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Die Seele des Flusses
Reiseerzählungen über den Po

Trubel, Einsamkeit, Natur, Industrie - der Po ist ein Fluss der Widersprüche. Der heute 71-jährige Autor Paolo Rumiz hat ihm nun ein Buch gewidmet. In der "Seele des Flusses" arbeitet er die Besonderheiten des Po heraus. Unser Autor hat sich mit Rumiz ins Boot gesetzt.

Von Henning Klüver | 14.10.2018
    Der Fluss Po fließt durch die Stadt Turin
    Der Po bei Turin (imago stock&people / Carlox Morucchio)
    Hoch spannt sich der blaue nur mit leichten Schleierwolken durchzogene Himmel über dem flachen Land. Die vielen Arme und Kanäle des Po bilden ein weit ausuferndes Delta. Dann ergeben sich die müde gewordenen Wasser des längsten Flusses von Italien der Adria. Hier wird der Fluss zum Meer.
    Auf dem Po di Goro, einem südlichen Arm des Deltas, folgt an diesem Nachmittag ein kleines Ausflugsboot gemächlich dem mäandernden Wasserlauf zwischen kaum mannshohen graugrünen Schilfrohrgewächsen, die hier und da farblich von lila Strandastern und gelben Schwertlilien durchsetzt sind. Am Steuerruder steht der 45-jährige Gianluca, der noch am frühen Morgen zum Fischen von Muscheln die Arme des Deltas abgefahren hatte.
    In eine Menschen verlassene Landschaft versetzt
    "Morgens zwischen sechs und zehn Uhr sind hier 80, 90 Boote unterwegs, das ist wie eine Autobahn auf dem Wasser."
    Davon ist jetzt nichts mehr zu spüren. Im Gegenteil fühlt man sich in eine von Menschen verlassene Landschaft versetzt. So als hätte sich aus ihr die Zivilisation zurückgezogen. Auf einem Geestrücken sieht man ein verfallenes Lagerhaus. Neben dem leise tuckernden Boot springen kleine Fische aus dem Wasser, in das sie sofort wieder mit einem Plattscher eintauchen. In der Ferne ragt ein Leuchtturm über den Horizont der wuchernden Gräser.
    Mit an Bord ist Paolo Rumiz. Der heute 71-jährige Autor ist durch seine Erlebnisberichte aus Kriegs- und Krisengebieten ebenso bekannt geworden wie durch Reise-Reportagen und Erkundungen von Landschaften. So hat er kürzlich auch mit Freunden den Po zu Wasser auf drei Etappen erkundet. Zuerst mit Kanus, dann mit Ruder-Barken und schließlich auf einem Segelboot. Das war eine überraschend abenteuerliche Reise. Paolo Rumiz erzählt:
    "Auf dem Fluss bleibt man unglaublich einsames, obgleich er eine der meist industrialisierten Gegenden Europas durchquert. Wir haben diese Reise wie ein Abenteuer auf die Art eines Indiana Jones im 21. Jahrhundert in absoluter Freiheit erlebt. Es gab kaum einen Kilometer, wo man nicht abends anlegen und frei sein Zelt für die Nacht aufschlagen konnte."
    Abenteuer auf dem Po
    Der Name Po leitet sich vom Lateinischen Padus ab, das man frei als "Pfad" oder "Weg" übersetzen kann. Ein Weg, der sich rund 650 Kilometer lang vom Piemont aus durch die Lombardei, die Emilia Romagna bis nach Venetien schlängelt. Und sich dabei in einem breiten Flussbett laufend verändert. Von Cremona südöstlich von Mailand an ist er schiffbar. Doch wechselnde Pegel und sich verändernde Strömungsläufe verhindern eine kontinuierliche kommerzielle oder touristische Nutzung.
    "Wenn ich in Schulen von meiner Reise erzähle, sage ich: Ihr wollt Abenteuer? Dann besorgt euch ein Kanu und nehmt euch den Po vor, das ändert den Blick auf Italien. Der Blick auf das Festland verändert sich. Weil die Freiheit, die du unterwegs auf dem Wasser spürst, lässt dich das Festland mit neuen Augen sehen. Das scheint dir von einem Volk der Gestressten und der Verrückten bewohnt."
    Pablo Rumiz ist durch seine Erlebnisberichte aus Kriegs- und Krisengebieten ebenso bekannt geworden wie durch Reise-Reportagen und Erkundungen von Landschaften
    Pablo Rumiz ist durch seine Erlebnisberichte aus Kriegs- und Krisengebieten ebenso bekannt geworden wie durch Reise-Reportagen und Erkundungen von Landschaften (imago stock&people / Leonardo Cendamo Leemage)
    Wo hinter dem Damm der Verkehr tost, regiert auf dem Wasser die Stille. Der Blick fällt auf bewachsene Ufer, auf trockenes Kiesbett, hier und da auf Industrieruinen. Gelegentlich verweisen Kirchturmspitzen auf Ortschaften. Manchmal, so Rumiz, müssen die Boote der Reisegruppe bei gefährlichen Stromschnellen oder bei Barrieren aus dem Wasser geholt und mühsam über Land gezogen werden. Und dann nachts, kommt der Fluss nicht zur Ruhe. Und die Reisenden auch nicht.
    "Wenn du dein Zelt am Flussufer aufschlägst, bleibst du meistens allein. Und dann siehst du nachts ein unbeleuchtetes Schiff schattenhaft vorbei gleiten. Hörst den Wels, wie er nach einem Sprung wieder ins Wasser taucht. Das ist eine Bestie, die auch drei Meter lang und 100 Kilo schwer werden kann. Du kannst eine Herde Büffel hören, die im Schutz der Dunkelheit zur Tränke an den Fluss kommen. Und es gibt viele rätselhafte Geräusche, die dich laufend wecken. In solchen Nächten schläft man nicht viel am Fluss."
    Reden mit dem Fluss
    Die Freiheit am Fluss und auf dem Fluss schafft Räume, die schwer zu kontrollieren sind. "Für einen intelligenten Reisenden ist das ein enormer Vorteil – aber auch für einen intelligenten Kriminellen. Denn der kann transportieren, was er will: Waffen, Drogen, Menschen, ohne dass man sich dessen bewusst wird."
    Polizei und Carabinieri seien an den Küsten immer schnell da, wenn es darum gehe, Strafmandate für Segel- oder Motorboote zu verteilen. Auf dem Fluss aber suche man sie oft vergebens.
    Die Reise dokumentiert unter anderem ein Film, den Alessandro Scillitani, einer seiner Begleiter, gedreht hat. Auf dem Ausflugsboot im Po-Delta geht es inzwischen durch ganz enge Wasserläufe. Das Boot schiebt sich mühsam durch wild wucherndes Farnkraut und Schilfgras, das man greifen kann. Gianluca zeigt, wie man auf dem Schilfgras wie auf einer Flöte blasen kann.
    Blick über Boote auf einen Ausflugsdampfer auf dem Po bei Cremona in der Lombardei. 
    Undatierte Aufnahme: Blick über Boote auf einen Ausflugsdampfer auf dem Po bei Cremona in der Lombardei (dpa)
    Paolo Rumiz hat seine Eindrücke der Fahrt auf dem Po in einem Buch festgehalten. Seine Begleiter und er entdecken unterwegs "Die Seele des Flusses", wie die Reisereportage heißt, die jetzt aus dem Italienischen übersetzt auch auf Deutsch erschienen ist.
    Und langsam verändern sich die Reisenden. Im Buch fängt Rumiz an, mit dem Fluss zu reden: "Der Po wird zu einer Person. Ich habe die richtige Einstellung zur Reise gewonnen, als ich begriff, dass der Fluss nicht einfach nur ein Teil der Landschaft ist, sondern eine Kreatur mit der ich kommunizieren konnte wie die Urvölker der vorchristlichen Zeit mit der Natur."
    Selbstreinigende Kräfte
    Eine Natur, die von Menschen belastet wird. Verschmutz sind zufließenden Gewässer. Die Abwasser der extensiven Landwirtschaft, die die Po-Ebene zu einem der größten Produktionsgebiete von Agrarprodukten in Europa gemacht haben, enden oft ungefiltert im Strombett. Die Reisenden haben einen Situation vorgefunden, die jedoch weniger dramatisch war, als sie sich es vorgestellt hatten. Kies und Sand wären immer wieder in der Lage, die Wasser zu reinigen.
    "Auf der einen Seite sah ich den ökologischen Schaden, auf der anderen Seite diese enorme Kraft zur Selbstreinigung. Man muss das erzählen, denn wenn du sagst, der Fluss ist tot, dann werden ihn alle noch mehr verschmutzen. Wenn du aber sagst, nein der Fluss kann leben, dann werden die Menschen, die an seinen Ufern leben, auch verantwortlicher mit ihm umgehen."
    Mit ihm umzugehen heißt, ihn zu respektieren. Sich vor seinen Hochwassern zu schützen. Ihn bei Niedrigwasser zu schonen. Und ihm zuzuhören.
    "Der Po verändert seinen Klang je nach Lage. Das ist ein ruhiges Murmeln in den stillen Passagen, besonders in den versteckten Mäandern. Das wird zum Donnern, wo er sich zu einem Kanal verengt. Wenn du dich nachts am Ufer zum Schlafen ausstreckst, klingt das vom Wasser her wuchtig wie ein Kontrabass und das begleitet dich die ganze Nacht. Und schließlich verwandeln seine Laute sich zu einem Konzert, wenn er sich dem Ende zu in viele Arme verzweigt, er wird zur Symphonie, spürt die Nähe des Meeres und dem Einfluss von Ebbe und Flut."
    Paolo Rumiz hält eine Karte auf seinen Knien und bespricht mit dem Bootsführer Gianluca die Route, die zum Leuchtturm von Bacucco führt.
    Nach wenigen Minuten legt das Boot an einer Sandbank an und es sind nur noch ein paar Schritte durch den Sand zum Meer, über das der Leuchtturm nachts seine Signale sendet.
    "Das ist ein wunderbarer Ort, um die Reise zu beenden, wo der Fluss eine Metamorphose erlebt und in neuer Form, als Meer wieder aufersteht. Du stehst diesem großen Meer gegenüber. Und hast Lust weiter zu reisen. Das ist die Verwandlung des Flusses, aller Flüsse. In diesem Fall zudem eine besondere. Denn es geht Richtung Osten, in Richtung Wiedergeburt, in Richtung Sonne, die immer wieder kommt."
    Paolo Rumiz: Die Seele des Flusses
    Auf dem Po durch ein unbekanntes Italien
    Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl
    Mit Fotografien von Alessandro Scillitani
    Folio Verlag 2018