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"Die Schulen müssen sich selbst darum kümmern"

Nicht jede Schule hat ein ausgebildetes Krisenteam für den Fall eines Amoklaufs - bemängelt der Psychologe Jens Hoffmann. Zwar gebe es an vielen Bildungseinrichtungen bereits Notfallregeln, die Schulen übernähmen jedoch zu wenig Eigenverantwortung bei der Krisen-Fortbildung von Lehrern.

Jens Hoffmann im Gespräch mit Sandra Schulz | 11.03.2010
    Sandra Schulz: Heute vor einem Jahr: Ein 17-Jähriger stürmt mit der Waffe seines Vaters die Albertville-Realschule in Winnenden. Dort erschießt er neun Schüler und drei Lehrerinnen, auf der Flucht tötet er drei weitere Menschen, bevor er sich selbst das Leben nimmt. Heute gedenkt die schwäbische Kleinstadt ihrer Opfer und mit ihr das ganze Land. Eine der politischen Konsequenzen war ja der Streit um das Waffenrecht, eine Verschärfung. Unter anderem die Hochsetzung der Altersgrenze bei Haltern großkalibriger Waffen folgte im Juli 2009. Eine positive Bilanz zieht ein Jahr darauf der Vorsitzende des Innenausschusses, der CDU-Politiker Wolfgang Bosbach. Die Reform des Waffenrechts nach dem Amoklauf von Winnenden sei erfolgreich gewesen. Die Änderung des Waffengesetzes habe einen deutlichen Sicherheitsgewinn gebracht, so Bosbach in der "Mitteldeutschen Zeitung". Anders sieht das der sozialdemokratische Innenpolitiker Fritz Rudolf Körper. Heute Morgen sagte er in unserem Programm:

    O-Ton Fritz Rudolf Körper: Das, was wir beschlossen haben an Veränderungen, da stellt sich die Frage, ob das in der Tat auch im Vollzug sich so darstellt, dass es wirkt. Die Waffenbehörden dürfen ja jetzt unangemeldet die sichere Aufbewahrung der Waffen überprüfen. Und mein Kenntnisstand ist nach wie vor der, dass es da eine erhebliche Personallücke bei den Waffenbehörden gibt, die im Grunde genommen die praktische Umsetzung sehr erschweren. Wir hätten da stärker darüber nachdenken müssen, was das Thema großkalibrige Waffen anlangt. Die Waffenlobby hat natürlich versucht, wie auch bei anderen Beratungsgängen zum Waffenrecht, Einfluss zu nehmen, und dies zum Teil auch in recht massiver Art.

    Schulz: Fritz Rudolf Körper (SPD) heute Morgen im Deutschlandfunk. – Ähnlich also, zumindest mit seiner Forderung nach einem schärferen Waffenrecht, auch Bundespräsident Horst Köhler. Das haben wir gerade gehört. Und auch vielen Angehörigen und Betroffenen gehen die Änderungen nicht weit genug. Sie monieren ein Einknicken vor der Waffenlobby. Aber natürlich beschäftigen die Familienangehörigen – und nicht nur die – auch noch ganz andere Fragen, und unter anderem darüber wollen wir in den kommenden Minuten sprechen. Telefonisch zugeschaltet ist mir jetzt Jens Hoffmann. Er leitet das Institut für Psychologie und Bedrohungsmanagement. Guten Tag.

    Jens Hoffmann: Guten Tag!

    Schulz: Herr Hoffmann, genau vor einem Jahr haben wir uns schon mal an dieser Stelle hier im Deutschlandfunk mit Ihnen zum Telefoninterview verabredet. Was bedeutet der Tag heute für die Betroffenen?

    Hoffmann: Das ist häufig auch praktisch noch mal eine Aufwühlung. Es kommt bei einigen Leuten, also nicht nur Angehörigen, auch Leuten aus dem gleichen Ort, vielleicht Leute, die was mitbekommen haben, auch vieles wieder hoch, also ist durchaus auch belastend. Es kann aber auch für manche ein Ritual sein, um einen Abschied zu nehmen von lieben Menschen, die gestorben sind.

    Schulz: Was hat sich getan aus Ihrer Sicht seit Winnenden?

    Hoffmann: Es haben sich gute Sachen getan und bei manchen Sachen gab es leider nicht so viele Fortschritte, wie wir gehofft hatten. Gut ist zum einen, dass diese Notfallregeln, was mache ich, wenn eine solche Tat passiert, wie alarmiere ich alle, das ist sehr, sehr weit vorangeschritten. Was auch gut ist, dass Schule mehr auf Polizei lokal zugeht und umgekehrt, dass wir da eine engere Vernetzung haben. Was leider noch nicht flächendeckend ist – und das ist ein großes Problem – ist: nicht jede Schule hat ein ausgebildetes Krisenteam, in dem eine Gruppe von Lehrern, die Schulleitung geschult sind, was sind Warnsignale, und vor allem auch Ansprechbarkeit haben für Mitschüler, für Eltern, die beunruhigend sind, die Warnsignale gesehen haben.

    Schulz: Wen sehen Sie da in der Pflicht?

    Hoffmann: Die Schulen selbst vor allem. Wir haben in vielen Bundesländern auch Angebote. Wir haben ein System "Sichere Schule" entwickelt. Das Land Saarland bildet das flächendeckend ab und auch in Hessen gibt es schulpsychologische Dienste, die was anbieten. Die Schulen müssen sagen, wir müssen die Verantwortung dafür übernehmen. Das ist auch gar nicht so aufwendig. Unser System, das sind drei Tage Fortbildung und es kann eine Schule so was aufbauen, weil es so wichtig ist. Ich habe vor einiger Zeit mit einer Schülerin gesprochen, die neben einem Amokläufer saß, drei Jahre lang. Die hat gesagt, wir haben alle Angst gehabt. Der hat gedroht. Wir haben es versucht, mit Lehrern zu sprechen, aber die waren auch verunsichert und wussten nicht, was sie tun sollten. Und der junge Mann hat dann eine solche Tat begangen. Das ist eine Geschichte, die wir immer und immer wieder sehen, und das ist heute eigentlich nicht mehr notwendig.

    Schulz: Wir wissen, dass es kein Patentrezept gibt, aber lässt sich der Handlungsbedarf quantifizieren? Wie viele Psychologen fehlen?

    Hoffmann: Ich glaube, Psychologen sind immer gut und Schulpsychologen sind auch immer gut und die sind auch inzwischen immer fortgebildeter in der Einschätzung und im Management. Aber noch mal der Appell: Die Schulen müssen sich selbst darum kümmern. Wenn sie glauben, sie können alles an die Polizei, wenn sie glauben, sie können alles an die Schulpsychologie abgeben, da wird man ihnen schon helfen, werden diese Stellen oft erst eingeschaltet, wenn es zu spät ist. Das kann einem keiner abnehmen. Mehr Schulpsychologenstellen sind wichtig und gut, aber auch das wird dieses Problem nicht lösen.

    Schulz: Wenn wir – wir wissen, dass auch pauschale Antworten schwierig sind – versuchen, eine Bilanz zu ziehen, ist die Gesellschaft, sind wir weiter im Kampf oder in dem Versuch, solche Gewalttaten künftig zu verhindern?

    Hoffmann: Ich denke, einen Schritt schon. Aber ich meine, wir haben seit Winnenden ja noch drei weitere Taten oder Tatversuche gehabt. Ich denke, was auch ein wichtiges Thema ist, ist Medienberichterstattung. Es sollte heute nicht mehr statthaft sein, einen Täter mit Namen zu nennen, auch den Vornamen würde ich nicht mehr nennen, Bilder unverpixelt zu zeigen, weil wir wissen: Diese Täter wollen berühmt werden, die haben diese Grandiosität, die fühlen sich wie ein Nichts. Und wenn sie immer wieder vorgeführt bekommen, wenn ich in meine Schule gehe, oder in meine ehemalige Schule, und ich bringe ein paar Leute um, dann bin ich am nächsten Tag bekannt, dann werden wir praktisch diesen Nachahmereffekt noch weiter haben.

    Schulz: Das ist die eine Sorge; die andere, auch vor einem Jahr ziemlich deutlich artikuliert, war die, dass viele Betroffenen ja sozusagen zweimal Opfer geworden sind, zum zweiten Mal auch Opfer der Medien. Das soll sich heute am Jahrestag nicht wiederholen. Wie groß ist Ihre Sorge, dass auch das Gedenken misslingt?

    Hoffmann: Ich denke, da kommt es dann auch immer auf das Verhalten der einzelnen Medienvertreter an, und da gab es ja auch sehr große Unterschiede, gab es auch viel Selbstkritik. Uns haben einige öffentlich-rechtliche Sender auch kontaktiert und haben gefragt, bei der Berichterstattung, worauf sollten wir achten. Da ist viel passiert. Aber ich finde, auch wenn ein Medium, sei es privat, eine Zeitung, solche Grenzverletzungen macht, sollten die auch an den Pranger gestellt werden.

    Schulz: Sie haben gerade einen ganz konkreten Tipp, einen ganz konkreten Hinweis auch in Richtung der Medien gegeben. Was würden Sie pauschaler formulieren? Wie kann es gelingen, dass die Medien auf der sicheren Seite stehen?

    Hoffmann: Mehr auf die Auswirkungen, auf die Betroffenen jetzt fokussieren, was dort passiert ist. Was auch wichtig ist, wirklich den Täter entindividualisieren. Wir sollten kein Bild von ihm haben, auch kein mentales Bild. Wir sollten nicht so viel über seine Vergangenheit spekulieren. Er sollte praktisch nicht posthum dafür belohnt werden, dass er so etwas gemacht hat. Und auch, was ganz wichtig ist: Es gibt immer Berichte, was machen die Schulen jetzt, was macht die Polizei jetzt, und wir wissen, dass solche Täter sehr, sehr genau die Medien studieren, im Internet gucken. Deswegen lasst uns nicht alles verraten, was wir an Strategien haben, an Warnsignalen, an Notfallplänen, weil wir haben auch die ersten Täter schon gehabt, die haben das sehr aktiv genutzt.

    Schulz: Und ein Teil dieser Individualisierung ist auch, dass sich die Diskussion vor allem auf jüngere Männer fokussiert hat. Ist das aus Ihrer Sicht der richtige Fokus?

    Hoffmann: Sicherlich! Der größte Fehler war – und darüber haben wir uns auch vor einem Jahr praktisch unterhalten -, man darf nicht nur auf die jungen Männer gucken. Es gab auch eine junge Frau, aber 95 Prozent sind doch junge Männer, weil es ist doch eher eine männliche Art: Ich bin in einer Krise, ich bin ausweglos und dann gehe ich in eine Kriegermentalität, ich werde praktisch der gefürchtete Rächer. Das ist doch etwas, was Männern eher in der Sozialisation und vielleicht auch von der Biologie her näherliegt.

    Schulz: Jens Hoffmann, Leiter des Instituts für Psychologie und Bedrohungsmanagement, heute in den "Informationen am Mittag".