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Die Schöne aus Dr. Caligaris Kabinett

Lil Dagover hat in Meisterwerken der Kinogeschichte gespielt und Erfolge am Theater gefeiert. Aber bewundert wurde sie für Schönheit und Jugendlichkeit. Tatsächlich ist es ihr gelungen, zehn Lebensjahre wegzumogeln und damit auch in Großaufnahme durchzukommen.

Von Ulrike Rückert | 30.09.2012
    "Es klingt wie ein gut erfundenes Märchen. Ich lebte damals in einer kleinen Stadt und machte meine Besorgungen als brave Hausfrau, und da ging ein Herr immer hinter mir her. Und ich drehte mich ziemlich indigniert um und darauf sagte er: Gnädige Frau, verzeihen Sie, aber ich möchte eine Frage an Sie stellen: Möchten Sie zum Film?"

    Das ist ein gut erfundenes Märchen. Lil Dagovers größte Rolle war: Lil Dagover. Sie nahm nicht nur einen Künstlernamen an, sondern machte sich auch zehn Jahre jünger. Tatsächlich geboren wurde sie am 30. September 1887 als Martha Seubert auf Java, und als sie angeblich auf der Straße entdeckt wurde, lagen schon dreizehn Jahre Theaterarbeit und drei Stummfilme hinter ihr. 1919 spielte sie Hauptrollen in zwei Filmen eines Regie-Anfängers: Fritz Lang. Exotische Schauplätze waren in Hagenbecks Tierpark in Hamburg nachgebaut.

    "Ich musste mit einer Schlange spielen, mit einer großen Pythonschlange, und hatte ein Kostüm an – heute würde man es vielleicht so eine Art Bikini nennen. Und ich hatte auf einer Treppe zu liegen, ohnmächtig, mit dem Kopf nach unten, und eine Schlange hatte über meinen Körper zu kriechen."

    Der große Durchbruch kam 1920 mit "Das Cabinet des Dr. Caligari" von Robert Wiene, der den Expressionismus auf die Kinoleinwand brachte. Die düstere Geschichte von Wahn und Mord in einer surrealen Kulissenwelt ist eines der berühmtesten Werke der Filmgeschichte. Es machte Lil Dagover zum Star. Danach spielte sie Hauptrollen in Fritz Langs "Der müde Tod" und in Friedrich Wilhelm Murnaus "Phantom" und "Tartüff", aber auch in Abenteuerfilmen und Melodramen. Der Filmruhm brachte ihr große Theaterrollen, Max Reinhardt engagierte sie für die Salzburger Festspiele. Kritiker allerdings schätzten sie gering, Herbert Ihering urteilte harsch:

    "Lil Dagover ist die süße Talentlosigkeit."

    Und Alfred Kerr schrieb in einer Theaterkritik nichts weiter als:

    "Sie sieht aus! Sie sieht aus! Sie sieht aus!"

    Ihre Schönheit war Lil Dagovers Karrierekapital, als verführerische Exotin, fragile Unschuld und dann Grande Dame, elegant und makellos.

    "Diese vielen Monarchinnen und Fürstinnen hat mich natürlich ein bisschen eingeengt. Die Stärke einer Schauspielerin ist, ihre Gefühle zu zeigen, und die Stärke einer Aristokratin ist, sie zu verbergen."

    Sie war Madame Pompadour und Kaiserin Eugènie, Jelaina in der "Kreutzersonate" und Mrs. Erlynne in der Oscar-Wilde-Verfilmung "Lady Windermeres Fächer".

    "Gott sei Dank, dass ich noch rechtzeitig komme. Sie müssen sofort zurück, nach Hause! Jetzt ist keine Sekunde zu verlieren, Darlington muss jeden Augenblick kommen."
    "Sie wollen mir Vorschriften machen?"
    "Ich will Sie doch nur retten!"
    "Wovor?"
    " Vor dem was Sie erwartet."
    "Sagen Sie meinem Mann, dass Ihre Mission vergeblich war."

    Im Dritten Reich gehörte sie zu den Stars, mit deren Glamour sich die Nazigrößen schmückten und die dafür mit Rollen und Privilegien verwöhnt wurden. Und Lil Dagover schloss fest die Augen.

    "Eine Kollegin fragte mich: Was meinst du, soll ich wegfahren oder … Ich sag’: Ich glaube nein. Du siehst diese Sachen alle viel zu schwarz, viel zu schlimm."

    Sie wurde als Hitlers Tischdame zu Banketten geladen, aber später behauptete sie, noch 1937 habe sie Heinrich Himmler überhaupt nicht gekannt.

    "Ich habe Shakespeare gespielt, ich habe auch, sagen wir, harmlose Konversationsstücke gespielt. Da wurde uns eigentlich nicht viel in den Weg gelegt."

    Aber auch Unterhaltung war im Dritten Reich nicht "harmlos", sondern wohlkalkulierte Ablenkung. Und unter den 23 Filmen, die Lil Dagover in dieser Zeit drehte, waren Propagandastücke wie "Fridericus", "Bismarck" und "Wien 1910". In den letzten Kriegsjahren meldete sie sich zur Truppenbetreuung, trat in Russland dicht hinter der Front auf und bekam dafür das Kriegsverdienstkreuz. In den fünfziger Jahren spielte sie in Heimatfilmen und Literaturadaptionen, später war sie als "Die seltsame Gräfin" in einem Edgar-Wallace-Film und in Fernsehspielen zu sehen.

    "Was bleibt heute in Deutschland für eine reife Frau? Im besten Fall eine gütige Freundin, eine Tante und so, und das reizt mich nicht."

    Ihre letzte Glanzrolle auf der Bühne war "Die Irre von Chaillot" von Jean Giraudoux. Noch wenige Monate vor ihrem Tod am 23. Januar 1980 stand sie vor der Kamera. Rund siebzig Jahre umfasste ihre Karriere als Schauspielerin, vom Stummfilm bis zum "Tatort".