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Die schwarze Pest

Vor einem Jahr explodierte im Golf von Mexiko die Bohrplattform "Deepwater-Horizon" - der Anfang der bisher größten Ölkatastrophe weltweit. Die Natur scheint sich auf den ersten Blick schnell zu erholen, hinter den Kulissen sind die Folgen des Unglücks aber allgegenwärtig.

Von Klaus Remme | 19.04.2011
    Nach über 500 Tagen im Amt war es eine Premiere für Barack Obama. Im vergangenen Juni sprach er zum ersten Mal als Präsident vom Oval Office aus zu seinen Landsleuten. Es ging nicht um Kriege, nicht um Arbeitslosigkeit, es ging um die, wie er damals sagte, größte Umweltkatastrophe in der Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika:

    "Elf Arbeiter kamen im Flammen-Inferno auf der Bohrinsel Deepwater Horizon vor der Küste Louisianas ums Leben."

    Sie waren die ersten Opfer eines Unfalls, dessen Folgen auf Jahre hinaus spürbar sein werden. Doch in der öffentlichen Wahrnehmung gerieten die elf Toten der ersten Minuten schnell in Vergessenheit. Zwei Tage nach der Explosion sank die Bohrinsel. Zwar hieß es unmittelbar danach von Seiten der US-Küstenwache: kein Ölleck, doch das war nur der Beginn einer scheinbar endlosen Kette von Fehleinschätzungen zur Lage am Bohrloch auf dem Meeresgrund. Ein gigantisches Sicherheitsventil versagte und unter öffentlichem Druck korrigierte sich zunächst das verantwortliche Unternehmen, BP, später dann die US-Regierung ein ums andere Mal:

    Das Öl/Gas-Gemisch brach sich seinen Weg durch die Steigleitung in den Golf von Mexiko. Lange beharrte BP auf 800.000 Litern täglich, dann war von zwei Millionen die Rede, später von drei Millionen, fünf Millionen und zuletzt neun Millionen Litern täglich. Bis das Leck Mitte Juli endlich geschlossen werden konnte, waren offiziellen Schätzungen zufolge knapp 800 Millionen Liter ins Meer geflossen. Ein beispielloser Unfall.

    Das Öl traf auf eine äußerst empfindliche und verwundbare Küste, zunächst auf die einzigartigen Marschlandschaften von Louisiana. Brutstätte, Kinderstube für zahllose Vögel und Fische, für Krabben und Austern. Eine ökologisch enorm wertvolle Landschaft, die seit Jahrzehnten schrumpft. Es ist der Preis für Wasserwirtschaft, für Schifffahrtswege und Pipelines, Hurrikanes, wie Katrina 2005 haben der Küste weiter zugesetzt. Keine Region ist so betroffen wie Plaquemine Parish, südlich von New Orleans. Landrat Billy Nungesser nutzte vor einem Jahr jedes Mikrofon, jede Kamera. Als das Öl kam und aus Sicht Nungessers notwendige Hilfe ausblieb, wurde er an der Seite von CNN zum Chefankläger. Mal wütend, mal resigniert, mal mit Tränen in den Augen, immer gerade raus:

    Ein Jahr später sitzt Nungesser in seinem Büro, hinter einem gewaltigen Schreibtisch. Bilder, Karten und Dokumentationen erinnern an die Chaostage im Frühsommer 2010:

    Er habe sich nichts vorzuwerfen, sagt Nungesser im Rückblick. Seine Botschaft, ein Jahr nach dem Unfall:

    "Wir machen Fortschritte, die Meeresfrüchte sind sicher, die Fischer kommen wieder auf die Füße, doch noch ist viel zu tun, die Bestände müssen kontrolliert werden, auch die Gesundheit der damals eingesetzten Säuberungstrupps, außerdem ist deren Arbeit noch nicht abgeschlossen."

    "Komm rein",

    ruft George Barisic, Krabben- und Austernfischer mit kroatischen Familienwurzeln.

    "Im vergangenen Mai haben wir uns gesehen, das Öl kam zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt unmittelbar vor Beginn der Saison."

    Barisic musste nach Katrina binnen weniger Jahre zum zweiten Mal um seine wirtschaftlichen Existenz fürchten. Seinen Humor hat er nie verloren, zum Abschied öffnete er vor einem Jahr fast trotzig frische Austern:

    Fischer George ist bester Laune. Gerade ist er zurückgekommen, die Netze voll. Er habe sich weit vorgewagt, gibt er zu, acht, neun Stunden sei er rausgefahren aufs Meer:

    In 48 Stunden holte er Krabben im Wert von 6000 Dollar aus dem Meer. Die Kopfschmerzen des vergangenen Jahres, die Rückenbeschwerden, all das habe er gar nicht mehr gespürt, wie wunderbar, so George, endlich wieder Krabben zu fangen:

    Aber halt, bremst Barisic seine Begeisterung, noch sei natürlich längst nicht alles wieder in Ordnung. Zwar glaubt er inzwischen an eine natürliche Erholung der Umwelt, aber: die Austern machen ihm Sorgen und er ist nicht allein.

    Nach zwei Zyklen habe er noch immer keine neuen Austern gesehen, irgendetwas stimme nicht, meint er und hat – wie viele Fischer hier - einen Verdacht. Es sind ja nicht nur mehrere Hundert Millionen Liter Öl ins Wasser gelangt, im Kampf gegen einen verheerenden Ölteppich wurden circa sieben Millionen Liter Dispergatoren zugesetzt, Chemikalien namens Corexit, geeignet, das Öl aufzulösen und zu verdünnen.

    Wissenschaftler streiten über die langfristigen Folgen von Corexit. Die Mehrheit der Forscher verteidigt den Einsatz als die vor einem Jahr am wenigsten schlechte Alternative. Doch noch nie sind diese Mittel in dieser Menge eingesetzt worden, erstmals wurde das Öl gleich bei Austritt in 1500 Meter Tiefe mit Chemie bekämpft. Viele Fischer verweisen auf einen glitschigen Schleim am Meeresgrund und an Austernbänken, das Corexit habe die Lage nur verschlimmert, da sind sie sicher. Acy Cooper gehört zu ihnen. Cooper ist Vize-Präsident des Krabbenfischerverbandes in Louisiana. Er lebt in Venice, am südlichsten Punkt des Bundesstaats. Von hier berichteten die Medien weltweit im vergangenen Jahr. Die Kameras und Satellitenschüsseln stehen längst an neuen Krisenherden. Cooper ist 50 Jahre alt, und zusammen mit seinem Vater arbeitet er an einem Boot für die neue Saison. Dass die Regierung den Einsatz von Corexit zugelassen hat, aus Sicht Coopers nur eine von vielen Sünden der Politik. Er habe Obama gewählt, sagt er, das nächste Mal werde er sich das gut überlegen:

    "Obama hätte viel mehr tun können, von wegen BP zwingen, ich kann dir sagen, was hier los war: BP hatte das Sagen!"

    Zeit, über den Hauptverantwortlichen dieser Katastrophe zu sprechen. BP! Im Abschlussbericht der Regierungskommission offiziell an den Pranger gestellt. Unvergessen die TV-Werbespots, in denen der damalige Konzernchef Tony Hayward versprach, wir kriegen das hin, wir bringen das in Ordnung.

    Unvergessen auch Haywards Auftritt im amerikanischen Kongress. Höflich demonstrierte der BP-Boss geballte Verweigerung:

    Hayward ist Geschichte, bestenfalls glücklos, schlimmstenfalls kalkuliert-rücksichtslos, war er nicht zu halten. Und BP zahlt einen finanziellen Preis. Der Aktienkurs fiel zeitweise von 61 Dollar wenige Tage vor dem Unglück auf unter 27 Dollar im Juni, inzwischen hat er sich auf über 40 Dollar erholt. BP hat nach eigenen Angaben 1,2 Milliarden Dollar an Kommunen und überregionale Verwaltungen gezahlt, unter anderem für die Aufräumarbeiten, Gerichtsverfahren sind anhängig, abhängig vom Schuldmaß wird BP zwischen 5 und 20 Milliarden Dollar zahlen müssen. Hunderttausende haben darüber hinaus längst Entschädigungszahlungen gefordert. Bis jetzt hat BP 4,2 Milliarden Dollar dafür bezahlt. Viel Geld für einen vergleichsweise kleinen Landstrich. Landrat Nungesser redet nicht lange drum herum. Manch einer habe sich gesund gestoßen, sagt er:

    "Ich sehe viele neue Wagen, neue Boote, einige Fischer, auch andere haben 200.000, 300.000 Dollar an diesem Unglück verdient. Andere haben nichts bekommen."

    In der Tat, in dieser Gegend, wo die Schäden von Katrina noch allgegenwärtig sind, wo immer noch zerstörte Häuser auf Abbruch warten, wo rostige Stahlträger auf grünen Wiesen stehen, alte Wellblechdächer mit Graffiti am Straßenrand liegen, fallen sie auf, die nagelneu funkelnden Pick-up-Trucks vieler Fischer.

    Acy Cooper stellt das nicht in Abrede:

    "Sieht nicht gut aus, brauchen wir aber ...","

    erklärt Cooper kurz.

    Die Trucks, die Boote seien nun mal Grundlage für alles was danach komme.

    Er war einer der ersten, die BP verklagt haben, nur wenige Tage nach der Explosion. Gleichzeitig gibt er zu, BP habe ihn über die Saison gerettet. Er rechnet vor: Zweieinhalb Monate hat er mit seinem Boot für BP gearbeitet, Schwimmsperren transportiert und positioniert. 165.000 Dollar brachte das. 40.000 hat er darüber hinaus mit der Fischerei verdient und dann kamen noch einmal 16.000 von BP als Verdienstausfall. Kurzfristig okay, meint Cooper, der BP aber nicht aus der Verantwortung entlassen will und bei der Frage, ob man
    mit Blick auf die Folgen des Unfalls vor einem Jahr nicht doch ein wenig übertrieben habe, entschieden abwinkt:

    ""Wie Sie so denken, kann ich es nicht ändern. Meine Meinung. Warten wir ab. Kommen sie in vier, fünf Jahren wieder, wenn alles stimmt, bin ich der erste, der das sagt, aber bis dahin, bis wir wissen, ob die Fisch- und Krabbenbestände stabil sind, bin ich vorsichtig."

    Cooper erinnert an die Erfahrungen nach der Exxon-Valdez-Katastrophe. Damals sind zum Beispiel die Heringsbestände erst im dritten Jahr nach dem Unglück eingebrochen.

    Dr. Alex Kolker vom Meeresforschungsinstitut Lumcon untersucht das Wachstum der Marschlandschaften nach dem Öl-Unfall. Ausgerüstet mit einem Navigationsgerät kontrolliert er unterschiedlich stark betroffene Stellen. Von Port Sulphur aus steuert er durch die Kanäle:

    "Wir sind etwa 170 bis 200 Kilometer von der Unglücksstelle entfernt, sagt Kolker, und spätestens hier draußen vor der Küste stellt sich die Frage: Wo ist es, das viele Öl? Der Gestank ist längst weg, an einigen wenigen Stellen wird nach wie vor gesäubert."

    Kaum etwas erinnert an die Bilder des vergangenen Jahres, an Ölschwaden, an verschmutzte Pelikane. Haben Bakterien das Öl wirklich viel schneller als vermutet zersetzt? Liegt das Öl in dicken Schichten auf dem Meeresboden? Vermutlich stimmt beides. Wissenschaftler streiten, und Alex Kolker meint, für Wahrheiten ist es schlicht zu früh:

    "Wir sollten Daten sammeln, nicht Meinungen",

    sagt Kolker. Doch eines steht fest. Auch an Stellen, die im vergangenen Jahr stark durch Öl verschmutzt wurden, wächst heute frisches, grünes Gras nach:

    "Das zeigt, das die Wurzeln überlebt haben",

    meint Assistent Alex.

    Beide Forscher sind sich einig: Die eigentliche Bedrohung dieser ökologisch wichtigen Landschaft ist der seit Jahrzehnten andauernde wirtschaftlich motivierte Raubbau, das Öl sei in diesem Rahmen ein zusätzlicher Stressfaktor für die Natur.

    Glitzernde Wellen, Sonnenschein und Delfine, die vor dem Bug des Schiffes aus dem Wasser springen. Louis Skrmetta eröffnet eine Saison, an die er vor einem Jahr nicht mehr geglaubt hatte. Seit Jahrzehnten bringt die Familie Skrmetta Touristen für Tagesausflüge von Gulfport, Mississippi, nach West Ship Island, zehn Meilen vor der Küste. Als er im vergangenen Mai täglich mit Öl am Strand rechnen musste, gab er die Saison auf und holte Strandliegen und Schirme zurück aufs Festland. Auf der Rückfahrt dachte Louis Skrmetta damals ernsthaft darüber nach, die Schiffe zu verkaufen, alles an den Nagel zu hängen:

    "Das Öl kam, die Touristen blieben weg. Am Nationalfeiertag, dem 4. Juli, kommen gewöhnlich um die 1200 Gäste",

    schildert Skrmetta, im letzten Jahr waren es 54. Dass er fast pleite gegangen wäre, verdankt er BP, doch andererseits: Dass es sein Unternehmen heute noch gibt, verdankt er auch BP. Ein Subunternehmen des Konzerns mietete sein Boot an, von Juli bis Januar brachte er täglich 100 Arbeiter für Säuberungsarbeiten auf die Insel. 4500 Dollar bekam er dafür pro Tag. Was nach viel klingt, reichte aus, um seine Kosten zu decken, darunter die Löhne für 27 Angestellte. Wir mussten niemandem kündigen, sagt Skrmetta erleichtert.

    Die Strände sind auf den ersten Blick sauber. Doch man muss nicht lange suchen, um Öl-Sand-Klumpen zu finden, viele sind handtellergroß. An jedem Sonnenschirm hängt deshalb ein kleiner Plastikbeutel. Die Touristen sind an diesem Tag dennoch begeistert:

    Über 500 Gäste an diesem ersten Tag geben Skrmetta Hoffung auf eine gute Saison. Widerwillig gibt er zu: BP hat ihn gerettet:

    Damit sei man aber noch lange nicht quitt, fügt er hinzu. Er hat eine Entschädigungszahlung von über einer Million Dollar geltend gemacht und noch nichts gehört. Skrmetta versteht sich als aktiver Umweltschützer, das Öl ist immer noch da, man sieht es nur nicht, da hat er keine Zweifel:

    "Da ist noch so viel Öl, ich esse nicht ohne weiteres Meeresfrüchte, wer weiß, wo das herkommt, wie viel Chemie da drin steckt, die Austern-Fischer stehen praktisch vor dem Aus."

    Austern und Krabben, kann man sie nun guten Gewissens essen oder nicht? Seit Jahren kämpfen die Fischer vor Ort gegen importierte Ware. Die Öl-Katastrophe hat das Misstrauen verstärkt, die Nachfrage ist gering, die Preise sind im Keller. Auch in dieser Frage gibt es ein Jahr nach dem Unfall keine eindeutige Antwort. Anerkannte Toxikologen widersprechen sich. Die Regierung gibt grünes Licht, doch Kritiker warnen: Es werde nicht ausreichend getestet und der statistisch angenommene Konsum an Meeresfrüchten sei viel zu niedrig angesetzt.

    Ycloskey Seafood in St.Bernards Parish, außerhalb von New Orleans. Denny Guerra ist in den frühen Morgenstunden 'rausgefahren, das Wetter hat ihn gezwungen, zurückzukommen. Er hat Austern gefunden, 35 Säcke landen auf dem Förderband. Ein Sack bringt 28 Dollar. Sicher ist, hier wird nicht getestet. Und auf die Frage, ob die Austern unbedenklich sind, zeigt sich Guerra überraschend ehrlich, hier in Louisiana weiß man nie, sagt er und fügt hinzu, ich esse meine Austern:

    Es ist diese Ungewissheit, die am Ende der Spurensuche, ein Jahr nach der Katastrophe bleibt. Die Natur scheint sich auf den ersten Blick schnell zu erholen, doch es gibt Warnungen und Fragezeichen. Arbeiter, die das Öl vor Monaten beseitigt haben, klagen über Kopfschmerzen, Schwindel, Hautausschläge und Atemwegserkrankungen. Die fehlenden Austern, die hohe Zahl toter Schildkröten und Delfine, die mangelnde Erfahrung mit der Wirkung von Corexit. Es gibt einerseits saubere Strände und doch taucht andererseits regelmäßig Öl vom Meeresgrund auf. Es gibt Fischer, die entschädigt wurden und andere, denen man übel mitgespielt hat. Die Tiefseebohrungen gehen weiter, das Moratorium ist aufgehoben, neue Auflagen sind in Kraft. Die Republikaner im Abgeordnetenhaus sind schon wieder dabei, den Genehmigungsprozess für Bohrungen zu beschleunigen, und Landrat Nungesser, der Kämpfer für gesunde Marschlandschaften, erweist sich als gleichzeitiger Fürsprecher der Ölindustrie. Fischerei und Ölförderung, das sei in Plaquemine Parish doch schließlich seit Jahrzehnten Hand in Hand gegangen.

    Billy Nungesser, ein Provinzpolitiker voller Widersprüche. Wie die Region selbst wurde er vor einem Jahr von einer gewaltigen Ölflut vor die Kameras und Mikrofone gespült. Er ahnt wohl, dass die Folgen des BP-Desasters noch lange nicht abschließend zu kalkulieren sind. Er weiß, seine Küste ist in Gefahr, das war schon vor der Deepwater-Horizon-Explosion so und erst recht danach. Wer hier nicht von der Fischerei lebt, der lebt vom Öl. Gesund ist das nicht und nachhaltig schon gar nicht. Doch Alternativen sind nicht in Sicht.

    "Da gibt es so viele Unbekannte, alle hoffen auf das Beste",

    sagt er einmal während des Interviews und fühlt sich sichtlich unwohl. Viel mehr bleibt nicht zu sagen.