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"Die schamlosen Mädchen"
Keine freien Frauen, keine freien Männer

Drei junge, muslimische Feministinnen aus Norwegen kämpfen gegen negative soziale Kontrolle in Gesellschaft, Religionsgemeinschaften und der Familie. Sie wollen alle ansprechen, vor allem aber Frauen unterstützen, sich dem Patriarchat entgegenzustellen und ihr Leben in die Hand zu nehmen.

Sofia Srour und Nancy Herz im Gespräch mit Ute Wegmann | 13.07.2019
Die drei Autorinnen und ihr Werk "Schamlos"
Drei junge Muslima fordern Selbstbestimmung ein (Buchcover Gabriel Verlag / Autorenportrait (c) Maria Gossé )
Ute Wegmann: Im Mittelpunkt dieser Sendung stehen zwei junge Frauen aus Norwegen, Nancy Herz und Sofia Nesrine Srour, die zusammen mit Amina Bile ein sehr besonderes Buch verfasst haben. Der Titel "Schamlos". An wen sich das Sachbuch wendet, schreiben die jungen Frauen im Vorwort.
Das Vorwort des Buches "Schamlos". Ich begrüße im Studio in Köln ganz herzlich Nancy und Sofia, die zusammen mit Amina eine Bewegung ins Leben gerufen haben: "Die schamlosen Mädchen".
Wer sind die drei jungen Frauen? Sie sind alle drei Anfang 20, Muslima, Bloggerinnen und Feministinnen. Sie sind alle drei in Norwegen geboren. Sofia und Nancy haben libanesische Wurzeln, Amina bezeichnet sich als Somalierin. Wie und wann hat die Bewegung "Die schamlosen Mädchen" begonnen und was macht Ihr dort?
"Unsere Zeit ist jetzt"
Sofia Srour: Die Bewegung wird von vielen Leuten als "Die Bewegung der schamlosen Mädchen" bezeichnet. Es begann 2016, als wir für Zeitschriften über die negative soziale Kontrolle schrieben, und über Gesellschaften, die auf Ehre- und Schambegriffen basieren. Nancy und ich hatten uns schon kurz vorher kennengelernt, weil wir die gleichen Interessen hatten, uns für Menschenrechte engagierten - und waren Freundinnen. Aber es war trotzdem Zufall, dass wir das zusammen angefangen haben. Ich hatte schon einen Blog, auf Facebook und all das. Und Nancy arbeitete mit Amnesty, und das fand ich alles interessant. Als Nancy den ersten Zeitungsartikel verfasste, schrieb sie: 'Wir sind die schamlosen arabischen Mädchen und unsere Zeit ist JETZT.' Und das wiederum hat mich angespornt, weiterzuschreiben. Und ich schrieb über das "Einwerfen der Glashäuser" - wir werden sicher später noch darüber sprechen. Aber im Grunde ging es um die Befreiung von Gesellschaftsstrukturen, die dich als Frau einschränken. Und dann schrieb Amina ihren Artikel und plötzlich waren wir schon zu dritt. Und innerhalb kürzester Zeit waren wir sehr viele. Auf einmal gab es so viele Artikel von jungen Mädchen aus ganz Norwegen, mit Namen oder anonym, die ihre Erfahrungen aufschrieben. So fing es an und seitdem geht es so weiter. Ich weiß gar nicht, ob man von einer Bewegung sprechen kann, die ständig wächst, sondern es ist eher ein Prozess. Einige identifizieren sich mit dem Wort "schamlos", andere engagieren sich mehr für die Sache an sich. Es ist eine 'fließende Bewegung'. Und wir sind viele.
"Da ist etwas Interessantes, das man diskutieren sollte"
Nancy Herz: Ich erinnere mich daran, das war so schön am Anfang, als du geschrieben hast, und Amina hat etwas geschrieben, und wir haben nicht einen Moment daran gedacht, dass das so eine große Sache werden könnte, oder dass ein Buch erscheinen könnte. Und zur gleichen Zeit merkten wir: Das ist nicht nur ein Thema, das Mädchen betrifft, sondern ebenso Jungs und alle, die sich auch nicht identifizieren können. Deshalb schrieben wir im Buch über unseren Prolog: "Dear You, Dear All". Es geht um alle, nicht nur um Mädchen, die so aussehen wie wir. Das ist leider in der Übersetzung verloren gegangen. Was ich auch sehr interessant fand.
Wegmann: Nun habt Ihr beide gesagt, Ihr schreibt, die Sache hat mit Artikeln für die Zeitung begonnen, ist das nun ein Blog oder schreibt ihr noch für Zeitschriften?
Srour: Ich hab als Journalistin gearbeitet, hatte dadurch eine größere Öffentlichkeit. Jetzt schreib ich nur noch für mich, aber ich weiß, dass ich veröffentlichen könnte, wenn ich wollte.
Herz: Bei mir ist es ähnlich. Ich habe gebloggt, als ich jünger war. Aber als ich anfing, mich für Menschenrechte zu engagieren, 2011, habe ich gemerkt, dass es auch möglich ist, für Zeitschriften zu schreiben, und so schrieb ich für die örtliche Zeitschrift bis zu dem Zeitpunkt, als der Schamlos-Artikel in der nationalen Presse erschien. Und dann fragte mich Aftenposten, ob ich etwas für sie machen würde. Und jetzt schreibe ich, wenn mir was einfällt, wenn ich etwas mitteilen möchte, oder wenn ich denke, da ist etwas Interessantes, das man diskutieren sollte. Also, es ist ein sehr kleines bisschen Blogging übriggeblieben, aber glücklicherweise viel Schreiben und Stimme erheben und durch das Land reisen.
Srour: Ich blogge gar nicht mehr.
"Wir sind die schamlosen arabischen Mädchen"
Wegmann: Was bedeutet für Euch 'schamlos'?
Herz: Ich habe das Wort 2016 zum ersten Mal in meinem Artikel "Wir sind die schamlosen arabischen Mädchen und unsere Zeit ist jetzt" benutzt. Was ich beabsichtigte: Schamlos ist eins der Wörter, die du als arabische oder somalische oder iranische Frau ständig hörst, wenn du den Normen nicht folgst, wenn du anders bist, wenn du nicht versuchst, es allen recht zu machen. So zu sein, wie ich bin, das ist schamlos. Also wollte ich dem Wort eine neue Bedeutung geben, eine positive. Wie auch immer, wir benutzen es auch ironisch. Wir möchten nicht beschämt sein für das, was wir sind. Wir denken, die wahren Schamlosen sind die Beschämenden selbst.
Srour: Wir sollten nicht beschämt sein, wenn andere uns verletzen. Darum geht es, wenn wir den Begriff ironisch verwenden. Wir wollen keine Scham fühlen, sondern die Unterdrücker sollten es.
Die beste Muslima der Welt
Wegmann: Ihr schreibt alle drei in dem Buch über eure Entwicklung, vielmehr über die Entwicklung eurer Scham zu bestimmten Zeiten.
Zur Scham gehörte aber auch das Gefühl, anders zu sein.
Bei dir, Nancy, hat das in der Pubertät zu einer Hinwendung zur Religion geführt. Und du schreibst, du wurdest zur "Moralwächterin", wolltest die "Beste im Anderssein" sein. Der extreme Weg war für dich einfacher als einen Mittelweg zu suchen. Konkret bedeutete das: Hidschab mit 15 Jahren.
Herz: Ja, genau, meine Eltern haben mir das Kopftuch aber nicht erlaubt, weil sie merkten, dass irgendwas mit mir los war, weil ihre Tochter, die sich vorher nie um irgendwas gekümmert hat, plötzlich superreligiös wurde. Für mich war die Flucht in die Religion nur ein Ausdruck des "Nichtdazugehörens", immer Außenseiterin sein, besonders in der weiterführenden Schule. Und ich kam nicht dahinter, wie ich dazugehören könnte. Und anstatt mich irgendwie anzupassen, beschloss ich, die beste Muslima der Welt zu werden. Es war einfacher, etwas Alleinstehendes zu werden anstatt alle anderen Teile zusammenzubringen. Es war einfacher, eine gute Muslima zu sein anstatt eine Araberin, Muslima, Frau und Norwegerin und alle diese Identitäten zu vereinen.
Heute würde ich gern jungen Menschen sagen: Wir sind nicht entweder das oder das - wir haben viele verschiedene Identitäten zur gleichen Zeit. Und wir haben ein Recht dazu - das ist das Wichtigste. Und ich wünschte mir, dass jemand mir das erklärt hätte, als ich jünger war, dass ich nicht wählen musste, wer ich sein möchte. Leider glaub ich, dass es heute nicht besser geworden ist, denn durch die sozialen Medien siehst du die Unterschiede noch deutlicher. Heute hat man auf der einen Seite Rechtsextremismus, der ständig wächst, auf der anderen Seite Islamismus mit Anschlägen. Und mit all diesen -ismen versuchen wir herauszufinden, wer wir sind und wie wir als Gesellschaft zu sein haben. Ich glaube, das Beste was wir tun können, ist uns hinzustellen und das Recht einzufordern, alles gleichzeitig zu sein.
"Ich kann ein Kopftuch tragen UND norwegisch sein"
Wegmann: Du, Sofia, hast dich zum ersten Mal anders gefühlt, als es um den Schwimmunterricht ging - mit neun Jahren - und hast mit elf Jahren begonnen, den Hidschab zu tragen. Das führte zu vielen Mobbing-Situationen, dennoch wolltest du dich mit dem Hidschab verhüllen. Viele Jahre. Bis du anfingst, dich für Gleichberechtigung und Feminismus zu interessieren und schließlich mit 21 Jahren den Hidschab ablegtest. Aber die Scham bleibt in vielen Situationen dennoch, schreibst Du.
Srour: Mein Prozess, die zu werden, die ich heute bin, ist wirklich sehr komplex, weil ich viel erlebt habe in meinem Leben. Als ich jung war, hab ich mich immer als Außenseiterin gefühlt. Überall. In meiner eigenen Familie. In meinem Umfeld. In meinem Heimatland Libanon. Und natürlich in der norwegischen Gesellschaft, in der Schule, mit Freunden... Ich war immer die Außenseiterin. Ich war nicht norwegisch genug, ich war nicht arabisch genug, ich war nicht muslimisch genug, ich war nicht westlich genug, und alles das. Und alle Seiten erzählen mir: Du bist nicht genug! Außerdem wurde ich oft gemobbt. Die Sache mit dem Hidschab, das war eine freie Entscheidung. Aber ziemlich schnell hab' ich gemerkt, dass ich ihn nicht tragen will. Es hatte keinen religiösen, keinen traditionellen, keinen kulturellen Grund. Ich wollte es einfach nur ausprobieren. Aber durch das ganze Mobbing wurde es zu einer Art Protest. Je mehr man mich beleidigte, umso mehr wollte ich es tragen. Ich wollte die Beleidiger befriedigen, falls du weißt, was ich meine. Außerdem wollte ich den Leuten zeigen: Ja, ich kann ein Kopftuch tragen und norwegisch sein. Aber für mich war es, wie mit einer Lüge leben, weil ich es eigentlich nicht wollte. Ich machte mir Gedanken, was Leute sagen würden, wenn ich das Kopftuch jetzt wieder auszöge. Wäre ich noch länger akzeptiert in meiner Gemeinschaft? Und dann brachte eine Freundin mir ein feministisches Handbuch. Dieses Buch erzählte mir einiges über meinen Körper, den ich vorher wie etwas betrachtete, mit dem ich nichts zu tun habe. Ich war total passiv, als ich ein Mädchen war, versteckte ihn unter Kleidung. Durch das Buch begann ich, mich selber zu mögen und zu verstehen, dass nicht ich diejenige bin, mit der etwas nicht stimmt, sondern die Gesellschaft. Und automatisch änderten sich meine Gedanken auch bezüglich des Kopftuchs. Langsam aber sicher kam ich zu dem Entschluss, es auszuziehen. Ich hätte es viel früher tun sollen, anstatt immer auf die anderen zu schauen, was sie denken könnten. Aber es hat seine Zeit gedauert, und ich wollte mich nicht schämen dafür. Ich fühlte mich ja auch nach all den Jahren fest verbunden damit, ich hab es elf Jahre getragen. Aber als ich es auszog, war das gar nicht merkwürdig, sondern ich fühlte mich richtig. Das war für mich ein Schlüsselerlebnis. Habe ich mich all die Jahre selber an etwas gebunden und dabei war es so einfach meinen eigenen Weg zu finden? Meine Eltern unterstützten mich, sie kümmerten sich nicht um das Gerede der anderen. Einige sagten natürlich: Jetzt hat sie das Kopftuch ausgezogen. Was kommt als nächstes? Ihre Hosen? Und geht sie dann auf Partys? Meine Eltern kümmerten sich nicht darum, also kümmerte ich mich auch nicht. Die Unterstützung machte es um vieles einfacher. Das ist nur eine kurze Zusammenfassung. Ich wusste dadurch, dass ich mich nicht schämen musste, und dass ich aufhören musste, mich zu verletzen, nur weil andere mich verletzten. Ja, es war ein langer Prozess.
"Wir wollen die Freiheit der Wahl"
Wegmann: Nun habt ihr beide erzählt, ihr habt den Hidschab freiwillig angezogen und freiwillig wieder abgelegt. Was mich nun interessiert: Wie war das bei euren Mütter? Haben sie Hidschab getragen?
Srour: Meine Mutter trug Hidschab, aber der Punkt für mich ist: Jede Frau ist frei, ihre Sexualität und ihren Körper zu definieren. Wenn eine Frau das Kopftuch tragen möchte, dann soll sie das tun. Aber sie sollte die Freiheit besitzen, es auszuziehen, wenn sie es nicht mehr will. Wir sollten nicht durch irgendwelche kulturellen oder gesellschaftlichen Strukturen eingeschränkt werden. Wir müssen es selbst bestimmen können. Wir schreiben auch darüber, dass wir schamfrei sein möchten, wenn wir es tragen und schamfrei, wenn wir es ablegen. Wir wollen die Freiheit der Wahl - ohne Konsequenzen. Ich weiß, dass es Frauen gibt, die fürchterliche Sanktionen ertragen mussten, als sie das Kopftuch ablegten, geschlagen wurden, in die Heimatländer zurückgeschickt wurden. Ich fühle mich privilegiert, weil ich soviel Unterstützung durch meine Familie habe.
Herz: Ich stimme Sofia absolut zu. Meine Mutter hat nie Kopftuch getragen, aber meine Eltern haben verstanden, dass es nicht meine wahre Entscheidung war, sondern dass ich es machte, um etwas darzustellen, jemand anders zu sein vielleicht. Aber sie machten sich auch große Sorgen, weil es zu der Zeit der Angriffe in Oslo war, 2011, wenn ich mich nicht irre. Sie hatten Angst, dass ich mit Rassismus und Belästigung konfrontiert werde, weil ich mich so öffentlich zeige vor Leuten, die solche Menschen wie mich verletzten wollten. Das ist so traurig, niemand sollte Angst haben, sich frei zu entscheiden, was er trägt und niemand sollte Angst vor Angriffen und Beschimpfungen haben.
"Wir bekämpfen Strukturen - und nicht Menschen"
Wegmann: Freiheit ist ein wichtiges Stichwort. Amina, geht anders mit diesen Dingen um. Amina ist eine schwarze junge Frau, hat sich mit neun Jahren für das Kopftuch entschieden, sich über ihre Scham geschämt. Und erst als mit 13 Jahren der Druck der muslimischen Gesellschaft bezüglich Kleiderordnungen und Regelungen stieg, hat sie begonnen, sich aufzulehnen. Sie trägt weiterhin das Kopftuch wie eine Art Turban und ärgert sich immer noch über ihre Selbstzweifel und Unsicherheit.
Scham ist ja etwas Tiefverwurzeltes, wenn es um Körperlichkeit geht. In dem Begriff Scham, wie Sie beide ihn verwenden, geht es doch vor allem um Regeln und tradierte Werte, die nicht nachvollziehbar sind für junge Mädchen von heute. Zum Beispiel, dass man in der Öffentlichkeit keine Banane essen darf oder sich nicht zu weit nach vorne beugen soll, wenn man eine Bluse trägt. Oder, oder oder...
Herz: Ich glaube, es ist wichtig, Scham zu definieren. Weil Scham ist eins von vielen Gefühlen in uns, und wir brauchen dieses Gefühl auch, denn es reguliert jetzt hier, dass wir warten, bis wir sprechen können, dass wir Kleidung tragen und uns vernünftig benehmen. Wir brauchen diese positive Scham wie alle anderen Gefühle. Aber die negative Scham schränkt unser Leben ein, gibt uns das Gefühl, keinen Platz zu haben oder sich minderwertig zu fühlen. Und gegen diese Scham kämpfen wir. Die Beispiele, die Sie gebracht haben, sind nur ein paar wenige, mit denen Frauen und Mädchen eingeschränkt werden. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass aufgrund der patriarchalischen Systeme Frauen und Mädchen in allen Kulturen eingeschränkt waren, und man ihnen gesagt hat, wie sie sich zu benehmen haben. Das betrifft nicht nur die nicht-westlichen Länder. Auch im Westen haben wir Verhaltensregeln wie Mädchen sich anziehen sollen, wie sie sich anständig hinsetzen sollen. Das ist alles nichts Neues und betrifft in irgendeiner Form alle. Es hängt mit dem Patriarchat zusammen. Und das bekämpfen wir. Wir bekämpfen Strukturen und nicht Menschen. Und dann möchte ich noch hinzufügen: Gegen die Scham kämpfen, bedeutet vor allem, darüber zu sprechen. Und jeder sollte dagegen kämpfen. Es ist unser Recht, frei zu sein. Auch Jungs und Männer sind Opfer des Systems. Auch ihnen wird erzählt, wie sie wahre Männer werden, wie sie Machos werden, dass sie nicht weinen dürfen - das nennen wir "toxische Männlichkeit". Und das betrifft auch die westlichen Gemeinschaften.
"Gesellschaften, die auf dem Begriff der Ehre basieren"
Srour: Ich stimme dem zu. Scham ist ein universelles Gefühl, und wenn wir über das Patriarchat sprechen, das ist ebenfalls universell. Wir sehen, wie sich das System in verschiedenen Ländern darstellt. Wir haben das Buch nicht geschrieben, um nur generell über Scham zu sprechen, sondern es geht schon um die Gemeinschaften und Gesellschaften, die auf dem Begriff der Ehre basieren. Um den Kontext geht es. Hier kommt mein Glashaus-Beispiel: Auch in freien Gesellschaften sind nicht alle frei. Es gibt Menschen, die leben in einem Glashaus und können nach draußen schauen, wie andere ein freies Leben leben. Aber drinnen herrschen andere Regeln und Normen. Dieses Glashaus kann eine Gesellschaft sein, eine Familie, eine Gemeinschaft. In einem solchen Glashaus verlierst du die Freiheit der Wahl, manchmal sogar die Freiheit, irgendwohin zu gehen. Wenn du die Regeln verletzt, bringst du Scham über deine Familie, verletzt die Ehre. Das sind spezielle Themen bestimmter Gemeinschaften, aber diese negative soziale Kontrolle findet man auch in anderen Bereichen. Es ist selbstverständlicher, als wir uns das vorstellen können.
Wegmann: Zum Aufbau des Buches: Es gibt in eurem Buch eine Doppelseite Pro und Contra Hidschab. Einige Beispiele. Pro: Teil einer Gemeinschaft sein, der Schönheitsindustrie den Mittelfinger zeigen. Contra: unerwünschte Aufmerksamkeit in der westlichen Gesellschaft, keiner setzt sich neben dich, schöne Ohrringe kommen nicht zur Geltung, zu heiß. Das Buch beinhaltet einzelne Aufsätze von jeder der drei Autorinnen, aufgezeichnete Gespräche, Geschichten, die euch Frauen erzählt haben. Außerdem eure "Schamkurven", Fotos, Briefe an euch selbst, die ihr der jüngeren Nancy, Sofia und Amina geschrieben habt, Beschimpfungen oder Handlungsanweisungen aus der Gesellschaft der Muslime, die teilweise absurd sind. Wie konntet ihr das alles so frei aufschreiben und leben?
Herz: Als wir das Buch geschrieben haben, mussten wir uns für Themen entscheiden und einige werden kontroverser diskutiert als andere und sind risikoreicher. Wir mussten immer sehr genau darüber nachdenken, wie viel von unserem Privatleben wollen wir hineinbringen. Wir mussten die Liebe und den Respekt unserer Familie gegenüber mit dem Recht, über unser Leben zu erzählen, ausbalancieren. Zum Glück waren unsere Familien unterstützend, auch wenn in meinem Fall meine Eltern nicht mit allem was ich sage, einverstanden sind. Sie akzeptieren es. Ich bin eine erwachsene Frau und lebe in einer anderen Stadt, sie können mich auch nicht für den Rest des Lebens kontrollieren. Das ist mein wichtigster Ratschlag für junge Leute: Zieht aus! Werdet unabhängig! Meine Beziehung zu meinen Eltern ist jetzt besser denn je. Ich besuche sie, weil ich sie liebe, nicht weil ich sie für etwas brauche.
Andere "dazu ermutigen, sie selbst zu sein"
Wegmann: Die Bewegung soll andere Mädchen unterstützen, ihnen Mut machen, was habt ihr selber gelernt?
Srour: Zuallererst habe ich gelernt, dass junge Menschen heute mehr verstehen, als man denkt. Ich sehe das in den Schulen und ich sehe, wie motiviert sie sind. Ich lernte auch eine Menge über mich, persönlich. Aber vor allem weiß ich, dass es gut war, das Buch zu schreiben. Jedes Mal, wenn mir ein Mädchen erzählt, es hätte sein Leben verändert, mein Buch zu lesen, dann ist das gut, auch wenn es manchmal schlimm ist, so in der Öffentlichkeit zu stehen. Du bist ja auch mit viel Hass von Leuten konfrontiert, die das nicht gut finden, was du machst. Und so hart wie es manchmal ist, ist es auch bereichernd, wenn du siehst, wie es junge Menschen berührt. Auch wenn ich nicht in dem Sinn Vorbild sein möchte, möchte ich doch andere dazu ermutigen, sie selbst zu sein.
Wir wollen mit dem Buch ja nicht anderen sagen: Das ist der einzige Weg, wie man leben kann. Sondern wir möchten anderen sagen, dass es viele Wege gibt. Und sie haben die Wahl.
Gleiche Rechte, gleiche Werte – für alle
Wegmann: Was bedeutet für euch, Feministin zu sein?
Herz: Wir mich bedeutet das, dass jeder gleiche Rechte und gleiche Werte hat. Ich kämpfe für einen feministischen Standpunkt, einen antirassistischen und einen intersexuellen.
Srour: Ja, zur Kenntnis zu nehmen, dass Menschen verschiedene Lebensweisen haben. Auch wenn du selber keinen Rassismus erlebt hast, siehst du es bei anderen.
Wegmann: Es wurde vorher schon von euch angesprochen, dass es natürlich auch um die Männer geht, in einer Passage im Buch ist die Rede von "schamlosen Jungs". Wie wichtig sind die Jungs?
Herz: Ohne Zusammenarbeit werden wir nicht weiterkommen. Es ist entscheidend, dass Männer und Jungs und alle anderen Geschlechter den Kampf unterstützen, dass sie ebenfalls zu Feministen werden. Wir dürfen ja nicht vergessen, dass das Patriarchat uns alle angreift.
Srour: Außerdem: Keine freien Frauen, keine freien Männer!
Wegmann: Heute zu Gast im Büchermarkt die muslimischen, norwegischen, feministischen Bloggerinnen Nancy Herz und Sofia Srour mit dem Sachbuch "Schamlos".
Es geht ja einerseits um die negative soziale Kontrolle von Seite der Familien und der muslimischen Gesellschaft. Sich aus Traditionen und festgefügten Mustern zu lösen. Aber ihr seid ja auch mit Rassismus konfrontiert. Wie erlebt ihr den Alltag?
Srour: Wie ich schon sagte, ich bin viel gemobbt worden. Und Rassismus durchzieht auch wie ein roter Faden unser Buch. Wir glauben, wenn wir nicht über Rassismus sprechen, erreichen wir nicht alle Leute. Rassismus ist ein echtes Thema. Ich weiß, dass ich mit Hidschab und meinem dunklem Teint noch mehr damit konfrontiert würde.
"So wichtig, sich zu respektieren, um Strukturen zu ändern"
Herz: Rassismus ist gegenwärtig und manchmal löscht er Leben aus. Wie Sofia schon sagte, mit Kopftuch oder als Transgender-Mensch würden wir es noch anders erleben, noch intensiver. Darum ist es so wichtig, sich zu respektieren, zusammenzuarbeiten, um die Strukturen zu ändern, die Rassismus und Einschränkungen unseres Lebens zulassen.
Wegmann: Es geht um Freiheit und um Gleichheit und es gibt Gespräche, die ihr aufgezeichnet habt zwischen euch, ganz zum Schluss, da geht es um die Zukunft, was sich jede einzelne von euch wünscht. Amina möchte das Patriachat aufbrechen. Möchte Gleichheit. Jede persönliche Wahrheit zählt. Nancy: Grundlegender Kampf für Menschenrechte. Der Mensch sein, der man sein möchte. Sofia: Die Frauenbewegung öffnen für Männer. Frauen können Selbst-Versorger sein.
Im Mittelpunkt von allem steht vor allem Freiheit. Mit diesem letzten Gespräch spätestens richtet sich das Buch an alle Frauen, egal welcher Religion, welcher Nationalität, welchen Alters. Denn es geht um Gleichberechtigung, um den Wert und die Ehre des Einzelnen vielmehr der Einzelnen. Wie wird eure berufliche Zukunft aussehen?
Herz: Ich reise viel wegen des Buches, aber ich arbeite auch bei einer NGO. Außerdem studiere ich Soziologie und schreibe an meinem nächsten Buch.
Srour: Ich bin keine große Zukunftsplanerin. Ich hab meine Ziele, aber es ändert sich auch. Zurzeit studiere ich Jura. Ich bin nicht der Typ für einen Bürojob, vielleicht ändert sich das später. Ich möchte auf jeden Fall weiterschreiben und auf internationaler Ebene zum Thema Menschenrechte im Mittleren Osten arbeiten. Das ist mein Ziel.
Amina Bile, Nancy Herz, Sofia Nesrine Srour: "Schamlos"
Aus dem Norwegischen von Maike Dörries.
Gabriel Verlag (Stuttgart), 167 Seiten, 15 Euro, ab 10 Jahre