut 22 Prozent der Stimmen kommen. Damit wäre sie Tunesiens stärkste politische Macht. Und der Sieger der letzten Wahlen, die Ennahda käme demnach heute nur noch auf 17 Prozent. Steht eine Rückkehr des alten Regimes bevor?

    Wenn es so wäre - es wäre alles andere als eine Garantie für einen Weg in die Moderne, sagt die säkular orientierte Anwältin Radhia Nasraoui: Politischer Mord, was jetzt die Menschen auf die Straße treibt, sei unter dem alten Regime an der Tagesordnung gewesen. Zudem noch: Folter, Tod im Kerker, Kollektivstrafen für Eltern und Kinder von Regimegegnern. Die Islamisten mögen keine Modernisten sein. Aber eine Neuauflage des Ben-Ali-Regimes, so unterstreicht sie, das hieße für Tunesien auf alle Fälle: Mittelalter pur.


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