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"Die schwarze Seite der Modernität"

Für den Politikwissenschaftler Dietmar Rothermund ist Gewalt gegen Frauen kein indisches Spezifikum. Selbst in der stark patriarchalen Gesellschaft Nordindiens würden Frauen hoch geachtet. Die schnelle Modernisierung des Landes habe jedoch Hemmschwellen niedriger werden lassen. Deshalb komme es zu Taten, "die früher so nicht begangen worden wären".

Dietmar Rothermund im Gespräch mit Dirk Müller | 29.12.2012
    Dirk Müller: Aus New Delhi Informationen von Sandra Petersmann. Am Telefon sind wir nun verbunden mit dem Politikwissenschaftler und Indienkenner Professor Dietmar Rothermund. Guten Tag nach Heidelberg!

    Dietmar Rothermund: Guten Tag!

    Müller: Herr Rothermund, wie zivilisiert ist Indien?

    Rothermund: Indien ist sehr zivilisiert, aber es kommt natürlich immer wieder zu Gewaltverbrechen, in einem so riesigen Lande ist das auch nicht gerade erstaunlich. Nur ist an und für sich Gewaltverbrechen derart, wie es hier verübt wurde, sehr selten bisher. Wenn man sich vorstellt, dass diese Studentin in einem fahrenden Bus, also mitten im Publikum, vergewaltigt worden ist, dann kann man schon sagen, das ist eine erstaunliche und wirklich, eine Tat, über die man gar nicht nachdenken kann. Und sie ist offensichtlich auch so wahnsinnig verletzt worden – ein Teil ihrer Eingeweide musste hier schon in Delhi beseitigt werden, ehe man sie in dieses Spezialkrankenhaus nach Singapur schaffte, das in Organtransplantationen und große Infrastruktur hat als Krankenhaus, und besser ist als alles, was in Indien vorhanden ist. Aber auch das hat ihr Leben nicht mehr retten können.

    Müller: Der Vorwurf, Herr Rothermund, ist ja eher – Gewalt gibt es überall, in vielen westlichen Staaten ja auch, über die Gewaltexzesse in den USA berichten wir auch regelmäßig, wir haben alle Newton ja noch im Hinterkopf –, die Frage bezieht sich ja auch, zielt darauf ab: Alle schauen weg, keiner schaut hin, keiner greift ein. Ist das wahr?

    Rothermund: Ja, das ist leider in Indien auch so, wie auch in westlichen Ländern, dass die Zivilcourage, sich einzumischen, wenn Gewaltverbrechen geschehen, sehr zu wünschen übrig lässt.

    Müller: Also kein indisches Spezifikum, dass gerade Gewalt an Frauen in irgendeiner Form toleriert wird?

    Rothermund: Ja, ich meine, es ist in der patriarchischen Gesellschaft, vor allen Dingen Nordindiens, immer noch eine Kluft zwischen Mann und Frau. Aber gerade in der traditionellen Gesellschaft wird eigentlich auch die Frau und Mutter hoch geachtet, und solche Gewaltverbrechen werden verurteilt.

    Müller: Ist ein Land mit über einer Milliarde Menschen gegenüber Gewalt, gegenüber solchen Exzessen automatisch zwangsläufig ignorant?

    Rothermund: Nein, das würde ich nicht sagen. Aber natürlich ist Indien so riesengroß, dass, wenn überall mal irgendetwas vorkommt, heißt es immer gleich natürlich, in Indien, nicht wahr? Bei uns verteilt sich das auf Gesamteuropa, sozusagen.

    Müller: Viele sagen ja auch, die Politik schaut weg, die Politik mischt sich nicht ein. warum ist die Politik so passiv?

    Rothermund: Ja, so passiv ist die Politik gar nicht, aber zum Beispiel die Ministerpräsidentin des Bundesstaates Delhi – die Hauptstadt ist ja ein eigener Staat – hat versucht, mitten in der Masse sich ja auch an den Trauerfeierlichkeiten zu beteiligen. Aber die Leute, die da zum Protest aufmarschiert sind, haben sie abgedrängt und wollten sie gar nicht zu Gehör bringen. also das ist auch schon eine schwierige Sache, dass dann sofort die Regierung und die höchsten Regierungsstellen verantwortlich gemacht werden für so etwas, was sie natürlich auch nicht verhindern können, nicht?

    Müller: Der Ministerpräsident von Indien Singh hat sich jetzt erst eingemischt beziehungsweise jetzt erst zu Wort gemeldet. Warum hat er so lange gezögert?

    Rothermund: Ja, das – ich meine, ich kenne Herrn Singh persönlich und schätze ihn sehr, er ist ein etwas, er ist ja kein Berufspolitiker, er ist als Experte in dieses Amt gekommen und ist eher ein zurückhaltender Mensch, der alles andere als ein populistischer Politiker ist. Ein Vollblutpolitiker hätte sich vielleicht sofort zu Wort gemeldet und versucht, sich damit auch zu profilieren. Das liegt Herrn Singh äußerst fern, und daher kann man vielleicht verstehen, dass er in seiner vorsichtig-abwägenden Art sich nicht sofort zu Wort gemeldet hat.

    Müller: Nun sind viele im Ausland, vor allen Dingen hier im Westen über diese Gewalt, beziehungsweise ja fast noch mehr über die Reaktionen auf diese Gewalt so erstaunt, weil viele glauben, aufgrund des ökonomischen Erfolges und aufgrund der ökonomischen Modernisierung des Landes sei auch die gesellschaftliche Modernisierung vorangekommen?

    Rothermund: Das kann man leider so nicht sagen. Gerade die sozialen Veränderungen, die sich durch rasches Wirtschaftswachstum abgespielt haben, führen oft dazu, dass alte Hemmschwellen überschritten werden, dass vor allen Dingen in der Jugend, die jetzt sehr nach vorne drängt, eben auch Elemente vorhanden sind, die dann vor nichts mehr zurückscheuen, und solche Taten begehen, die früher so nicht begangen worden wären.

    Müller: Also wie modern ist Indien gesellschaftlich?

    Rothermund: Wie beurteilt man den Grad der Modernität einer Gesellschaft? Das ist schwer zu sagen. Ich würde sagen, dass Indien sehr modern geworden ist und dass gerade in der rapiden Modernität auch gewisse Gefahren lauern.

    Müller: Welche Gefahren sind das?

    Rothermund: Na ja, solche Sachen, dass man alte Hemmschwellen überschreitet und so etwas tut, was früher nie geschehen wäre. Dass eine junge Frau mitten in einem Bus vergewaltigt wird, das ist also völlig unerhört, kann man sagen.

    Müller: Also für Sie, Herr Rothermund – ich weiß nicht, ob ich Sie richtig verstanden habe –, auch ein Ergebnis der sogenannten Modernität.

    Rothermund: Das ist sozusagen die schwarze Seite der Modernität, ja.

    Müller: Warum hängt das miteinander zusammen?

    Rothermund: Ja, weil durch den raschen wirtschaftlichen Aufstieg vor allen Dingen in den großen Städten auch eine Isolierung der Leute – nicht wahr, die Familie ist nicht mehr so prominent, die Gemeinschaft, die Dorfgemeinschaft, die es früher gab, ist nicht mehr vorhanden, und so können sich bei Leuten, die zu solchen Verbrechen neigen, die Hemmschwellen werden niedriger, und Leute begehen Verbrechen, die sie früher nicht begangen hätten.

    Müller: Demnach ist die wirtschaftliche Entwicklung zu weit gegangen und hat zu Wenige erfasst.

    Rothermund: Man kann nicht sagen, sie ist zu weit gegangen, also Indien leidet noch immer unter großer Armut, weite Gebiete der noch von der Landwirtschaft abhängigen Bevölkerung – das sind immerhin zwei Drittel der Bevölkerung – leben noch in großer Armut. Aber dort kommt es weniger zur Gewalt, eher zur Gewalt gegen sich selbst, man hat ja von den großen Zahlen von Bauernselbstmorden gehört, das ist also eine ganz andere Art von Gewalt, die gegen sich selbst ausgeübt wird, aber solche Dinge wie diese Vergewaltigung im Bus ist eine erstaunlich städtische Angelegenheit, würde ich mal sagen.

    Müller: Heute Mittag bei uns im Deutschlandfunk: der Heidelberger Politikwissenschaftler Professor Dietmar Rothermund. Danke für das Gespräch und auf Wiederhören!

    Rothermund: Bitte, ja!


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