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Die Schullaufbahn erfolgreich meistern

Sprachförderung kann nicht gelingen, wenn man sie nur auf der Schulebene diskutiert. Sie gehört auch ins Programm der Lehrerausbildung. Das ist eine Erkenntnis einer Tagung in Köln, bei der Experten aus ganz Deutschland über das Thema diskutiert haben.

Von Peter Leusch | 28.03.2013
    "Eins der zentralen Ergebnisse ist sicherlich: Fast alle Lehrer und Lehrerinnen unterrichten Schüler und Schülerinnen mit Förderbedarf, und das Zweite Ergebnis in diesem Zusammenhang ist, dass sich ein großer Teil der Lehrpersonen durch ihr Studium und auch durch Weiterbildungsangebote nicht gut auf die Herausforderungen vorbereitet fühlen, also da gibt es eine deutliche Lücke zwischen den Anforderungen und den Qualifikationen."

    Michael Becker-Mrotzek, Direktor des Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache an der Universität Köln hat im vergangenen Jahr eine repräsentative Umfrage unter Lehrerinnen und Lehrern durchgeführt zu der Frage, wie es um Sprachförderung an deutschen Schulen bestellt ist. Denn spätestens seit Pisa weiß man, dass für den Bildungserfolg den sprachlichen Fähigkeiten eine besondere Bedeutung zukommt. Zunächst hatte man Sprachförderung im Regelunterricht nur dem Fach Deutsch zugeordnet. Außerdem gab es Zusatzangebote für bestimmte Schüler.

    "Im Deutschunterricht müssen die Grundlagen gelegt werden, zum Beispiel zu Beginn der Sekundarstufe eins, aber auch schon in der Grundschule die Leseflüssigkeit. Schüler, die nicht flüssig lesen können, können sich nicht auf den Inhalt konzentrieren von Texten. Und wer keine Texte lesen und verstehen kann, kommt im Unterricht nicht mit, da haben wir so einen Teufelskreis, aus dem man herauskommen muss."

    Inzwischen ist man aber, so Becker-Mrotzek, zu der Einsicht gelangt, dass Sprachförderung über den Deutschunterricht hinaus eine Aufgabe aller Fächer sei. Das weitverbreitete Bild von der Mathematik als einem sprachfreien Fach sei falsch, erklärt die Bildungsforscherin Petra Stanat von der Humboldt Universität Berlin. Auch in der Mathematik kann man auf sprachliche Vermittlung nicht verzichten. Petra Stanat liefert ein Beispiel:

    "Schüler in der vierten Jahrgangsstufe sollen würfeln und sie sollen sich eine Regel aussuchen, nach der sie gerne Punkte gewinnen wollen. Und das kann sein, dass sie sich die Regel aussuchen: 'Immer wenn ich eine Eins würfle, kriege ich einen Punkt. Oder wenn ich eine gerade Zahl würfle, bekomme ich einen Punkt, oder wenn ich eine Zahl würfle, die kleiner als vier ist, bekomme ich einen Punkt.' Dann sollen sie sich entscheiden für eine dieser Regeln, das ist also Wahrscheinlichkeitstheorie auf geringem Niveau, und dabei auch begründen, warum sie eine bestimmte Regel sich ausgesucht haben, und das ist eine mathematische und eine sprachliche Anforderung."

    Wie aber soll ein Mathematiklehrer diese Aufgabe der Sprachförderung in seinem Fachunterricht konkret umsetzen? Soll er jetzt mit den Schülern Grammatik machen, Logik und Begründungssätze üben? Die Pädagogen und Sprachwissenschaftler haben herausgefunden, dass der Semantik, also dem Wortschatz und seiner gezielten Erweiterung eine Schlüsselrolle zukommt. Darauf sollte der Fachlehrer auch in den naturwissenschaftlichen Fächern im Unterricht mehr Gewicht legen, erläutert der Bildungssoziologe Charles Berg, er lehrt an der Universität Luxemburg:

    "Es gibt Sprachkompetenzen, die jenseits der Einzelsprache liegen, und die sich zum Teil in Auseinandersetzung mit einem Wissensfeld entwickeln: Wenn ich Naturwissenschaften mache, dann lerne ich zum Beispiel auch, wie ich zum Beispiel mich über Temperatur ausdrücke, und das kann abstrakt oder weniger abstrakt sein, und gerade diese sprachliche Entwicklung wird darüber entscheiden, wie meine Bildungskarriere aussehen wird: Ich kann zum Beispiel fühlen und merken, dass es wärmer ist, und sagen 'Au' oder ich kann fühlen und sagen 'Die Temperatur ist höher', und dann macht es einen Riesenunterschied. Und gerade ob ich in solche bildungssprachlichen Register hineinkomme, ist heute eine wichtige Aufgabe der Schule."

    Natürlich gab es immer schon Schüler, die Schwierigkeiten mit der Sprache hatten. Nicht wenige von ihnen kamen als ungelernte Arbeiter oder auch in Handwerksbetrieben ganz gut durchs Leben. Heute jedoch, mit der zunehmenden Technisierung der Berufswelt, sind die Anforderungen an die sprachlichen Kompetenzen der Auszubildenden gestiegen. Michael Becker Mrotzek:

    "Viele einfache Tätigkeiten werden heute von Maschinen übernommen. Selbst beim Automechaniker - die Ausbildung heißt nicht mehr Automechaniker, sondern Mechatroniker, das zeigt, dass ganz viel Elektronik dabei ist. Und wer Elektronik bedienen will, muss die Anleitung lesen können, und wir wissen aus den Berufsschulen, dass viele von den handwerklich begabten Jungen nicht an den praktischen, sondern an den theoretischen Prüfungen scheitern, weil sie die nicht verstehen, also die Fragen, die sie da zu beantworten haben."

    Weil Industrie und Wirtschaft am Standort Deutschland viele hoch qualifizierte Arbeitskräfte brauchen, hat das Bildungssystem den Auftrag, mehr Schüler, auch aus bildungsfernen Schichten, zu höheren Schulabschlüssen zu führen. Und das entspricht auch dem Bildungsziel der Chancengleichheit für alle. Voraussetzung dafür ist eine verstärkte Sprachförderung. Auch die Gruppe der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund benötigt diese Unterstützung. Viele von ihnen lernen Deutsch als Zweitsprache. Wie gut sie sich diese Zweitsprache Deutsch aneignen und beherrschen, ist für ihre gesellschaftliche Integration und berufliche Zukunft entscheidend. Unter dem politischen Handlungsdruck, den der Pisa-Schock geschaffen hat, sind verschiedene Programme und Konzepte der Sprachförderung entwickelt und eingesetzt worden. Petra Stanat hat solche Konzepte wissenschaftlich begleitet und auf ihre Effektivität hin untersucht:

    "Ich habe eine Studie durchgeführt zu zwei verschiedenen Ansätzen der Sprachförderung in der Grundschule - ein ganzes Jahr lang haben wir gefördert im Feld Deutsch als Zweitsprache mit Fokus auf Grammatik. Und zum anderen eine in den Fachunterricht integrierte Sprachförderung. Und auch wir haben bisher noch keine wirklich großen Effekte finden können. Das zeigt, wie schwierig es ist, sprachliche Kompetenzen zu fördern."

    Bund und Länder haben ein Programm auf den Weg gebracht, dass 'Bildung durch Sprache und Schrift' heißt. Wo eben Ansätze der Sprachförderung die schon in den Schulen laufen, dass stärker fokussiert werden auf fachintegrierte Sprachförderung und mit der Zeit weiter entwickelt und auch evaluiert werden sollen – das ist ein wichtiger Schritt, der da unternommen worden ist.

    Die bildungspolitische Diskussion um die Sprachförderung von Deutsch als Zweitsprache wurde bisher allerdings sehr ideologielastig geführt. Welche Rolle Erst- und Zweitsprache spielt, welche von beiden zu fördern sei, in dieser Frage regierte Lagerdenken die Köpfe, was die Weiterentwicklung integrierter Konzepte blockiert hat.

    ""Die eine Fraktion hat gesagt, man muss erst mal die eine Sprache fördern, um darauf aufbauend dann die Zweitsprache zu entwickeln, die anderen haben gesagt, bloß nicht die Erstsprachen weiterentwickeln, sondern sich auf die Zweitsprache konzentrieren. Wir wissen inzwischen, dass man mehr als eine Sprache auf hohem Niveau erwerben kann, das ist möglich, das ist eigentlich unstrittig."

    Der Bildungssoziologe Charles Berg von der Universität Luxemburg - das kleine Land hat prozentual den höchsten Migrationsanteil in der europäischen Statistik – richtet den Blick nach vorn und moniert, dass Bildungssystem und Schule noch nicht in der Sprachwirklichkeit angekommen seien:

    "Sicher ist, dass bilinguale und mehrsprachige Erziehung eine Chance bekommen muss, dass die Schulen ihren monolingualen Habitus ablegen müssen und eigentlich die Realität, die um sie herrscht, auch akzeptieren und erkennen müssen, und dazu kann natürlich Sprachdiagnose sehr viel beitragen."

    In der Schule, so Charles Berg, stehen sich zwei Generationen gegenüber, auf der einen Seite die ältere Generation – die Lehrer, die in einer monolingualen, also einer einsprachigen Bildungswelt groß geworden sind und studiert haben – auf der anderen Seite die jüngere Generation - die Schüler, die einer mehrsprachigen und multikulturellen Gegenwart angehören. Das schafft eine tiefe Kluft.
    Erziehungs- und Sprachwissenschaftler haben eine Gruppe identifiziert, die hier eine Brücke bilden und Vermittler sein könnte: Michael Becker-Mrotzek:

    "Ein Programm, das hier in NRW seit einigen Jahren verfolgt wird, ist, dass man sich verstärkt um Lehrer und Lehrerinnen mit Migrationshintergrund bemüht, denn das ist eine Gruppe, von der wir wissen, dass sie häufig ihr Studium abbricht, da sind eine ganze Reihe von Hochschulen auf dem Weg, gerade diese Studierenden zu fördern, dass sie zum Examen kommen. Und das Land NRW hat zum Beispiel ein Netzwerk von Lehrern und Lehrerinnen mit Migrationshintergrund geschaffen."

    Sprachförderung kann nicht gelingen, wenn man sie nur auf der Schulebene diskutiert. Sie gehört auch ins Programm der Lehrerausbildung. Hier hat sich ein Bereich herauskristallisiert, - das bestätigt auch die Umfrage unter den Lehrerinnen und Lehrern - wo die Studierenden eine besondere Qualifikation bräuchten

    Michael Becker-Mrotzek: "Ein großer Bereich, der im Studium lange Zeit vernachlässigt wurde, ist die Diagnostik: Das heißt, Lehrer werden im Studium nicht darauf vorbereitet, Sprachstände zu diagnostizieren, das heißt zu erkennen, wo sind Kinder, die Probleme haben, wo sind solche, die keine Probleme haben, das sind nur 35 Prozent der Lehrer, die da entsprechend geschult sind."

    Im Grundschulbereich ist es für Lehrer noch relativ einfach, Sprachdefizite zu erkennen. Ältere Schüler jedoch fallen in der mündlichen Kommunikation nicht unbedingt auf, weil sie diese Sprechsituation beherrschen. Erst wenn besondere Kompetenzen gefragt sind, beim Schreiben zum Beispiel oder wenn es darum geht, Referate zu verstehen oder selber zu halten, dann wird signifikant, dass sie Sprachförderung benötigen. Insofern wird sprachdiagnostische Kompetenz der angehenden Lehrer wichtig, sie öffnet das Tor zu einer frühzeitigen gezielten Förderung der Schüler - als Vorbereitung auf eine Welt, die auch sprachlich komplexer und komplizierter geworden ist.

    Charles Berg: "Die Einschätzung einer komplexen und variablen Sprachwirklichkeit wird für Lehrer und Bildungsinstitutionen eine wichtige Voraussetzung. Von daher gehen riesige Erwartungen gerade an die Sprachdiagnose: Sprachdiagnose könnte eine unabdingbare Grundlage der Sprachförderung sein, und Sprachförderung ist wahrscheinlich eine der wesentlichen Voraussetzungen eines demokratischen Bildungssystems, das Chancengleichheit verwirklichen soll."