Freitag, 19. April 2024

Archiv


Die Seele der verlorenen Generation

Wenn in einer europäischen Großstadt Jugendliche randalieren, zeigt sich die Gesellschaft meist ratlos. Man weiß nichts über ihre Motive, man weiß nicht, was in ihren Köpfen vorgeht. Auch darum ist der Debütroman von Nuran David Calis so wichtig.

Von Eva Pfister | 31.10.2011
    "Die Zeit ist gekommen. Du schreist: Hier ist jemand, der nein sagt. Hier ist jemand, der nicht mehr alles hinnimmt. Hier ist einer, der den Mund aufmacht. Hier ist einer, der sich nicht stoppen lässt durch Bulldozer, durch schusssichere Westen, durch Wasserwerfer, durch Gummigeschosse. Wir alle sind vergessene und verbrannte Kinder. Kinder, die man in einem dunklen Raum eingesperrt hat und der eigenen Asche überlassen hat. Die kulturelle Identität geraubt hat. Ich sage euch, wir dürfen uns nicht vergessen. Lasst uns aufstehen, lasst uns auf die Straße gehen. Alles gehört uns. Nehmt euch das, was ihr wollt. Niemand wird uns hindern. Einen von uns können sie bekommen, aber diesem einen werden Hunderte, Tausende folgen. Seid gewarnt, ihr Bürger: Eine Horde Wilder, Verlassener wird über euch herfallen, ohne Glauben. Aber mit einem unsäglichen Hunger."

    Dieser Aufruf findet nur im Kopf statt. Ein Türsteher hält sich damit wach, er fantasiert im Rausch seiner Müdigkeit, die ihn am frühen Morgen überfällt, kurz bevor der Club geschlossen wird, dessen Eingang er bewachen muss. Der Türsteher heißt Alen und ist der Protagonist des ersten Romans von Nuran David Calis: "Der Mond ist unsere Sonne". Der Autor ist in der Theaterszene schon seit einigen Jahren bekannt. Er schreibt und inszeniert Stücke, unter anderem von Friedrich Schiller und Frank Wedekind; seine Bearbeitung von "Frühlings Erwachen" ist auch verfilmt worden, und er macht Projekte, in denen er Migrantenkinder auf die Bühne holt und ihnen eine Stimme verleiht. Etwa in "Homestories", das in Essen über Jahre hinweg gespielt wurde.

    "Das Ding an den Rändern gärt so sehr, dass wie so ein kleiner Ventil war, wo sie Dampf ablassen konnten. Und diese Chance haben diese Jugendlichen alle genutzt. Ihnen war klar, dass sie jetzt die Gelegenheit haben, den Menschen da draußen zu sagen, was bei ihnen nicht stimmt. Und viele - da ich mich sehr identifizieren kann mit denen früher so wie ich war -, haben sie eher ihre Probleme und Konflikte mit dem Baseballschläger gelöst. Und so kamen sie hin und haben ihre Sorgen und ihre Nöte auf Papier gebracht und haben sie in Songs reingesteckt oder in ihre Monologe oder in ihre Szenen, damit wir von außen mitkriegen, was überhaupt in ihnen los ist. So. Und das war großartig, also über die Hälfte von denen, die da mitgemacht haben, sind auch im Theater oder in andern Berufen angekommen. Weil sie das als Modell für sich genommen haben, wie man hier wirklich durchkommen kann."

    Nuran David Calis ist für solche Projekte prädestiniert, denn er stammt selbst aus diesem Milieu. Auch er hat als Türsteher sein Geld verdient, das machte ihn in der Theaterwelt noch exotischer, diesen gutaussehenden jungen Mann mit seinen Andeutungen über eine Vergangenheit am Rande der Legalität. Die Realität eines Türstehers aber ist alles andere als exotisch, das stellt der Autor in seinem Roman unbarmherzig klar. Sie ist tödlich langweilig. Es sei denn, man macht sich Gedanken.
    Wie sein Held Alen ist Nuran David Calis im Arbeiterviertel einer westdeutschen Großstadt aufgewachsen und hat durch die Freundschaft mit einer Tochter aus bildungsbürgerlichem Haus eine andere Welt kennengelernt.

    "Ich bin zum Theater gekommen durch eine Liebesbeziehung, einer Verliebtheit in jungen Jahren zu einem Mädchen, das aus einer anderen Schicht kam, einer gebildeteren Schicht, aus einer Schicht, wo es nicht darum ging, wie man den nächsten Monat jetzt hier überlebt, und es war dann so, dass sie mich verführt hat, mit in ein Theaterstück zu gehen, und in diesem Theaterstück habe ich dann zum Theater Feuer gefangen, und mir wurde dann klar, dass die Welt noch aus anderen Dingen besteht, als sich nur Gedanken darüber zu machen, wie man Geld verdient und ob man überlebt, sondern dass es auch einen Raum in der Welt gibt, einen sinnlichen Raum, der sich mit der Welt und den Fragen, die die Welt in sich verbirgt, mit dem Leben konfrontiert, und sich diese Fragen stellt und darüber versucht zu diskutieren und etwas über die Welt rauskriegen möchte."

    Das Stück, das ihn damals so beeindruckte, war "Kabale und Liebe" von Friedrich Schiller. Durch ein Praktikum an den Münchner Kammerspielen kam Nuran David Calis seinem Traum vom Theater näher, er studierte Regie, inszenierte Musikvideos und schrieb Theaterstücke. In Wien wurde seine Inszenierung von Schillers "Räuber" mit dem Nachwuchs-Nestroypreis ausgezeichnet. Zu Friedrich Schiller hat Calis eine besondere Affinität.
    "Er war ein Außenseiter. Er wurde sehr schlecht in seiner Heimat behandelt, er war sehr verletzlich, er hat wahnsinnig viel einstecken müssen, hat dann aber wahnsinnig über seine Kunst auch ausgeteilt – und mich hat beeindruckt, dass er nicht zu einer Waffe gegriffen hat bei der Wut, sondern zu einem Stift. Und das hat mich sehr sehr beeindruckt."

    Hat das auch mit Ihnen zu tun?

    "Ja, ich habe früher in meiner Jugend Konflikte immer mit den Fäusten gelöst. Ich habe aber gemerkt, dass ich, wenn ich einen andern Weg finde über die Kunst, über das Gestalten, über die Auseinandersetzung mit dem Leben, ich viel mehr Dinge bewegen kann, und Menschen auf eine sehr angenehme Art und Weise darauf hinweisen kann, wie Menschen verletzlich sind, und worauf man achten sollte. Und so habe ich gemerkt, dass ich viel mehr Leute erreichen kann – über die Kunst, über die Arbeit."

    Über seinen eigenen Werdegang zum Theater hin schreibt Nuran David Calis in seinem Roman nichts. Er ist nicht Alen, auch wenn ihn viel mit seinem Helden verbindet. Etwa die Geschichte seiner Herkunft aus einer armenisch-jüdisch-türkischen Familie, die mehrere Odysseen und innerfamiliäre Religionskonflikte hinter sich hat, bevor sie in der westdeutschen Großstadt ankommt, wo sie langsam auseinanderfällt. Wie Alen hat sich auch Calis auf die Spuren seiner Vorfahren begeben und dies in seinem Kinofilm "Meine Mutter, mein Bruder und ich" dokumentiert. Als Alen jedoch im armenisch-iranischen Grenzland auf den Berg Ararat blickt, spürt er keine wärmenden Heimatgefühle, sondern bekommt Heimweh nach Deutschland. Er beschließt, zurückzukehren und sich zu integrieren.

    Ich werde mich einnisten wie ein Parasit. In einer Gesellschaft, die ich mir nicht aussuchen konnte. Ich werde ein Held sein, wenn man in mir einen Helden sehen will. Ein Vorbild, wenn es sein muss. Ein abschreckendes Wesen, wenn es sein muss. Ich werde der Teufel sein, wenn sie in mir den Teufel sehen wollen. Ich werde spalten, ich werde zusammenführen. Ich werde Grenzen überwinden und Grenzen ziehen. Ich werde ein guter Junge sein, ich werde ein schlechter Junge sein. Ich werde meinen Namen, mein Geburtsdatum ändern, um dem Bild zu genügen, das man von mir haben möchte.

    Diese Art von Integration ist nicht das Anliegen von Nuran David Calis. Er setzt sich auseinander, in seinen Theaterprojekten ebenso wie in seinem Roman. In ihm finden sich Hasstiraden, die an Hip-Hop erinnern und oft auch in Songtexte übergehen. Es finden sich darin genaue Schilderungen einer Vorstadt zwischen Müllverbrennungsanlage und Klärwerk, aus der die Menschen schwer wegkommen, allein schon, weil der Bus 50 Minuten bis ins Zentrum braucht. "Der Mond ist unsere Sonne" bietet Innenansichten in die Seele der verlorenen Generation. Es sind Klagegesänge von jungen Männern über ihre Chancenlosigkeit, die Entfremdung von den Eltern, ihre Heimatlosigkeit. Was ihnen bleibt, sind: die Straße, das Boxen, die Discos. Wer Türsteher wird, ist schon ein Aufsteiger. Wer gar keine Arbeit findet, landet beim Drogenhandel, wie Alens Cousin Karim. Ihm kann er nicht helfen. Sich selbst zieht er am Schopf aus dem Sumpf. Er notiert Sätze auf Bierdeckeln, nachts an Türe zur Disco. Er schreibt auf, wovon er träumt, dazu hat ihn seine Freundin angeregt, denn nur so könne man Träume verwirklichen.
    Ich bemerkte, wie mich dieses Aufschreiben meiner Wünsche plötzlich hellwach machte. Sich seine Wünsche vorstellen, versuchen, sich seine Wünsche zu erfüllen, brachte mein Blut zum Kochen. Als hätte ich meine Finger in eine Steckdose gesteckt, so sehr glühte meine Hand, die den Stift hielt.

    Nuran David Calis hat sich seine Wünsche erfüllt. Er ist gut angekommen im deutschen Kulturbetrieb. Auch wenn er sich nicht um jeden Preis integriert hat, wie sein Protagonist Alen es sich vornimmt. Calis hat sich seine Wut ebenso bewahrt wie das Bewusstsein seiner Herkunft.

    Nuran David Calis: "Der Mond ist unsere Sonne". Fischer Verlag, Frankfurt/M