Dienstag, 19. März 2024

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Die Schriftstellerin Ulrike Draesner
Erinnerungen aus dem kollektiven Gedächtnis

Ein früher Gedichtband von Ulrike Draesner heißt "gedächtnisschleifen": Die Literatin schreibt dicht an eigenen Erinnerungen aus dem Krieg und an der Familienhistorie entlang. Sprache selbst versteht sie "als eine große Schatzkiste, in der sehr viel menschliches Wissen abgespeichert ist", sagte sie im Dlf.

Ulrike Draesner im Gespräch mit Karin Fischer | 18.07.2018
    Die Schriftstellerin und Lyrikerin Ulrike Draesner im Porträt vor rotem Hintergrund, eine Aufnahme von der Leipziger Buchmesse 2011
    Die Schriftstellerin und Lyrikerin Ulrike Draesner (imago / Gerhard Leber)
    Karin Fischer: Der Schriftsteller Christian Kracht hat gerade selbst dafür gesorgt, dass man seine Romane autobiografisch durchforstet und nach einem traumatischen Erlebnis oder einer Chiffre von "Missbrauch" sucht: Während seiner Frankfurter Poetikvorlesung hat er davon erzählt. Auch ohne Trauma: Erinnerungen spielen im Schreiben immer eine Rolle, und entsprechend häufig wird darüber spekuliert, oder werden Autorinnen und Autoren in Interviews gefragt, wie viel von Ihnen selbst denn im Buch stecke, oder in dieser oder jener Erzählerfigur.
    In unserer Reihe "Erinnern und Vergessen" fragen wir heute, wie die Erinnerung das Schreiben prägt, oder auch, wie Erinnerung im Schreiben sublimiert, also aufgehoben werden kann, sodass sie vielleicht nicht mehr so schmerzt. Die Schriftstellerin und Lyrikerin Ulrike Draesner hat schon 1995 einen Gedichtband "gedächtnisschleifen" genannt; und im Roman "Sieben Sprünge vom Rand der Welt" geht es mittelbar um ihren Vater, der aus Schlesien vertrieben wurde. Vor der Sendung habe ich Ulrike Draesner so schwer wie einfach gefragt: Wie kommt die Erinnerung in die Literatur bei Ihnen?
    Ulrike Draesner: Viel zu stark - so war zumindest mein Empfinden 1995. Der Gedichtband, den Sie eben erwähnt haben, mein erstes Buch, beginnt mit Gedichten aus dem Nachkrieg, also mit Erinnerungen, die ich gar nicht selbst haben konnte. Da sitzen Flüchtlingskinder im Stroh und das ist etwas Unheimliches für mich noch immer. Ich habe es damals auch so erlebt, nämlich Erinnerungen im eigenen Leben, im eigenen Kopf, die nicht aus der eigenen Lebensgeschichte stammen, sondern aus der Familiengeschichte, also aus dem kollektiven Gedächtnis. Und dieses Phänomen hat mich eigentlich umgetrieben bis zu den "Sieben Sprüngen vom Rand der Welt". Wie viel Schmerz man damit tilgen kann, das möchte ich stark in Zweifel ziehen, aber man kann einiges herausfinden.
    Bestimmte Bilder im Kopf
    Fischer: Heute ist uns dieses Phänomen ja sehr viel deutlicher und auch klarer geworden, unter anderem über die Neurowissenschaften und deren Erkenntnisse, dass Erinnerungen nicht so authentisch sind, wie wir meinen, dass sie sein sollten.
    Draesner: Ja, und ich glaube, das ist das genuine Spielfeld der Literatur, die für mich in Bezug auf Erinnerung zwei Funktionen hat. Zum einen, was Sie eben erwähnten: Es werden gewisse Sachverhalte oder Lebensgeschichten erinnert, tatsächlich aufgeschrieben, es wird vielleicht auch einer Person ein Denkmal oder ein Antidenkmal gesetzt auf dieser inhaltlichen Ebene. Aber ich finde eigentlich immer spannender und interessanter den Bereich, in dem Literatur darstellt, wie es zur Erinnerung kommt, wie Erinnerungen von verschiedenen Menschen, die ein und dasselbe Ereignis erlebt haben, sich widersprechen, wie Wahrnehmung, Subjektivität, der Wunsch, etwas möge geschehen sein, in die eigenen Erinnerungsmomente einfließen und wie auch Grenzen verfließen. Viele von uns kennen dieses Phänomen: Man hat bestimmte Bilder im Kopf aus der eigenen Kindheit, die mit Fotos festgehalten sind und illustriert, und bei manchen Dingen weiß man nicht mehr, ob man sich eigentlich nur an das Foto erinnert, oder an die eigene Erinnerung, also an das Erlebnis.
    Fischer: Auf dieses Beispiel wollte ich gerade zu sprechen kommen, denn Ihr erster Roman hieß "Lichtpause", und Kritiker meinten, damals feststellen zu können, dass die präzisen Alltagsbeschreibungen darin wie von Fotos abgepaust sein könnten - wenn auch in sehr experimenteller Sprache. Wie ist das mit dem Erinnerungs-Handwerk und dem Schreiben? Funktioniert das so?
    Draesner: Zum Teil. Gerade auch, wenn man, wie jetzt in den "Sieben Sprüngen", mit Erinnerungen umgeht, die nicht die eigenen sind, dann über Medien, über Schriftzeugnisse, über Fotografien die Erinnerungen von anderen, einer polnischen Familie in dem Roman rekonstruiert, Erinnerungen erfindet. Das ist das eine.
    Sprache ermöglicht multiperspektivisches Erinnern
    Zum anderen aber: Die Neurologen sagen uns, dass unsere eigenen Erinnerungen ganz merkwürdige kleine fiktive Gebilde sind in unserem Gehirn, weil die Vorstellung, dass wir das alles in einer Schublade ablagern und dann ziehen wir die Schublade auf und gucken uns unsere schönen Juwelen, Erinnerungen an, die stimmt eben nicht, sondern mit jedem Erinnern wird die Erinnerung quasi neu geschrieben, physiologisch, und auch der Akt des Erinnerns wird dazu geschrieben. Das heißt, dass wir lebendige Wesen sind, bedeutet auch, dass unsere Erinnerungen sich tatsächlich verändern, und dazu verändert sich noch, wie wir sie miteinander verknüpfen und welche Geschichte wir uns erzählen. Das kann Fiktion ganz wunderbar zeigen, diese Prozesse, ich erzähle mir einen bestimmten Lebenszusammenhang, andere erzählen ihn sich anders, und da, glaube ich, setzt dann auch das Handwerk eigentlich aus und etwas anderes greift beim Schreiben. Das ist Empathie und Fantasie und der Umgang mit Sprache.
    Fischer: Bevor wir dazu kommen, würde ich gerne noch eine kleine Sekunde bei dem Roman "Sieben Sprünge vom Rand der Welt" bleiben. Ihr sogenannter Vater in diesem Buch, oder der Vater in diesem Buch, Eustachius Grolmann, ist Affenforscher, seine Tochter auch. Aber Sie, Ulrike Draesner, wollten darin ja wohl auch von Schuldgefühlen sprechen, von Anpassungsdruck, von Angst. Da geht es um Kriegstraumata.
    Draesner: Ja, das wollte ich, weil es da um die Frage auch geht, wie wir als menschliche Wesen organisiert sind, wozu wir Erinnerungen überhaupt brauchen und Projektion und Empathie, weil wir uns selbst darüber bestimmen und an eine Grenze stoßen. Die Grenze in diesem Roman ist das Trauma oder traumatisierende Vorgänge, wo Erinnerung tatsächlich aussetzt oder zumindest nicht willentlich aufgerufen werden kann, sondern andere Prozesse greifen, Menschen von sogenannten Erinnerungen überspült werden, die aber nicht als Erinnerungen erlebt werden, sondern als Gegenwart in dem Augenblick. Und auch hier noch mal ein literarisches Arbeiten entlang einer Grenze, die auch die Sprache betrifft. Solche Dinge können ja normalerweise nicht einfach artikuliert werden, und dieser Roman, die 500 Seiten sind immer wieder Versuche, an diese Grenze heranzutreten, sie fühlbar zu machen und etwas aus dem nichtsprachlichen Bereich hinüberzuziehen in die literarische Sprache und darüber auch zugänglich zu machen für Leser oder Familien mit vielleicht ähnlichen Erfahrungen.
    Das verschüttete Gedächtnis der Sprache
    Fischer: Sie sind als Dichterin, die mit Lyrik angefangen hat, als Sprachkünstlerin und musikalische Wort-Verdreherin ja auch immer zum Symbolischen, Phantastischen oder Surrealen hin unterwegs. Das Umbauen, das Umdichten von Worten, auch wie jetzt zum Beispiel das vom Englischen ins Deutsche, ist ja nachgerade ihre Profession. Wie steht es im Lichte dessen noch um das, was Erinnerungen irgendwann mal ausgezeichnet hat, nämlich Echtheit oder Authentizität?
    Draesner: Ich muss mich natürlich wehren gegen die Wort-Verdreherin. Ich weiß, was Sie meinen, und was ich tue, ist eigentlich Worte befragen und abklopfen auf ihre verschiedenen Schichten von Bedeutung. Dazu gehört auch etwas wie die historische Schicht. Zum Beispiel das schöne Wort "sehr", "ich mag Dich sehr" als Verstärkung kommt eigentlich von dem mittelhochdeutschen Verb Sehren, und das heißt Verletzen. Das ist ein Exzess, eine Überschreitung, vielleicht auch ein Aufrauen der Haut, und das sind, wenn Sie möchten, Fragen der Echtheit oder Wahrheit, verstanden als Spuren von historischen Prozessen. Ich verstehe Sprache als eine große Schatzkiste, in der sehr viel menschliches Wissen abgespeichert ist, auch in den ganzen Redewendungen, die wir haben. Und gerade in der Poesie, das ist ein Medium, um dieses oft vergessene oder unter dem Alltagsbrauch verschüttete Gedächtnis ins Bewusstsein zu heben.
    Vergessen oder veröffentlichen
    Fischer: Eine Schatzkiste im direkten oder übertragenen Sinn ist ja auch das viele Material, das Sie bei Ihren Recherchen auftun und das dann aber wiederum im Zuge des Sichtbarmachens weggelassen werden muss, wenn Literatur daraus werden soll. Fällt dieses Sortieren, dieses auch Weglassen müssen eigentlich leichter, wenn man älter wird?
    Draesner: Das ist eine schöne Frage. Es wäre schön. Ich wünsche mir das für den nächsten Roman. Ich habe am Anfang gestaunt, wie viel ich recherchiere und was ich dann eigentlich suche. Ich brauche ein Detail über zum Beispiel, wie hat man in Wroclaw im Sommer _45 Wasser bekommen, und da sucht man dann vier Wochen in historischen Quellen, weil die alles Mögliche behandeln, aber nicht diese Frage. All das, was ich in diesen vier Wochen lese, brauche ich nicht, nehme es aber natürlich irgendwie auf. Manchmal denkt man, ja toll, jetzt könnte ich gleich noch ein Sachbuch dazu schreiben. Bei den "sieben Sprüngen" habe ich mir dann ein bisschen geholfen; da gibt es ja eine Website zu dem Roman, die gehört auch wirklich zu dem Roman. Die zeigt den Pullover von links. Wenn der Roman der Pullover von rechts ist, dann ist die Website das Strickmuster. Da sieht man den Fadenverlauf und da werden die Quellen auch offengelegt. Interviews mit Zeitzeugen auf Polnisch und Deutsch, die sonst nicht zugänglich wären, und ich dachte, das ist einfach auch wichtiges Material für andere Menschen mit ähnlichen Fragestellungen.
    Erinnern heißt: doppelt spiegeln
    Fischer: Ein besonders schönes Beispiel fand ich auch in Ihrem Hörbuch über die Wechseljahre, "Happy Aging", aus dem Jahr 2016, wo Sie erzählen, was Sie in Sachen Alter umtreibt und was Alter als Kind für Sie war, nämlich die dritten Zähne Ihrer Großmutter. Es geht aber auch um die unbequeme Kleidung Ihrer eigenen Mutter. Das heißt, in der Erinnerung und im Erzählen ist dann so etwas eingeschrieben wie der Abstand zu damals, der bedeutende große Schritt auch in der westlichen Kulturgeschichte namens Emanzipation.
    Draesner: Ja, der ist eingeschrieben schon in der Wahrnehmung des Kindes. Das ist ja ein Life Writing Buch, das ist wirklich authentisch, das beruht nur auf dem, was ich erlebt habe und gesehen habe. Und ich erinnere mich, als Kind gestaunt zu haben darüber, dass Frauen partout nach 39 nicht 40 werden wollen und das für irgendwie absurd gehalten zu haben. Jetzt noch einmal in diese Erinnerungen zurückzugehen, 40 Jahre später, bedeutet ja, dass eine doppelte Spiegelung eintritt, und ich glaube, dass das auch eine wesentliche Funktion von Erinnerung in Literatur ist und im eigenen Leben, im sich selbst Geschichte erzählen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.