Dienstag, 16. April 2024

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Die Sonnenseiten Montaignes

Kann man es dem Eichborn Verlag verübeln, dass er seinen Montaigne nun noch einmal unters Lesevolk zu bringen versucht? Hat der fulminante Großband mit den ‚Essais’ vor einigen Jahren nicht schon genug Begeisterung eingeheimst? Nein, diesem wunderbaren Autor aus dem sechzehnten Jahrhundert, mitsamt seinem Übersetzer und Siegelbewahrer Hans Stilett, kann man überhaupt nichts übel nehmen.

Von Harro Zimmermann | 20.12.2005
    Es ist schon so, wie der Herausgeber zu Beginn anmerkt – in diesem schönen Büchlein haben wir es mit der Sonnenseite des großen Essayisten und Skeptikers zu tun. Hier ist er ganz bei sich selber, gelöst und heiter, und doch immer auch frappiert von jenem Wesen, das sein eigenes ‚Ich’ heißen könnte:

    "Ich habe auf der ganzen Welt bisher kein ausgeprägteres Monster und Mirakel gesehn als mich selbst. Zeit und Gewöhnung machen einen mit allem Befremdlichen vertraut; je mehr ich aber mit mir Umgang pflege und mich kennen lerne, desto mehr frappiert mich meine Ungestalt, desto weniger werde ich aus mir klug."


    Dass einer bei seinem Ego zu philosophieren beginnt, aber aus sich selber nicht klug werden kann, das haben nicht nur die scholastischen Denker seines, des sechzehnten Jahrhunderts, längst verlernt, das ist auch den Rationalisten der jüngsten Zeit ein durchaus fremder Gedanke. Die einen wie die anderen sind für Montaigne daher "Ergo-Kräher", Virtuosen der lebensleeren Denkbewegungen also, abstrakte Systematiker, die Platon, dem Vater allen Philosophierens, den Rücken gekehrt haben. Philosophie, so beteuert Montaigne inmitten einer von Glaubensspaltungen, vom Ketzer- und Hexenwahn geprägten Zeit, sei derzeit nur Schall und Rauch, sie besitze kaum noch einen humanen Wert, schlimmer noch, ihr sei die "Weisheit" abhanden gekommen:

    "Das deutlichste Kennzeichen der Weisheit ist ein stetes Vergnügtsein; ihr Zustand gleicht den Dingen unterm Monde: heiter immerdar. Es ist das geheimnistuerische Abrakadabra, das ihre Nachbeter so rauch- und rußgeschwärzt dastehen lässt, nicht sie selbst: Sie kennen sie ja nur vom Hörensagen. In Wirklichkeit macht sich die Weisheit ans Werk, die Stürme der Seele zu besänftigen und den Hunger wie das Fieber lachen zu lehren, nicht durch haltlose Spekulationen über planetarische Haupt- und Nebenkreise, sondern durch naheliegende, handgreifliche Vernunftgründe. Ihr Ziel ist die Tugend, die keineswegs, wie die Schulmeister behaupten, auf der Spitze eines steilen, zerklüfteten und unzugänglichen Berges thront."

    Nein, der Lebensort der Weisheit ist die alltägliche Mühsal der Welt, die mit praktischer Vernunft bewältigt sein will. Michel de Montaigne, der große Skeptiker unter den Weltweisen des europäischen Humanismus, der weder vom christlichen Heilswissen noch vom neuzeitlichen Rationalismus erbaut ist, kann also nur zum Interpreten der Individualität in prekärer Zeit werden. Jeder Bewusstseinszustand des Individuums, jede Erkenntnis ist so ungewiss und undurchsichtig wie das Leben selber – nicht planbar, schwankend, voller Ungereimtheiten und Widersprüche. Dagegen kann im Extremfall nicht einmal das Heilkraut ‚Weisheit’ etwas ausrichten:

    "Einer mag so weise sein wie er will, letztlich bleibt er ein Mensch – was aber gibt es Hinfälligeres, Erbärmlicheres und Nichtigeres? Keine Weisheit reißt uns aus unserem naturgegebenen Ausgesetztsein zurück."

    Und doch ist dies keineswegs das letzte Wort des heiteren Weltbetrachters Montaigne. Der nüchterne Blick auf die Unabwendbarkeiten des Lebens, auf die Endlichkeit, ist ja nicht mehr als ein notwendiges Element dieses lebensbejahenden Skeptizismus. Wer sich selbst als Monster und Mirakel sehen gelernt hat, der ist auch in der Lage, mit den Widrigkeiten des Daseins fertig zu werden. Das große ‚Nein’ alles Lebensfeindlichen fordert bei Montaigne ein heiteres ‚Ja’ heraus, lachend will er die Wahrheit sagen, und schmecke diese Medizin noch so bitter. Deshalb erforscht er den Eigensinn und die Rebellionen seines Körpers gegen seinen Willen und seine Vernunft, deshalb experimentiert er mit den unwillkürlichen und willkürlichen Reaktionen seiner Seele, deshalb treibt er seinen Geist und seine Phantasie hinaus auf die Märkte des Lebens, denn die Welt, sagt Montaigne, ist nichts als eine "Schule der Erkenntnissuche". Und wo vermöchte man mehr zu lernen über sich selbst und die Wirklichkeit als in der Erfahrung der Liebe und des Todes, die – recht besehen – einander doch so nahe sind:

    "Jeder läuft weg, wenn der Mensch geboren wird, jeder läuft herbei, wenn er stirbt. Um ihn fertig zu machen, wählt man ein weites Schlachtfeld im hellen Tageslicht; um ihn anzufertigen, verkriecht man sich in den engsten und dunkelsten Winkel: Die Pflicht gebietet, ihn heimlich zu erschaffen und hierbei zu erröten, Ruhm aber bringt es ein, ihn hinwegzuraffen und zu töten, und eine ganze Reihe Tugenden folgt dem nach."

    Der gewitzte Blick aufs Gewöhnliche enthüllt sein Paradoxes, sein Unerhörtes. Daher ist noch der Tod für Montaigne eine, wenn nicht die Bedingung des Lebens. So wie wir auf uns selber hören sollen, um alles zu erfahren, was wir "im wesentlichen brauchen", möchte der Philosoph uns auch sterben lehren, damit wir leben können. Die Bitterkeit unserer Todesvorstellung, unsere Angst vor dem Unheimlichen des Endes, ist für Montaigne bloß das "Werk unserer Ungeduld". Was aber dem Philosophieren aufhilft, die Lust und die Kraft der Selbstreflexion, vermag auch über die Endlichkeit hinweg zu trösten:

    "Das Vorbedenken des Todes ist Vorbedenken der Freiheit. Wer sterben gelernt hat, hat das Dienen verlernt. Sterben zu wissen entlässt uns aus jedem Joch und Zwang. Das Leben hat keine Übel mehr für den, der recht begriffen hat, dass der Verlust des Lebens kein Übel ist."

    "Von der Kunst, das Leben zu lieben"
    Von Michel de Montaigne
    (Eichborn Verlag)