Freitag, 19. April 2024

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Die Schildkröten

Im zweiten Teil seiner 1980 erschienenen Autobiographie, "Die Fackel im Ohr', zeichnete der Schriftsteller und Nobelpreisträger Elias Canetti ein hinreißendes Charakterbild seiner 1963 in London verstorbenen Frau Veza, geborene Taubner-Calderon: "Eine wunderschöne Person mit einem spanischen Gesicht. Sie sah sehr fremd aus, eine Kostbarkeit, ein Wesen, wie man es nie in Wien, wohl aber auf einer persischen Miniatur erwartet hätte." Daß dieses Wesen auch schrieb, verschwieg der Gatte dezent. Elias Canetti, der, nach eigenen Angaben, seine Frau zeitlebens zum Schreiben ermutigte, und sie in seiner Autobiographie als "Dienerin der Liebe" rühmte, zeigt eine eigenartige Gespaltenheit in Bezug auf die sieben Jahre ältere Partnerin, die sich ebenso wie er selbst Anfang der dreißiger Jahre dem Schreiben zuwandte: "Um der hitzigen abgründigen Gespräche willen, die wir führten, nahm sie die schlechten Gedichte ernst, die ich ihr während einiger Jahre brachte. Sie wußte es besser und nahm sie doch ernst, so sicher war sie, daß anderes nachkommen würde. Als es dann kam, erschrak sie, denn es drohte uns zu zerstören: sie, mich selbst, unsere Liebe, unsere Hoffnung. Um sich nicht aufzugeben, begann sie selber zu schreiben, und um die Geste des großen Vorhabens, die ich brauchte, nicht zu gefährden, behandelte sie ihr Eigenes, als wäre es nichts."

Erdmute Klein | 19.03.1999
    Das Eigene behandeln, als wäre es nichts - das war nicht immer so gewesen. Als Venetiana Taubner-Calderon am 17. April 1924 dem achtzehnjährigen Elias Canetti in einer der berühmten Vorlesungen des Kritikers Karl Kraus zum erstenmal begegnete, traf er auf eine ebenso gebildete wie selbstbewußte Frau. Am 21.11.1897 in eine alte sephardische Familie hineingeboren, entdeckte sie früh ihre Leidenschaft für die Literatur. Ihr Hauptinteresse galt den Großen der englischen, französischen, russischen und deutschen Literatur. Als Schriftstellerin wählte sie die Pseudonyme Veza Magd, Veronika Knecht beziehungsweise Martha Murner. Sie schrieb für den Malik-Verlag, für die Neuen Deutschen Blätter sowie für die renommierte Wiener 'Arbeiter-Zeitung', das Forum der literarischen Avantgarde. Auch Joseph Roth, Isaak Babel und Maxim Gorki fanden hier erstmals eine breite Leserschaft. Ab 1934 blieben ihre Beiträge ungedeckt. "Bei dem latenten Antisemitismus kann man von einer Jüdin nicht soviele Geschichten und Romane bringen", bedauerte Kulturredakteur Otto König, der ihr Talent schätzte. Erst sechzig Jahre später bekommt die Schriftstellerin Veza Canetti dank der Intervention des Göttinger Germanisten Helmut Göbel ihre Chance. 1990 erscheint ihr Roman "Die gelbe Straße", 1992 wird ihr Theaterstück "Der Oger" in Zürich uraufgeführt, im selben Jahr der Erzählband "Geduld bringt Rosen" veröffentlicht. Die Kritik reagierte enthusiastisch, stellt Veza Canetti auf eine Stufe mit der Fleißer, Horváth bewundert die "beiläufige, böse Eleganz" ihrer Geschichten, die das Leben der einfachen Bürger Wiens, der Zeitungsverkäufer, Putzfrauen und kleinen Angestellten parabelhaft schildern. Veza Canetti schreibt eine eigenwillige, zwischen Expressionismus und Realismus changierende Prosa, in der das Grauenhafte, das Groteske unmittelbar neben dem Schönen siedelt.

    Und nun also der lange erwartete Roman: "Die Schildkröten", vom Verlag als Veza Canettis "literarisches Hauptwerk" und "Gegenstück zur Blendung" angekündigt. Veza schrieb ihn Anfang 1939 im Londoner Exil; sie verarbeitete darin die traumatischen Monate, die dem 19.11.1938 vorausgingen, dem Tag, als sie zusammen mit Elias Canetti buchstäblich in letzter Minute aus dem von den Nationalsozialisten besetzten Österreich entkam. Es ist Sommer. Rosenzeit. Blühende Gärten in einem Wiener Weindorf unter dem Kahlenberg. Eine Frau mittleren Alters kehrt in die Villa am Hang zurück. "Du mußt das Land verlassen, Kain", sagt sie zu ihrem Mann, der ruhig in der Stube sitzt und liest. Hakenkreuzfahnen wehen von allen Balkonen, und die Braunhemden sind dabei, sich in den Häusern der Umgebung einzurichten. Eva und Andreas Kain sind Juden. "Es schlagen jeden Tag neue Gesetze auf uns nieder", sagt Eva, die bei jedem Klingeln an der Tür weiß im Gesicht wird. Ihr Mann erzählt, der Holzschnitzer im Dorf brenne Hunderten lebender Schildkröten das Symbol des Hakenkreuzes in die Panzer und verkaufe sie "zum Andenken an die fröhlichste Stadt Zentraleuropas". Veza Canetti erzählt vom Einzug des SA-Manns Baldur Pilz, der aussieht wie der personifizierte Tod, den die Lust am Töten dazu treibt, einem aus dem Nest gefallenen Spatzen den Hals umzudrehen, unter dem Vorwand, er sei krank, nicht wert zu leben, ein "Krüppel', ein "Parasit", Pilz, der sich ausbreitet wie Schimmel im gesamten Haus, während Eva und Andreas Kain auf das rettende Visum warten, das die Ausreise nach England ermöglicht. Ein tollkühner Plan wird ausgeheckt von Hilde, der hübschen Bankierstochter aus dem Nachbarhaus. Mit einem Flugzeug will sie die Freunde retten. SA-Mann Pilz soll es ihr beschaffen. Der Plan mißlingt: "Sie werden hinausgedrängt, vor der Zeit. Sie werden enteignet und mit Gewalt. Sie müssen ziehen, noch ehe sie reisen können." Sie erleben die Reichskristallnacht und wie Menschen blutig geschlagen, verhaftet und in Viehwagen geschoben werden. Sie erleben, wie Andreas' Bruder von der SS abgeholt wird, wie die greise Nachbarin im Nebenhaus Möbel abstaubt, die längst abtransportiert sind: "Sie stand in dem weiten dunklen Zimmer und wischte in der Luft mit einem Tuch herum, obwohl das große Zimmer gänzlich leer stand." Wie Schildkröten harren sie aus, klug, geduldig, in ihrer Würde ungebrochen, das Kainsmal tragend, der Heimat für immer beraubt. Veza Canettis Roman handelt von der Bitterkeit des Abschiednehmens. Er ist ein Dokument der Menschlichkeit beziehungsweise des Verlusts der Menschlichkeit. Er ist souverän erzählt und versetzt den Leser unmittelbar in das Wien der Vorkriegszeit, als es noch den Ehrentitel "Die fröhlichste Stadt Zentraleuropas" trug.