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"Die SPD fliegt gerade auseinander wegen Stuttgart 21"

Durch die Massendemonstrationen ist die Politik unter Druck geraten, deshalb sieht Gangolf Stocker - Stadtrat und Chef der Bürgerinitiative Leben - weiterhin Chancen, das Bahnprojekt "Stuttgart 21" zu verhindern.

Gangolf Stocker im Gespräch mit Martin Zagatta | 02.10.2010
    Martin Zagatta: Am Telefon bin ich nämlich mit Gangolf Stocker verbunden, dem Stadtrat und Chef der Bürgerinitiative Leben in Stuttgart, der den Widerstand gegen den Neubau des Bahnhofs schon seit den 90er-Jahren organisiert. Guten Morgen, Herr Stocker!

    Gangolf Stocker: Guten Morgen!

    Zagatta: Herr Stocker, haben Sie gestern Abend irgendetwas anders gemacht, damit es bei dieser Großdemonstration gestern Abend friedlich geblieben ist?

    Stocker: Nein, nein, wir haben auch am Tag zuvor nichts anderes gemacht, als friedlich zu demonstrieren. Und gestern Abend war es offenbar ja so, dass die Polizei zu ihrer alten Deeskalationsstrategie wieder zurückgefunden hat, das heißt, sie haben, die Polizei hat sich merklich zurückgehalten.

    Zagatta: Was sagen Sie denn zu den Vorwürfen, die der Innenminister da gerade erhoben hat, dass ihm die Polizei versichert, also man habe da handfeste Beweise, dass die Gewalt von Jugendlichen oder zumindest von Demonstranten ausgegangen sei?

    Stocker: Ja, die habe ich ja halt eben nicht, diese Beweise. Also ich habe mit Freude zur Kenntnis genommen, dass der Rech auch gegebenenfalls zurücktreten wird, ich denke, das ist auch dringend notwendig. Ich habe heute oder gestern Morgen zum Beispiel von Polizeibeamten gehört, und da wurde behauptet, dass 14-jährige Mädchen zum Beispiel mit Pfefferspray ausgewachsene Polizeibeamte angegriffen haben. Also solche Geschichten, die glaubt Ihnen wirklich niemand. Und ich sage Ihnen, ich war da unten, ich war mehr als zehn Stunden unten im Schlossgarten, es gab nur einen friedlichen Protest, es gab keinerlei Gewalt von Demonstranten gegenüber der Polizei, aber umgekehrt sehr wohl. Ich habe heute Morgen auch noch gelesen, das fand ich sehr witzig, dass sich auch Mappus, Ministerpräsident von Baden-Württemberg, darüber beschwert, dass es keine Bilder in der Presse gab von Gewalt der Demonstranten. Ja, wenn sie halt keine Gewalt ausüben, dann kann es auch keine Bilder geben.

    Zagatta: Aber die deutsche Polizei – wir sind ja nicht in irgendeiner Bananenrepublik –, die deutsche Polizei schlägt doch eigentlich nicht ohne Grund los. Unterstellen Sie das den Beamten?

    Stocker: Das würde ich auch nicht unterstellen, aber es gibt in der Polizei solche und solche, wie in der Bevölkerung auch. Und es gibt auch bei der Polizei Schläger, also das muss man auch sagen. Und da waren auch welche dabei mit Sicherheit. Die anderen Kollegen bei der Polizei, ich glaube nicht, dass sie sich sehr wohlgefühlt haben. Es gab Phasen am Anfang, wo man sehr wohl miteinander gesprochen hat, Demonstranten und Polizisten, wo man sich ausgetauscht hat, wo man gefragt hat, wo kommen Sie denn her, und dann hieß es eben aus Bayern oder aus Köln oder was weiß ich wo. Ich glaube, ein großer Teil der Polizisten, der wusste gar nicht so richtig, um was es hier eigentlich geht. Umgekehrt, bei der Stuttgarter Polizei, zu der haben wir ein eigentlich gutes Verhältnis, ich weiß auch, dass 60 bis 80 Prozent – es gibt unterschiedliche Zahlen – der Polizisten in Stuttgart hinter uns stehen und ungern eigentlich da ihren Dienst antreten. Und auch bei der baden-württembergischen Polizei haben wir ganz andere, zu der haben wir ganz andere Verhältnisse. Aber wenn man natürlich Polizisten aus dem ganzen Bundesgebiet zusammenkratzt und hierher schickt und unter Umständen eine auch sehr verwirrende Taktik anwendet – das war zumindest am Anfang so –, dann kommt es halt zu Frustrationen. Und irgendwann mal eskaliert die Gewalt vonseiten der Polizei, und zwar ganz gewaltig. Also es war wirklich schrecklich am Donnerstag.

    Zagatta: Der Innenminister hat Sie hier bei uns im Deutschlandfunk gerade noch einmal aufgefordert, an den Verhandlungstisch zurückzukehren, was Sie ja abgelehnt haben – müssen Sie sich nicht jetzt zur Klärung der Vorwürfe zumindest zusammensetzen?

    Stocker: Also da schwebt aber Herrn Mappus und Herrn Rech keine Verhandlungen, über was denn bitte, vor, sondern wir sollen an den Tisch zurückkehren, um sozusagen unser Einverständnis zu "Stuttgart 21" zu unterschreiben, das werden wir nicht tun. Da hat wohl niemand Verständnis in Baden-Württemberg, auch bei den Protestierenden nicht, dass wir eine solche Farce irgendwo auch nur ansatzweise mitmachen.

    Zagatta: Wie wird das jetzt aus Ihrer Sicht weitergehen, sehen Sie denn überhaupt noch Chancen, diesen Neubau zu verhindern, denn auf politischer Ebene – und wir haben ja eine repräsentative Demokratie – ist die CDU dafür, die FDP ist dafür, und die SPD-Spitze hat ja auch erklärt, also sie ist für dieses Projekt.

    Stocker: Also zunächst mal, die SPD fliegt gerade auseinander wegen "Stuttgart 21", und das ist auch gut so, denke ich mal. Zum anderen, wir haben natürlich, klar, wir stellen auch nicht die repräsentative Demokratie infrage, das ist gar keine Frage, und wir stellen auch nicht infrage, dass nach den Regeln der repräsentativen Demokratie die Entscheidungen für Stuttgart 21 korrekt zustande gekommen sind. Aber das Problem ist, die Politik muss halt auch zur Kenntnis nehmen, dass die Bevölkerung aber "Stuttgart 21" eben nicht will. Und da kann ich mich nicht ständig sozusagen auf die parlamentarische Demokratie und die gefällten Entscheidungen gerufen, ich muss einfach zur Kenntnis nehmen, dass die Bevölkerung dieses Projekt nicht will.

    Zagatta: Aber ist das jetzt noch rückgängig zu machen in diesem Stadium, da hat doch ...

    Stocker: Klar, und zwar einfach ... wir haben doch erreicht jetzt mit diesen großen Massendemonstrationen, zweimal in der Woche, dass die Politik unter Druck gerät. Ich sagte schon, die SPD kippt gerade, und es wird nicht mehr lange dauern, bis die CDU auch ans Nachdenken kommt, weil viele CDU-Mitglieder sind bei den Protestierenden, viele haben auch schon erklärt, bei der Landtagswahl nicht mehr CDU wählen zu wollen. Die CDU wird sehenden Auges in eine Niederlage, in eine Wahlniederlage reinfahren, wenn sie ihre Haltung so weiter behält, und es gibt auch jede Menge Mandatsträger in der CDU, die demnächst beim Herrn Mappus auf dem Teppich stehen und sagen: He, wenn du diese Politik so weiter betreibst, bin ich mein Mandat los, und da bin ich überhaupt nicht mit einverstanden. Also da passiert noch etwas bei der CDU, da bin ich ganz sicher.

    Zagatta: Und Sie wollen diese Demonstrationen fortsetzen, davon gehe ich jetzt einmal aus ...

    Stocker: Ja.

    Zagatta: Haben Sie nicht Angst, dass jetzt da nach diesen Szenen, die wir da vorgestern erlebt haben, dass da jetzt Autonome auf diesen Protest aufspringen und dass es jetzt dann immer wieder zu solcher Gewalt kommt?

    Stocker: Also ich hatte am Mittwochabend die Information, dass Autonome anreisen wollen. Ich hatte mich dann mit der Polizei darauf verständigt, dass wir versuchen, diese autonomen Gruppen im Vorfeld schon abzugreifen, dass die also nicht in den Schlossgarten hineinkommen, also Kinder und Rentner und dann noch Autonome, das wollten wir auf gar keinen Fall. Ich weiß nicht, ob die Polizei das gemacht hat. Es gab ein paar Autonome innerhalb der Gruppe – also ich muss ausdrücklich sagen, das ist ein bürgerlicher Protest, die fallen da gar nicht auf. Dann zwei, drei haben Rauchbomben geschmissen, aber das war wirklich alles, was ich gesehen habe überhaupt, dass es irgendwo – und Rauchbomben sind ja nun mal wirklich nicht gerade ein großes Problem, auch gesundheitliches Problem nicht, eigentlich im Prinzip ist das so was wie ... ich schätze es als harmlos ein. Aber da gab es zwei, drei solche Rauchbomben, das habe ich gesehen, aber das war wirklich alles, was, wenn man das jetzt als Aggression gegen die Polizei bezeichnet, an Aggression gegen die Polizei gelaufen ist, mehr nicht.

    Zagatta: Das war Gangolf Stocker, der Chef der Bürgerinitiative Leben in Stuttgart. Herr Stocker, bedanke mich für das Gespräch, schönen Tag!

    Stocker: Bitte, bitte!

    Weitere Informationen zum Thema:
    Friedlich oder nicht? "Stuttgart 21"-Protest in der Kritik - Bürgerinititative vermutet Strategiewechsel der Polizei, Aktuell vom 2.10.2010