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Die russische Datscha (5/5)
Ein Freiraum, um Großes zu schaffen

Berühmte Künstler und Intellektuelle erhielten in der Sowjetunion oft eine Datscha als Belohnung - auch der Revolutionär und Dichter Wladimir Majakowski. Das Original-Haus ist abgebrannt. Aber den von Majakowski erschaffenen Ort der geistigen Freiheit gibt es immer noch.

Von Gesine Dornblüth | 02.08.2019
Die nach einem Brand wiederaufgebaute Datscha von Wladimir Majakowski, davor ein Standbild des Dichters und Revolutionärs
Die nach einem Brand wiederaufgebaute Datscha von Wladimir Majakowski, davor ein Standbild des Dichters und Revolutionärs (Deutschlandradio / Gesine Dornblüth)
Ein Datschengrundstück am Rand von Puschkino. Im Park hinter dem Holzhaus mit geschnitzten Fensterrahmen sitzen Menschen auf Baumstümpfen vor einer Bühne. Ein Mädchen tritt ans Mikrophon.
Wladimir Majakowskij, der berühmte russische Revolutionär und Dichter, verbrachte in den 20er Jahren die Sommer auf dieser Datscha. Heute werden hier die Gewinner eines Jugendlyrikpreises ausgezeichnet. Das Mädchen am Mikrophon trägt eine "Ode an die Frau" vor. Eine andere Preisträgerin bejubelt Familie, Gott und Russland. In den Pausen tritt ein Volkstanzensemble auf.
"Hier kann ich nachdenken. Hier treffe ich Entscheidungen"
Natalja Chwatowa schiebt ihren Kinderwagen durch das Gartentor. Chwatowa ist Designerin, hat vier Kinder und ein Ehrenamt. Sie kümmert sich um sozial schwache Familien in Puschkino, organisiert Wohltätigkeitskonzerte, sammelt Spenden. Chwatowa kommt aber auch gern hierher:
"An der Majakowskij-Datscha mag ich, dass ich hier die Seele baumeln lassen und über das Leben nachdenken kann. Über die Zukunft. Über die Kinder. Hier treffe ich Entscheidungen."
Natalja vor der wiederaufgebauten Datscha des Dichters und Revolutionärs Wladimir Majakowski
Natalja vor der wiederaufgebauten Datscha des Dichters und Revolutionärs Wladimir Majakowski (Deutschlandradio / Gesine Dornblüth)
Die Datscha ist der einzige Ort, an dem sich die Anwohner in diesem Teil der Stadt treffen können, erzählt Chwatowa. Denn die Gegend ist heruntergekommen. Eine Eisenbahnlinie teilt die ehemalige Industriestadt. Die Verwaltungsgebäude, das Einkaufszentrum, Restaurants, Parks, das Krankenhaus liegen jenseits der Bahn. Diesseits verwahrlosen die Straßen, stapelt sich Müll. Das Kino ist eine Ruine, Grünflächen wuchern zu.
"Sie sehen es selbst, hier auf der Datscha ist es immer sauber und aufgeräumt. Alles kommt von Herzen. Majakowskij hat aus diesem Ort Energie und Ruhe geschöpft. Er war ein schroffer Mensch, aber er strebte nach Wahrheit. Ich glaube, sein Geist hat sich hier auf dieser Datscha bis heute gehalten."
Die Original-Datscha brannte in den 90er-Jahren ab
Und jeder kann mitgestalten. Natalja Chwatowa hat kürzlich mit Freunden ein Kunstobjekt aufgestellt, einen drei Meter hohen Leuchtturm aus Sperrholz, auf russisch "Majak". Das war Majakowskijs Spitzname. Mit Schülern hat sie Blumen gepflanzt.
Dieser Beitrag gehört zur Reportagereihe "Russische Datscha - Ein paar Quadratmeter Glück".
Die Preisverleihung geht zu Ende. In der Datscha ist ein kleines Buffet aufgebaut. Das Holzhaus ist lichtdurchflutet, ein einziger großer Raum, innen ganz in Weiß gehalten. Es ist ein Neubau. Die Datscha, in der Wladimir Majakowskij die Sommer verbrachte, ist in den 90er Jahren abgebrannt. Immerhin ist die Einrichtung antik: ein Eichentisch, ein Grammophon, ein Billardtisch, eine schwere Schreibmaschine.
"Die Datscha war der Ort, um Großes zu schaffen"
Ein schmächtiger Mann kommt herein, stülpt Plastiküberzieher über seine Schuhe. Er trägt das Haar lang und hat einen kurzen Bart. Andrej Dudarew ist Priester in der Krankenhauskirche von Puschkino. Er hat Majakowskijs Datscha vor einigen Jahren mit Freunden wieder aufgebaut. Sie haben den Bau aus eigener Tasche finanziert und das Gebäude anschließend der Stadt übergeben.
"Ich bin in Puschkino geboren und aufgewachsen. Ich erinnere mich noch an die Datscha vor dem Brand, hier war eine Bibliothek untergebracht. Die Datscha Majakowskijs ist vielleicht das Wichtigste, das die Stadt Puschkino zu bieten hat."
"Majakowskis Credo war, Autoritäten zu stürzen", sagt der Priester Andrej Dudarew. Wegen seiner unbequemen Art hat seine Kirche ihn versetzt.
"Majakowskis Credo war, Autoritäten zu stürzen", sagt der Priester Andrej Dudarew. Wegen seiner unbequemen Art hat seine Kirche ihn versetzt. (Deutschlandradio / Gesine Dornblüth)
Denn Kultur gibt es kaum. Er setzt sich an den Tisch. An den Wänden hängen alte Fotos. Sie zeigen den Dichter und seine Zeitgenossen.
"Das Datschenleben hat sich, besonders im Moskauer Umland, immer dadurch ausgezeichnet, dass der Mensch auf der Datscha mehr gearbeitet hat als an seinem Arbeitsplatz. Ein Arbeitsplatz belastet den Menschen mit einer Funktion, mit formalen Verpflichtungen; hier aber konnten sich die Leute ganz formlos treffen, bei einer Tasse Tee oder einem Glas Wein oder beim Schaschlik, und sie konnten sich ihrer Sache widmen. Die Datscha war der Ort für kluge Entscheidungen, der Ort, um Großes zu schaffen. Das ging auch an der künstlerischen Elite nicht vorbei. Hier, auf der Datscha Majakowskijs, waren manchmal bis zu 40 Leute gleichzeitig. Sie redeten und arbeiteten, ganz zwanglos."
"Wer sich auf Autoritäten stützt, hört auf selbständig zu denken"
Dudarjew will diese Tradition fortführen.
"Wir laden alle hier her ein, die die menschliche Persönlichkeit und die menschlichen Freiheiten fördern wollen. Das war auch Majakowskijs Credo: Autoritäten zu stürzen. Er glaubte, Autoritäten hindern die Persönlichkeit daran, sich zu entwicklen. Wenn sich der Mensch auf Autoritäten stützt, hört er auf, selbständig zu denken."
Mit seiner Haltung eckt Dudarjew an. Die russisch-orthodoxe Kirche predigt Gehorsam. Sie hat ihn degradiert und auf die Stelle im Krankenhaus strafversetzt. Dudarjew lässt sich davon nicht einschüchtern. Bis heute bestimmt er, was auf der Datscha stattfindet.
"Ich denke, die Datscha ist zumindest in Russland ein Symbol des Lebens: Ein Ort, an dem man sich ohne formale Zwänge der Sache widmen kann."