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Die Seelenpest

Jürgen Seidels neuester Jugendroman hat einen geradezu reißerischen Titel:

13.03.2004
    Die Seelenpest. Was ist das?

    Die Seelenpest ist ein Gerücht, das wird von Mund zu Mund getragen, und zwar in London im Jahre 1521; das ist Luthers Zeit. Und zwar ist es so, dass in der Stadt an verschiedenen Stellen nacheinander tote Jugendliche aufgefunden werden in diesem Roman, und bei diesen toten Jugendlichen befinden sich Briefe, die scheinbar von ihnen selbst geschrieben worden sind, in denen sie behaupten, sie hätten nicht mehr weiterleben können, weil sie den Glauben an Gott verloren haben. Das ist natürlich sehr abenteuerlich, man macht sich da sehr viel Sorgen und der Titel Seelenpest kommt daher, dass man sich nicht erklären kann, wie das überhaupt möglich ist.

    Soweit das fiktionale Szenarium des Romans , der in einer Zeit weltanschaulicher Fragestellungen und Umbrüche spielt. Seine Kernerfindung ist der perfide Test, ob Jugendliche in der Lage sind ihr Leben normal weiterzuführen, wenn sie tief in ihrem Glauben erschüttert wurden. Diesen Test durchzuführen wird der königliche Brautbeschauer Aron Boggis beauftragt, eine gefährlich skrupellose Gestalt, die zum diabolischen Verführer wird; zum Verführer von Heranwachsenden, deren kindliche Vorstellung von Gott Kontur verloren hat und die sich nun der Ungewissheit, ja Widersprüchlichkeit ihrer Glaubensinhalte bewusst werden. Ihr Selbstmord wäre der Beweis für die Existenz Gottes als des unverzichtbaren Lebenszusammenhalts und würde das Volk vor neuen Glaubensrichtungen abschrecken. Denn der kriminalistische Hintergrund der Geschichte ist eingefärbt von dem Argwohn, die Lutheraner hätten ihre Leute aus Deutschland ausgeschickt, um englische Jugendliche zu ermorden. Nicht von ungefähr finden die mysteriösen Ereignisse 1521 statt, in dem Jahr, als der junge Tudor Heinrich VIII. vom Papst den Titel "Defensor fidei" für seine Schrift gegen die Lutheraner verliehen bekam. Im Roman beauftragt er denn auch seinen fiktiven Unterschatzkanzler Thomas Morland, eine Atheismuskommission einzuberufen, welche die Vorfälle untersuchen soll.

    Jürgen Seidel, der sich als Autor von Romanen in historischem Gewand mit spannender und dichter fiktiver Handlung profiliert hat, setzt das Jahr 1521 aber auch in unmittelbaren Bezug zur Familiengeschichte von Thomas Morus, der Vorlage für seine Hauptfigur Morland. Thomas Morus’ Tochter Margaret wurde in eben dem Jahr mit einem Anwalt verheiratet, was für Seidel zur Initialzündung für die Liebesgeschichte zwischen der 16-jährigen Margaret seines Romans und Andrew Whisper, dem gleichaltrigen Sohn eines heruntergekommenen Ratsschreibers wurde. In der Realität wäre diese zarte, zunehmend leidenschaftliche Beziehung undenkbar gewesen, und auch im Roman können sich die beiden jungen Leute nur heimlich unter dem Schutz von Morlands altem Hausnarren Raspale treffen. Hochbrisant wird die Liaison schließlich, als Andrew in den Sog der sich häufenden Selbstmorde gerät und als geistiger Unruhestifter verdächtigt wird, wo er doch selbst als Opfer ausersehen war.

    Seidel hat diese Romanze behutsam in den geistesgeschichtlichen Kontext der Zeit eingebettet und führt sie geschickt mit seinem Handlungsstrang um die öffentlichen Ereignisse zusammen. Seine Figuren sind klar umrissen. So erweist sich Margaret als starkes, kämpferisches Mädchen, das, vom Vater im Lesen und Schreiben, in Griechisch und Latein unterrichtet, nicht nur dessen Intellekt sondern auch dessen Willenskraft geerbt hat. Ihr individualistisches Aufbegehren gegen die gesellschaftliche Ordnung, die der Vater sowohl in seinem öffentlichen Amt als auch in der Familie vertritt, ist freilich ein Zugeständnis des Autors an seine jugendlichen Leser, ein moderner, vielleicht allzu moderner Brückenschlag ins 16. Jahrhundert, der aber den Zugang zu einer fremden Vergangenheit überhaupt erst ermöglicht. Durchaus glaubwürdig erscheint Lady Alice, Morlands zweite Frau, die er schon vier Wochen nach dem Tode von Margarets Mutter Jane ehelichte, - eine Zweckverbindung, wie sie zum Erstaunen seiner Zeitgenossen ebenso eilig der frisch verwitwete Thomas Morus eingegangen war.

    Lady Alice ist auch – historisch überliefert – ein sehr starker Charakter gewesen; also wenn ich noch mal auf Thomas Moore kommen darf, was eigentlich unzulässig ist, aber diesen Verhältnissen ist das Ganze ja entlehnt, dann ist es so, dass er nach dem Tod seiner Frau Jane sehr schnell, nach vier Wochen ungefähr schon diese Lady Alice geheiratet hat. Man weiß nicht genau, warum, vielleicht ging es nur darum, sozusagen das Haus zu versorgen, aber diese Frau, über die hat er relativ schlecht geredet, wahrscheinlich auch weil sie sehr viel Widerstand geleistet hat, ich rede jetzt in ganz modernen Kategorien, die eigentlich gar nicht zulässig sind.

    Doch um Authentizität im engeren Sinne eines historisch biografischen Romans geht es Jürgen Seidel nicht, sondern um ein kriminalistisches Verwirrspiel, um ein Mordkomplott mit dem Zeug zur Staatsaktion. Denn der Schuldige, der den Londoner Internatsschülern mit Satans Zunge ins Ohr flüstert und letztlich selbst Hand anlegt, um die Verzweiflungstaten vorzutäuschen, die seine Auftraggeber fordern, - er wird gefunden; auch sein Helfershelfer, der gefürchtete Lehrer Clifford. Die Auftraggeber aber, deren Machtinteressen der Blutzoll entrichtet wird, sie bleiben im Dunkeln. All das ist ästhetisch gelungen und sehr spannend erzählt, mit der Option für den Leser, sich über die Hintermänner seine eigenen Gedanken zu machen. Könnte nicht der König selbst die Schlüsselfigur sein?

    Auch Thomas Morland gibt Rätsel auf. Er ist ein zwiespältiger Charakter, ein Machtmensch einerseits, ein liebevoller Vater andererseits, ein ehemaliger Kartäuser, der sein Ziel, dass der Geist den Körper überwinden solle, nicht erreichte; ein geheimer Zweifler, der sich selbst kasteit. In der Figurenkonstellation ist sein – wenn auch kleinformatiges – Pendant der Lehrer Clifford, der wie Morland das Zerquälte eines Gläubigen mit sich trägt, weil er um seine Schuldhaftigkeit weiß und der den physischen Schmerz, die Folter anderer in dem Mechanismus von Strafe und Angst einsetzt, um die gottgewollte Ordnung aufrechtzuerhalten. "Gott ist das Netz, in welchem wir uns verfangen, aber er ist auch das Netz, das uns zusammenhält, das uns als Gemeinschaft aller Christen eint. Ohne dieses Netz ist jeder auf sich selbst geworfen und verloren.", so predigt er den Schülern des Internats New Inn.. Diesem religiösen Eiferer heiligt der Zweck jegliche Mittel; so wird er zum Komplizen von Aron Boggis und fast – darin liegt die tragische Pointe – zum gedungenen Mörder.

    In der Elite-Schule New Inn wie im Hause Morland herrscht eine merkwürdige Atmosphäre, eine Mischung aus Unterdrückung und liberalem Miteinander.

    Diese Zwiespältigkeit halte ich für ein ganz wichtiges typisches Zeichen dieser Zeit, gerade was die Beziehungen zur Religion betrifft. Das ist ja nun gerade die Zeit, wo gewissermaßen die Gottesbilder umbrechen, von einem unpersönlichen strafenden Gott weg zu dem, was später im Pietismus sehr persönlich wird als Gottes Entdeckung in einem selber. Die wirklich moralische Zwiespältigkeit dieser Zeit, man muss sich heute mal vorstelle, wie die sich bekämpft haben, auch um religiöse Fragen. Wenn man sich überlegt, was zum Anbruch der Reformation an Gewalt aufeinander ausgeübt wurde, dann ist das ja heute fast nur noch mit fundamentalistischen Verhältnissen in anderen Weltkreisen zu vergleichen.

    Und diesen Zwiespalt in der Seele auch in die Figuren hineinzulegen, sie nicht eindimensional darzustellen, ist dem Autor hervorragend gelungen.

    Es ist der Versuch zu zeigen, wie individuelle Momente in das Gesellschaftliche hineingreifen und zwar im Rahmen der Familie förmlich.

    Während Thomas Morland versucht, Klarheit in die merkwürdigen Geschehnisse um die Seelenpest hineinzubringen, findet er auch in seiner eigenen Biografie zwiespältige Augenblicke, die ihm das Leben schwer machen.
    Und sein Handlungsmovens ist nicht allein das lautere Streben nach Gerechtigkeit sondern ebenso Eifersucht, Hass, Rachegelüste.
    So ist es auch nicht allein väterliche Güte, wenn er Margaret und Andrew schließlich gemeinsam in Sicherheit bringt. Mindestens ebenso sehr wird er durch seine Tochter dazu gezwungen.

    Der Vater von Margaret, er hilft ihnen, er hat die Macht, er kann das tun, und sie werden im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Londoner Verkehr gezogen und werden dann natürlich auch dem Zugriff enthoben der hoheitlichen Kräfte, die es dort gegeben hat und die ja noch immer nach ihnen suchen, weil ja dort falsche Schuld zugewiesen wird, so ist es zu verstehen.

    Der Hausnarr Raspale hat Andrew und Margaret in Morlands Auftrag nach Whitefrairs gebracht, einen autarken Asylbezirk, in den keine Soldaten, Büttel oder Bedienstete eindringen können. Von hier sollen sie durch einen geheimen Gang aus der Stadt gelangen und bei einem Bekannten unterkommen, bis sich die Aufregungen um die Seelenpest gelegt haben. Ob sie eine gemeinsame Zukunft haben, bleibt ebenso offen wie die Frage nach dem Ende des Narren Raspale, der, beklebt mit unzähligen Fliegen- und Libellenflügeln, zum Sprung ansetzt, - um sich in den Tod zu stürzen oder zum schwerelosen Flug durch den endlosen Raum zu erheben? Hier zieht der Autor die Karte seiner poetischen Freiheit.