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Die Sorge vor künftiger Ungleichheit per Verfassung

Tunesiens Frauen hatten einen gehörigen Anteil am Sturz des Ben-Ali-Regimes. Doch im Verfassungsentwurf will die islamistische Regierung die Gleichheit der Geschlechter nicht festschreiben, sondern lediglich, dass sich Frauen und Männer ergänzen.

Von Hendrik Buhrs | 19.08.2012
    Wird die Frau in Tunesien bald nur noch als Gefährtin ihres Mannes definiert?
    Wird die Frau in Tunesien bald nur noch als Gefährtin ihres Mannes definiert? (picture alliance / dpa / Robert B. Fishman)
    "Ich demonstriere heute hier für meine Tochter und meine Enkelin. Meine 82-jährige Mutter und ich, wir konnten unsere Rechte genießen. Jetzt wollen sie diese Rechte ändern, doch wir werden das verhindern."

    Tunesiens Frauen hatten einen gehörigen Anteil am Sturz des Ben-Ali-Regimes. Die Rechtsanwältin und Aktivistin Radhia Nasraoui sagt, ohne starke, mutige, selbstbewusste Frauen wäre die Revolution undenkbar gewesen.

    "Ich sehe viele Frauen in Tunesien, die das verteidigen, was wir erreicht haben – es ist ein Teil der Kultur geworden, der Identität. Dass die Frauen einfach sichtbar sind in der Gesellschaft, dass sie sich zu Wort melden, sich politisch engagieren. Das ist etwas Normales geworden, und das ist wunderbar. Es gibt auch Frauen, die in der Wirtschaft Erfolg haben. Ich kann nicht verstehen, wie einige Leute das wieder in Frage stellen können."

    Frauen demonstrierten gegen die Machtclique von Ben Ali, Frauen bloggten an der tunesischen Staatszensur vorbei, Frauen luden Videoclips über illegale Demonstrationen auf die Youtube-Plattform, genauso wie die Männer. Nun heißt es aber im Entwurf eines Artikels für die neue tunesische Verfassung:

    "Der Staat garantiert den Schutz der Rechte der Frau und ihres Besitzstandes, unter dem Prinzip der Komplementarität mit dem Mann im Schoße der Familie – und als beim Aufbau des Vaterlandes dem Mann zur Seite gestellt."

    Komplementarität, also Ergänzung – "zur Seite gestellt" – das interpretieren viele Tunesierinnen so, als wenn sie für sich genommen nicht zählen würden, nur als Anhängsel der Männer. Zwar muss die umstrittene Formulierung noch im Übergangsparlament, der Verfassungsgebenden Versammlung, eine Mehrheit finden. Das könnte sich bis in den Frühling hinziehen, weil die Ausarbeitung des demokratischen Grundgesetzes insgesamt hinter dem Zeitplan zurückhinkt. Aber gerade deshalb sei es wichtig, sich bemerkbar zu machen, meint die Journalistin Sihem Bensedrine.

    "Die Regierung wird von Ennahda dominiert - es ist eine konservative Regierung. Und von ihr erwarte ich nicht, dass sie in Sachen Modernität viel bewegt. Es ist die Zivilgesellschaft, die sich organisieren, die Druck machen muss, denn es geht nicht nur um die eine oder andere politische Reform – es geht um das Erbe der Revolution!"

    Tunesiens Staatsgründer Bourguiba ließ bei der Unabhängigkeit von Frankreich 1956 die Gleichheit der Geschlechter in die damalige Verfassung schreiben. Das Land, obwohl keine Demokratie, hatte damals für die islamisch-arabische Welt hervorragende Frauenrechte – damals wie heute. Polygamie ist verboten, es gibt gleiche Rechte in der Bildung oder auf dem Arbeitsmarkt, die Scheidung ist problemlos, Zwangsheiraten gibt es nicht. Ein Blick zum Beispiel nach Marokko oder Ägypten erzählt andere Geschichten von Frauenrechten à la Nordafrika.

    Die Regierungspartei Ennahda, die man als konservativ oder gemäßigt islamistisch bezeichnen kann, scheint einen Mittelweg zu suchen zwischen der Kritik von Zivilgesellschaft und Opposition einerseits, aber den noch viel deftigeren Forderungen vom extremen Rand auf der anderen Seite. Die neue Redefreiheit nützen auch die Fundamentalisten, die Frauen am Herd und verschleiert sehen möchten. Es vergeht kaum eine Woche in Tunesien, in der nicht irgendwo bärtige Salafisten liberale Kunstausstellungen stürmen. Professorinnen, die ihren Studentinnen verbieten, im Ganzkörperschleier zur Uni zu kommen, berichten von Prügeldrohungen gegen sie. Und dann gab es noch diese junge Tunesierin, die in London bei den olympischen Spielen sehr erfolgreich ihre Runden drehte.

    Habiba Ghribi, mit Silber im 3000-Meter-Hindernislauf die erste Tunesierin überhaupt, die eine Medaille für ihr Land gewann. Daheim wogte aber eine hitzige Debatte, ob die Leichtathletin nicht zu unanständig gekleidet sei.

    Wohlgemerkt trug sie mit Top und Sportshorts nichts anderes als ihre Wettbewerber im Stadion. Aber: "Wir brauchen keine Medaillen von nackten, schamlosen Frauen" erboste sich ein Facebook-Schreiber. Habibas Fans keilten zurück, die Sportlerin habe der Weltöffentlichkeit ein tolles Tunesienbild vermittelt, einen Erfolg, den die Politik in Tunis bisher nicht zustande gebracht habe.

    Premierminister Hamadi Dschelabi gingen die Diskussionen der vergangenen Tage dann doch zu weit. Im Gespräch mit dem Sender France 24 stellte er klar, in der Verfassungsdebatte handele es sich um Vorschläge im Rahmen der Meinungsfreiheit. Die Gleichberechtigung werde nicht angetastet. Im Übrigen sei er schockiert und betrübt gewesen über die Schmähkritik an Habiba Ghribis Laufkleidung.

    Bis Anfang September ist jetzt erst einmal Sommerpause in der Politik, dann wird weiter an der Verfassung gearbeitet. Die 29-jährige Bloggerin Yamina hat den Glauben an ein Miteinander von Islam und Demokratie in Tunesien noch nicht verloren. Dabei dürfte sie den Radikalen ein noch röteres Tuch sein als Habiba Ghribis knappe Sporthose, denn Yamina ist selbstbewusst und homosexuell. Für sie ist der Islam die Religion des Respekts.

    "Das ist mein Way of Life... Den werde ich nicht ändern. Nein, ich lebe weiter wie bisher. Das ist meine Art, Widerstand zu leisten gegen alle Versuche, mich einzuschränken. Nur dann kann man verstehen, was Rechte sind: indem man sie lebt – und dann auch verteidigt."