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Die Rückkehr Gottes ins Bewusstsein

Vieles wäre besser, wenn wir den Glauben an Gott nicht verloren hätten, denn Religion stiftet Moral und gibt Lebenssicherheit. Man kann zum Beispiel die Gentechnologie oder die Abtreibung als Eingriff in die Schöpfung ablehnen, gewinnt Maßstäbe für die ethische Bewertung der Naturwissenschaften und die ästhetische Beurteilung von Kunst, ein starker Glaube nützt sogar der Ökonomie und steigert die Geburtenraten! - So ungefähr lauten die Erwägungen, die der Cicero-Publizist Wolfram Weimer in seinem Essay anstellt, der den programmatischen Titel trägt "Credo. Warum die Rückkehr der Religion gut ist". Die gesellschaftlichen Entwicklungen scheinen auf seiner Seite zu sein:

Ein Beitrag von Jochen Rack | 21.11.2006
    "Wenn wir dieser Tage beobachten, was für eine Masseneuphorie der Papst auslösen kann, was auch schon der Vorgängerpapst ausgelöst hat, dann ist dies ein äußeres Indiz dafür, für die unglaubliche Mobilisierungskraft einer sehr alten Institution. Und dann schauen wir auf Umfragen, die dieser Tage veröffentlicht werden, von der Shell-Studie bis zur europäischen Wertestudie, und die zeigen nun ganz Erstaunliches: Einen sprunghaften Anstieg der Religiosität, des religiösen Bewusstseins, insbesondere bei den Jugendlichen. Nach diesen Umfragen glauben 78 Prozent der deutschen Jugendlichen wieder an Gott. Nur zum Vergleich. Bei den 50jährigen sind es nur 58 Prozent. Und die Zahlen steigen sprunghaft an.

    Das heißt es ist etwas los, es ist etwas in Bewegung gekommen. Und man kann auch statistisch messen, wann das war. Vor ungefähr 10, 15 Jahren hörte der Trend auf, dass man sich abwendete von der Religion, dass Religion etwas Altmodisches hatte. Dass es etwas für den Rückzugsraum im Ländlichen verblieben war. Und auf einmal wendet sich die Gesellschaft, besonders sichtbar in der Jugend, aber auch von der intellektuellen Seite der Religion wieder zu. Es gibt natürlich auch einen politischen Anlass, das ist der 11. September, das ist der Islamismus, das ist der Terrorismus, der uns gewissermaßen Gott in unser Bewusstsein zurückbombt, weile eine andere Kultur sehr aggressiv ihre Religiosität auslebt und unsere Kultur provoziert, fragen wir uns wieder: Wer sind wir eigentlich? Woran glauben wir denn, wenn die so fanatisch an ihren Gott glauben."

    Nun ist es eines, die Wiederkehr religiöser Phänomene zu beobachten, ein anderes, diese zu bewerten. Denn aus Tatsache, dass Menschen wieder religiöse Bedürfnisse artikulieren, folgt noch nicht die Wahrheit des Glaubens, schon gar nicht die sichere Ableitung moralischer Normen, deren Letztbegründung in der nachmetaphysischen Philosophie prinzipiell in Frage gestellt wurde. Doch Wolfram Weimer fragt nicht zuerst nach der Begründungslogik der neuen Religiosität, sondern vor allem nach deren gesellschaftlichem Nutzen:

    "Ich glaube, es gibt drei Aspekte, warum man die Rückkehr der Religion nicht verteufeln sollte und auch keine Angst vor ihr haben sollte. () Drei Aspekte, der erste ist: mit der Rückkehr der Religion kehrt kulturelles Bewusstsein zurück. Kultur ist immer geronnene Religion. Das heißt wenn wir uns den religiösen Themen wieder zuwenden, wenden wir uns selbst wieder zu, dem, was wir kulturell sind, was wir kulturell ausgeprägt haben. Das ist eine positive Entwicklung von der Schulbildung bis zu den Debatten der Hochkultur. Das heißt die kulturelle Selbstvergewisserung steigt auf eine höhere Stufe, wenn wir Religion wieder ernst nehmen.

    Der zweite Aspekt ist der ethische: Wenn wir Religion hereinlassen in den Raum des gesellschaftlichen Diskurses, dann lassen wir immer eine ethische Kategorie herein. Das ist wichtig in Zeiten, in denen die Technik, die Naturwissenschaft und die Marktwirtschaft rast. Dass es ein Moment, eine Kategorie gibt, die in den ethischen Grenzfällen warnt, bremst, sensibilisiert auch für das, was man vielleicht nicht immer tun sollte. Insofern ist es ethisch ein Gewinn. Und ich glaube sogar, drittens, dass es politisch ein Gewinn sein kann, weil religiöse Haltung auch gesellschaftliche Konstitution zivilisieren kann.

    Nehmen Sie den Übergang vom Ostblock, vom Kommunismus in die Demokratie.
    Das wäre ohne die religiöse Selbstverfassung gar nicht möglich gewesen, ohne die Rolle der Kirche, insbesondere der katholischen in Polen, nehmen Sie den Übergang in Südafrika von der Apartheid in die Demokratie. Es hätten ja Nelson Mandela und die seinigen, die jahrelang im Gefängnis saßen und gefoltert wurden, mit jedem Recht nun Rache nehmen können. Sie taten es nicht, weil sie zutiefst geprägt waren von einer christlichen Versöhnungskultur. Da sieht man, es gibt zivilisierende Elemente. Insofern könnte es auch sein, dass man Ende - wir sehen im Augenblick nur die Bomben, die Fanatiker und Fundamentalismen - aber die zivilisierende, die versöhnende, die karitative Kraft von Religion uns politisch noch eine Menge helfen kann."

    Mag sein, dass es hilfreich wäre, wenn wir - wie Weimer schreibt - einen "archimedischen Punkt" religiöser Überzeugungen hätten, der uns verloren gegangene Lebenssicherheiten und moralische Gewissheiten liefern könnte.

    Nur lassen sich zweihundert Jahre Aufklärung mit utilitaristischen Überlegungen nicht einfach rückgängig machen - das weiß Weimer auch: Kants Kritik der reinen Vernunft, die die prinzipielle Unerkennbarkeit Gottes zeigte und unsere Vernunft auf die Erkenntnis der sinnlichen Welt einschränkte, hat er gelesen, und die Religionskritiken von Feuerbach, Marx, Nietzsche und Freud sind ihm nicht unbekannt. Die Moderne hat uns eine nicht hintergehbare Skepsis gegenüber dem Glauben gelehrt: Was, wenn Gott nicht existierte? Was, wenn unsere metaphysischen Hoffnungen bloßer Schein, Illusion, Projektion unserer Bedürftigkeit und Selbstbetrug wären?

    - Weil diese Zweifel unabweisbar sind, können wir mit Kant Gott bestenfalls als "Postulat" der praktischen Vernunft gelten lassen. Das läuft auf einen Glauben als ob, einen Glaube unter ironischen Anführungszeichen, eine hypothetische Religion hinaus - mehr kann eine liberal-aufgeklärte Kultur nicht liefern.

    "Ich plädiere für eine aufgeklärte religiöse Haltung und glaube, dass Europa dazu der beste Bote ist, gerade weil wir in Europa die traumatischen Erfahrungen von Fundamentalismus schon hinter uns haben. Weil wir das Mittelalter hatten, weil wir die Reformationskriege hatten, und wissen, was religiöse Verblendung auch für Unheil anrichten kann. Sind wir eigentlich am besten in der Lage, mit einem kultivierten, aufgeklärten, aber eben doch religiös grundierten Verhalten, diese Entwicklung, die sich da anbahnt, diesen Megatrend gewissermaßen ein Stück weit zu domestizieren, oder um es metaphorisch zu sagen: das wilde Pferd der neoreligiösen Strömungen zu zähmen. Das heißt konkret, dass wir - wir haben ja zwei Alternativen, auf diese neoreligiösen Bewegungen einzugehen - die eine ist, wir werden selber fundamentalistisch und antworten auf die eruptiven Phänomene und fundamentalistischen Phänomene mit eigenen Fundamentalismus. Also wenn die Islamisten sich radikal religiös aufladen, dann sollte das die evangelikale Seite genauso tun. Davor hätte ich große Sorge. Ich glaube, dass ein aufgeklärtes neoreligöses Bewusstsein darin besteht, dass wir gesprächsfähig werden. M.E sind weite Teile der westlichen Gesellschaft und insbesondere in Deutschland und Westeuropa religiös analphabetisch geworden, das heißt wir wissen so wenig noch von unseren religiösen Traditionen, dass wir die Sprache gar nicht mehr sprechen und dass wir das, was wir als Dialog der Kulturen anmahnen und wollen, gar nicht mehr führen können, weil wir dialogunfähig geworden sind. Um einen anderen, der religiös fanatisch ist oder auch nur religiös bewusst, zu verstehen und mit ihm in einen Dialog der Kulturen zu treten, muss man ja selber erst einmal die Sprachinstrumente und die kognitiven Instrumente des Religiösen annehmen. Das heißt wir müssen uns religiös ein Stück weit alphabetisieren, und in dem Bewusstsein natürlich auch der Errungenschaften der Aufklärung und eines toleranten und emanzipierten Gesellschaftsbegriffs religiös dialogfähig werden."

    Das klingt vernünftig, aber eine rein pragmatisch-liberale Anerkennung der neuen religiösen Bedürfnisse ist Weimer dann doch nicht genug. Sich an den katholischen Philosophen Robert Spaemann anschließend, der noch heute einen Gottesbeweis für möglich hält, vertritt er die Ansicht, dass sich in der aktuellen Lage nicht mehr die Gläubigen für ihren Glauben zu rechtfertigen hätten, sondern umgekehrt die Ungläubigen für ihren Unglauben. Auch philosophisch sei der Glaube heute neu begründungsfähig:

    "Ich bin der Meinung, auch wenn Sie es rein nationalkulturell betrachten, dass wir auch die philosophische Kategorie des Theologischen oder der Gottheit zurückbekommen. Es ist nicht so, dass wir sagen, na ja, intellektuell kann man darüber nicht reden. Gott ist nicht existent, und die Debatte ist abgeschlossen, und die Gesellschaft kommt aus ganz anderen Gründen wieder zum Papsthappening zurück. Nein, wir haben die gleiche Debatte auch im philosophischen Raum, und da sehen wir ja den Umschlag gleichsam wie in einer Relativitätstheorie in der Erkenntnisfrage, dass die Dinge eben nicht abgeschlossen sind. Wir sind im Grunde genommen im Kantschen Moment wieder angelangt. Wir sagen, wir erkennen Grenzen der Erkenntnis. Wir sagen, bis dahin können wir die Welt erklären, über Gott können wir nichts sagen. Aber durch die schiere Akzeptanz dieser Grenze sagen wir, es muss ja wohl etwas dahinter geben, sonst gäbe es keine Grenze.

    Und im Moment passiert ja in den modernen Naturwissenschaften die stärkste Religionsdebatte. Je weiter sie hineingehen in die Atomphysik, in die Quantenmechanik, auch in die Genforschung, desto lauter werden ja die religiösen Debatten - dort ist es vor allem ein pantheistischer Zug - um die Frage: Ist nicht am Ende zur Welterklärung ein göttliches Moment nötig, weil sie sonst gar nicht begreifbar ist. Also, das was im 20. Jahrhundert mit der Relativitätstheorie begann, hat inzwischen die Philosophie erreicht, und hat dort zu einer großen Debatte geführt, die durchaus, - nehmen Sie Philosophen wie Spaemann - die die Gottesfrage vollkommen in die Mitte der Erkenntnistheorie zurückgeführt haben. Und das ist ein spannender Prozess."

    Glaube sei heute die rationalere Welteinstellung als Unglaube: Das geht über die von Weimer behauptete aufgeklärte Toleranz in Religionsdingen denn doch hinaus. Seine philosophische Begründung stützt sich auf folgende Überlegung: Auch im alltäglichen Leben in der modernen Gesellschaft benötigten wir Glauben: "Ich muss", schreibt Weimer, "dem Supermarkt glauben, dass die Lebensmittel nicht vergiftet sind, ich muss dem Autobauer vertrauen, dass die Bremse wirklich bremst." - Auch die Naturwissenschaften, zum Beispiel Astro- und Quantenphysik, kämen ohne Glauben nicht mehr aus, wenn sie ihre Ergebnisse interpretieren wollten. - Indem er Glauben mit dem gleichsetzt, was in der Soziologie "Systemvertrauen" heißt (ich muss in der Tat darauf vertrauen, dass die Bremse bremst) und die Hypothesenabhängigkeit der Naturwissenschaft als quasi-religiös interpretiert, verwischt Weimer eine prinzipielle terminologische Differenz: Physiker mögen mit Hypothesen und Metaphern arbeiten, um zu deuten, was sie beobachten, aber das ist etwas fundamental anderes als der Glaube an ein waltendes Prinzip hinter den Erscheinungsdingen. Moderne Forschung muss prinzipiell offen sein für die Revision und Falsifizierbarkeit ihrer Aussagen, während der Gläubige gerade nicht dazu bereit wäre, Gott als bloße Hypothese gelten zu lassen, die er jederzeit aufzugeben bereit wäre.

    Weimers Begründung für die Rationalität des Glaubens überzeigt nicht, aber sie demonstriert das Grundproblem seines Essays: Vom richtig diagnostizierten Phänomen der Wiederkehr religiösen Interesses schließt er umstandslos auf die Legitimation der neoreligiösen Strömungen.

    Bleibt die Frage, weshalb der Autor die Religion so unbedingt rehabilitieren möchte. Was gefällt Weimer nicht an der Gegenwart? Neben der genannten ethischen Desorientierung ist es vor allem der wiederholt gegeißelte "aggressive Materialismus" und ein entfesselter Kapitalismus im Zeitalter der Globalisierung, die damit verbundene Naturzerstörung und die demographische Krise, kurz, die Kinderlosigkeit. Der von Weimer befürwortete religiöse Widerstand gegen diese Tendenzen läuft auf die Propagierung kirchlicher Schulen, neuer Werte und einer konservativen Pädagogik hinaus; dazu gehört das Festhalten am Sonntagsladenschluss und die Abkehr von der Laizität des Staates. Dazu gehört auch eine Abkehr von "albernen Kunsthappenings" hin zu einer wieder erbaulichen Kunst mit "Neu-Erzählungen der ältesten Legenden, Dramen, Mythen und Heilsgeschichten unserer Kultur." - Das Programm eines strammen Konservativismus.

    "Ich habe mich nie dagegen gewehrt, ein Konservativer genannt zu werden. () Es ist immer die Frage, was will man konservieren, und da gibt es bestimmte Dinge, die letzter Zeit wieder stärker betrachtet werden. Die Kraftfelder des Konservativen: Die Familie, die Heimat. Die Nation. Die Religion. Das sind alles Kategorien, mit denen ich etwas anfangen kann und deren Revitalisierung ich begrüße. Insofern bin ich ein bekennender Konservativer."

    Man muss Weimers einseitiges Bild der vom Relativismus und Atheismus heimgesuchten westlichen Welt nicht überzeugend finden: Gleichgültigkeit gegenüber Werten ist nicht die logische Konsequenz der Postmoderne. In der relativistisch selbstbeschränkten Vernunft steckt auch die Idee der Anerkennung des Fremden und Anderen, die Bedingung von Pluralismus und Multikulturalismus, die Idee der Toleranz, der persönlichen Freiheit und Dialogfähigkeit. - Zumindest kann man Weimer nicht vorwerfen, er wäre uneindeutig. Sein Essay endet mit der Formel: "Credo, ergo sum." - Ich glaube, also bin ich. - Ein auf den Kopf gestellter Kartesianismus und ein Rückfall hinter die Aufklärung, der Weimer sich doch angeblich verpflichtet fühlt. Ein durch und durch widersprüchliches Buch.