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Die Schuh-Anekdote

Der sowjetische Staatschef Nikita Chruschtschow hatte mit der UNO so seine Schwierigkeiten. Sein Wutausbruch mit seinem Schuh in einer Versammlung gibt noch heute Rätsel auf.

Von Ralf Geißler | 13.10.2010
    Nikita Chruschtschow war ein temperamentvoller Mann. Auf der 15. UNO-Vollversammlung 1960 schrie der sowjetische Staatschef durch den gesamten Saal. Chruschtschow beschimpfte einen Delegierten als Speichellecker, Fatzke und Imperialistenknecht. Übertönt wurde das Gezeter nur vom Hämmern des Sitzungsleiters, der vergeblich versuchte, den Mann zur Ruhe zu bringen.

    Es ging in der UNO-Debatte um die Entkolonialisierung. 1960 wurden zahlreiche afrikanische Staaten unabhängig, darunter auch der Kongo. Das Land war tief gespalten. Nach der Unabhängigkeit beanspruchten eine pro-westliche und eine pro-sowjetische Gruppierung die Macht für sich. Während der UNO-Sitzung wurde lautstark über diesen Konflikt gestritten. Doch so richtig in Rage brachte Chruschtschow etwas anderes. Die "New York Times" schrieb einen Tag nach der Sitzung, was den sowjetischen Staatschef so aufgeregt hatte.

    "Mister Chruschtschow wurde von einem Mitglied der philippinischen Delegation erzürnt. Der Philippine sagte, dass die Sowjetunion den Menschen in Osteuropa ihre politischen und bürgerlichen Rechte geraubt habe. Daraufhin zog Mister Chruschtschow seinen rechten Schuh aus, stand auf und schwang ihn drohend in Richtung der philippinischen Delegation. Anschließend hämmerte er mit seinem Schuh auf den Tisch."

    Der Artikel etablierte die wohl bekannteste Anekdote über Chruschtschow. Für Millionen von Menschen wurde er der Mann, der in der UNO mit seinem Schuh auf den Tisch eingedroschen hatte. Aber stimmt die Story überhaupt? Der amerikanische Historiker William Taubman versuchte, Augenzeugen des Ereignisses zu finden. Dabei wurde ihm schnell klar: Die Schuh-Anekdote steckt voller Rätsel. In einem Aufsatz schreibt Taubman:

    "Als ich mit Zeitzeugen über Chruschtschow sprach, bestätigte mir einer das Hämmern mit dem Schuh. Aber ein anderer widersprach. Und ein Dritter sagte, er habe nur wenige Schritte hinter Chruschtschow gestanden. Der Premier habe den Schuh zwar gehalten aber nur mit dem Handballen auf den Tisch geschlagen. Der Schuh selbst habe die Platte nie berührt."

    Taubman hörte wirre Geschichten. Eine UNO-Angestellte behauptete, der sowjetische Staatschef könne den Schuh gar nicht ausgezogen haben. Er sei viel zu dick gewesen, um in den engen Sitzreihen der UNO mit der Hand an seine Füße zu gelangen. Die glaubwürdigste Aussage machte der Fotojournalist John Loengard, der für das "Life Magazin" an der UNO-Sitzung teilgenommen hatte.

    "Chruschtschow fasste wirklich nach unten und zog einen braunen Halbschuh von seinem rechten Fuß, den er auf den Tisch stellte. Er grinste die Delegierten der Vereinigten Arabischen Republik an und mimte mit einer leeren Hand, wie er demnächst mit dem Schuh auf den Tisch hauen würde. Ich versichere Ihnen, dass jede Kamera auf Chruschtschow gerichtet war. Die Fotografen warteten darauf, dass er den Schuh benutzt. Doch er zog ihn einfach wieder an und ging. Das Ereignis fand niemals statt."

    Tatsächlich existiert von der Schuh-Anekdote nur ein einziges Foto. Es zeigt, wie ein Halbschuh auf Chruschtschows Tisch in der UNO steht. Der Staatschef sitzt ruhig davor und lauscht der Debatte. Auf anderen Bildern gestikuliert Chruschtschow zwar heftig, hat aber keinen Schuh in der Hand. Vielleicht ist die Geschichte also tatsächlich nur erfunden. Doch sie passte in den Zeitgeist. Chruschtschow galt als Rabauke: ungebildet und impulsiv. Im Mai 1960 ließ er ein amerikanisches Spionageflugzeug abschießen. Nach diesem sogenannten U2-Zwischenfall lud er US-Präsident Eisenhower von einem geplanten Staatsbesuch höchst undiplomatisch wieder aus.

    "Präsident Eisenhower möchte uns besuchen und unser Gast sein. Ein Mensch sollte nicht dahin scheißen, wo er gleich essen will. Das ist eine Grundregel. Wie kann der Präsident der Vereinigten Staaten auf die Sowjetunion scheißen und dabei hoffen, als Gast an Chruschtschows Tisch Platz zu nehmen?"

    Trotz solcher Worte stimmte das Klischee vom ungebildeten Russen-Tölpel genauso wenig wie das vom weisen Sowjetführer. Chruschtschow war ein Mann der Gegensätze: aus einfachen Verhältnissen, aber clever. Nach seiner Machtübernahme begann innenpolitisch eine Tauwetter-Periode. Außenpolitisch setzte er auf die friedliche Koexistenz mit dem Westen.

    "Wir werden mittels des Beispieles durch einen höheren Lebensstandard, durch einen kürzeren Arbeitstag, werden wir Einfluss nehmen auf die Hirne und das Bewusstsein der Arbeiter aller Länder."

    Chruschtschows impulsive Art fiel allerdings nicht nur im Ausland unangenehm auf. Auch der starren sowjetischen Parteibürokratie war es irgendwann zu viel. 1964 wurde Chruschtschow gestürzt. Er hatte möglicherweise ein einziges Mal nicht kräftig genug auf den Tisch gehauen.