Freitag, 19. April 2024

Archiv


Die SPD rechnet mit sich selbst ab

Sigmar Gabriel und Andrea Nahles. Das sind die neue Gesichter der SPD. Sie lösen die alten Genossen wie Franz Müntefering ab, die nach elf Jahren Regierungsbeteiligung der SPD nun nicht ganz freiwillig abtreten. Auf dem Parteitag in Dresden fand die Übergabe statt - und auch die Kehrtwende für die SPD?

Von Peter Kapern und Christiane Wirtz | 15.11.2009
    Das Willy-Brandt-Haus in Berlin. Fünfte Etage. Die Chefetage. Da, wo der Architekt einen Raum wie eine Kommandobrücke auf einem Schiff geplant hat, da ist das Büro des Vorsitzenden. Hier hämmert Franz Müntefering seit etlichen Tagen seine Parteitagsrede in seine Gabriele, seine alte mechanische Schreibmaschine. Ganz allein. Es wird seine letzte große Rede auf einem Parteitag sein. In den Tagen und Wochen davor ist viel in seine ungehaltene Abschiedsrede hineingeheimnisst worden. Auch von Müntefering selbst. Es dränge ihn, etwas zum Zustand der SPD zu sagen, solche oder ähnlich düstere Andeutungen hat er gleich reihenweise fallen lassen.

    Was also wird Müntefering in Dresden sagen? Wird er den Zorn des linken Flügels über das Wahldebakel noch anfachen? Wird er sagen, dass alles richtig gewesen sei - Hartz IV und die Rente mit 67? Manch ein Genosse sorgt sich mit Blick auf die Rede um den Parteitagsfrieden. Müntefering war schon ganz vorn dabei, als die SPD Mitte der 90er Anlauf nahm, die Macht im Bund zu erobern. Kult ist er geworden in dieser Zeit, Harald Schmidt steckte sich Haartoupets an die Ohren, um den Sauerländer zu persiflieren. Die SPD verlor ihren Kanzler, sie verlor reihenweise Vorsitzende. Franz Müntefering blieb. Bis zu diesem Freitag, den 13. November 2009. Ein Unglückstag für die SPD? Das könnte auch von seiner letzten Rede abhängen.

    Ortswechsel. Der Bahnhof von Kassel im nördlichen Hessen. Eine Woche vor dem Dresdner Parteitag. Der Zeitungsladen hat geöffnet, der Bahnhofsbäcker auch. Der Umsatz ist mau. Kundschaft ist Mangelware. Es ist Sonntag, der Bahnhof fast menschenleer. Nur das Bahnhofscafe ist gut gefüllt. 300 Genossen treffen sich hier, um den Parteitag vorzubereiten. Basisratschlag nennt sich das Ganze. Im Berliner Willy Brandt-Haus wird dahinter nichts anderes vermutet als ein Treffen der Altlinken, die das Messer wetzen wollen für die Generalabrechnung auf dem Dresdner Parteitag.

    Ein Blick auf die erste Reihe im Bahnhofscafe scheint den misstrauischen Berlinern Recht zu geben. Rudolf Dressler sitzt da neben Otmar Schreiner. Auch die frühere Spitze der Hessen-SPD. Andrea Ypsilanti und Hermann Scheer. Der gehört der SPD seit 1965 an, ein Jahr länger als Franz Müntefering. Er hat die Umwelt- und Energiepolitik der Partei federführend mitgestaltet, 1999 den alternativen Nobelpreis bekommen. Fast wäre er vor einem Jahr Wirtschaftsminister in Hessen geworden. Unter Andrea Ypsilanti. Die Sache ist schiefgegangen. Das kreidet er der Schröder-SPD an. Die Schröder-SPD, das ist eine Chiffre, die in Kassel für alles steht, was in den vergangenen elf Regierungsjahren aus Sicht der Linken falsch gelaufen ist: Das Schröder-Blair-Papier und die Hartz-Gesetze. Selbst die Rente mit 67 - auch wenn Schröder da schon gar nicht mehr Kanzler war. Alles Schröder-SPD. Und wer dieses Wort hier im Bahnhofscafe von Kassel in den Mund nimmt, lässt es verächtlich klingen. Die Politik der Schröder-SPD wollen sie rückgängig machen. Und - auch das macht Hermann Scheer hier deutlich - sie wollen, dass in der Partei wieder offener diskutiert wird über den politischen Kurs. Denn die SPD habe eine miserable Streitkultur:

    "Das hängt sehr stark mit der Ära Schröder zusammen, ein sehr technokratisches Führungsverständnis, wo man so tut als wäre man quasi unfehlbar."

    Die Forderung nach einer Rückabwicklung der Rente mit 67, eine Totalrevision von Hartz IV, darauf haben sich die Genossen im Kasseler Bahnhof schnell verständigt. Und auf den Wunschzettel kommt auch das Ende der Basta-Politik, die Herman Scheer eindeutig mit den Namen Schröder und Müntefering verbindet. Wir brauchen eine Redemokratisierung der Partei, auf diese Formel bringt er es in Kassel. Dann verlassen die Genossen das Kasseler Bahnhofscafe, gehen durch die leere Halle zu den Bahnsteigen oder zum Parkplatz. Hermann Scheer wird in Dresden nicht noch einmal für den Vorstand kandidieren, dem er seit mehr als 15 Jahren angehört. Dort in der Parteispitze verortet er die - wie er sie nennt - Heckenschützen, die Andrea Ypsilanti zu Fall gebracht haben. Mit denen will er nichts mehr zu tun haben, erzählt er und klingt dabei verbittert:

    "Ich bin nicht verbittert, ich möchte nur mit bestimmten Personen nicht mehr allzu viel im laufenden Verfahren zu tun haben."

    Fünf Tage später. Dresden, die Messehalle. Es ist Freitag der Dreizehnte, elf Uhr morgens. Franz Müntefering steht auf, geht zum Rednerpult. Grauer Anzug, rote Krawatte, versteinerter Blick. Jetzt wird er das Geheimnis lüften, das er bislang nur mit seiner Gabriele geteilt hat. Es folgt keine reuevolle Rede, wie sie sich viele gewünscht hatten. Nein, Müntefering trägt heute kein Büßergewand. Vieles sei gut gewesen, als die SPD regiert habe, manches sei misslungen. Das ist alles, und im Saal wird es schlagartig kühl. Die tiefere Ursache des Wahldebakels: Die wachsenden zentrifugalen Kräfte in der Gesellschaft. Die zunehmende Partikularisierung, auch in der Partei:

    "Die SPD laboriert außerhalb und innerhalb an diesem Prozess der Partikularisierung. Diese fatale Entwicklung wenigstens jetzt in der Opposition und in dieser Lage zu beenden wäre verantwortlich, liebe Genossinnen und Genossen. Für alle, die es angeht, lasst diese Art von Flügelei, lasst diese Art von Flügelei."

    Mit solchen Sätzen gerät seine Rede immer mehr zu einem politischen Vermächtnis. Zum Vermächtnis eines strengen Steuermanns, der von Bord geht, und vorher noch ein letztes Mal am Ruder den Kurs einstellen will. Weil, das macht er klar, die SPD auch an sich selbst gescheitert sei. Das Wort fördern sei ihr immer leichter über die Lippen gegangen als das Wort fordern, sagt er, und attestiert seinen Genossen damit einen Hang zu sozialpolitischer Verschwendungssucht. Dann weiter: Der demografische Wandel sei eben nicht mit Routine und Nostalgie zu bewältigen. Klare Botschaft: Die Rente mit 67 muss bleiben. Und dann, westfälisch-knapp, eine Abrechnung mit der sozialdemokratischen Lust, unter einer gemeinsam beschlossenen Regierungspolitik öffentlich zu leiden:

    "Eine Partei, die SPD, beschließt 2005 ihr Wahlprogramm - fast einstimmig - dann auf einem Parteitag den Koalitionsvertrag - auch fast einstimmig - sie akzeptiert die Logik der Situation und sagt ja zum Regieren. Aber sie ist im Herzen unglücklich und kritisiert, dass die Handelnden sich an Beschlüsse halten, die man auf dem Parteitag gemeinsam gefasst hat. Was nun? Kein Wunder jedenfalls, dass die Wählerinnen und Wähler das alles vor allem aber uns selbst nicht recht verstehen, liebe Genossinnen und Genossen. So ist das."

    Jetzt ist klar: Er kann nicht anders, will es auch nicht. Kein versöhnlicher Abschied. Steif steht er da, hager. Wirkt hart wie ein Asket. Ältere Genossen, und das sind hier die meisten, denken jetzt an Herbert Wehner. Kurz vor Schluss kündigt Müntefering einige wenige persönliche Worte an. Keine drei Minuten verwendet er darauf. Dass er in den Zeitungen lesen musste, er sei ein autoritärer Knochen, quittiert er mit mildem Spott. Und dann doch noch eine Versöhnungsgeste. Eine, so knapp, so kühl, dass sie als solche bei vielen gar nicht ankommt. Er sei Sozialdemokrat sagt er. Und fügt hinzu: "Immer. Ich bin dabei." Drei Minuten Beifall, einige erheben sich. Dann ist die Ära Müntefering Geschichte. Wenige Stunden später wird auch die Ära Scheer zu Ende gehen, auch wenn nur wenige Genossen sie nicht als solche bezeichnen würden. Scheer hat Müntefering von seinem Platz aus zugehört. Letzte Reihe der Vorstandstische auf dem Podium. Von da verfolgt er auch die anschließende Abrechnung mit der Schröder-SPD, die nicht zuletzt eine Müntefering-SPD war. Es kommt wie in Kassel besprochen. Attacke auf die Rente mit 67, Angriff auf die Hartz-Gesetze, markige Worte darüber, dass die Reichen reicher und die Armen ärmer wurden, als die SPD regierte. Und dann greift Hermann Scheer zum letzten Mal als Vorstandsmitglied in die Debatte ein:

    "Basta-Politik ist immer Abnick-Politik und überhaupt nichts anderes. Wir brauchen deshalb, und das ist das Allerwichtigste, eine Redemokratisierung der Partei. Das macht die Politik produktiver, das macht sie fehlerfreier, das macht sie widerspruchsfreier ... ."

    Mäßiger Applaus. Dann, als Sigmar Gabriel zum Mikro geht, und alle anderen in den Saal strömen, stürmt Hermann Scheer heraus. Gabriel habe sich selbst für den Spitzenposten nominiert, ohne die Partei zu fragen, so hat es Scheer in einer der letzten Vorstandssitzungen kritisiert. Keine Spur von Redemokratisierung also. Hier draußen, im Foyer der Parteitagshalle, muss er Gabriel nun wenigstens nicht zuhören.

    Schon fast eine Stunde spricht Sigmar Gabriel, der auffallend blass ist, an diesen Tagen in Dresden, da reicht ihm Andrea Nahles ein kleines, weißes Etwas. Sofort geht ein Raunen durch die Reihe der Beobachter: "Die Nahles hat dem Gabriel einen Zettel gegeben", heißt es und jetzt will natürlich jeder wissen, was da drauf steht, auf dem Zettel. Alle denken an Jens Lehmann und seinen Zettel im WM-Viertelfinale. Aus den hinteren Reihen des Parteitages werden SMS geschickt, nach vorne, an diejenigen, die näher dran sind. "Was stand auf dem Zettel?", fragen die SMS. Sollte Sigmar Gabriel etwa noch einen Tipp nötig haben? Von Andrea Nahles gar? Man hält es kaum für möglich, denn den Saal hat er zu diesem Zeitpunkt schon längst für sich gewonnen.

    "Unsere Politik wirkt manchmal aseptisch, klinisch rein, durchgestylt, synthetisch. Auch das müssen wir ändern. Wir müssen raus ins Leben, da wo es laut ist, da wo es brodelt, da, wo es manchmal riecht gelegentlich auch stinkt. Wir müssen da hin, wo es anstrengend ist, liebe Genossinnen, weil nur da, wo es anstrengend ist, nur da ist das Leben, nur da, wo es anstrengend ist, nur da ist das Leben."

    Gespannt wartet man darauf, dass Gabriel endlich den Zettel auffaltet, die Brille aufsetzt und den entscheidenden Hinweis liest. Doch man wartet vergebens. Als eine SMS die Antwort gibt: "War ein Tempo", steht da. Die Nahles hat dem Gabriel einfach nur ein Taschentuch gegeben. Wie gesagt, er ist sehr blass an diesen Tagen in Dresden. Und sehr erkältet.

    "Die Wählerinnen und Wähler haben uns nicht mit 23 Prozent nach Hause geschickt, damit wir sofort darüber nachdenken, wie wir uns in die scheinbar geeigneten Konstellationen mit anderen Parteien wieder zurück an die Macht schleichen können. Die wollen nicht, dass wir über andere nachdenken, sondern sie wollen, dass wir über uns selbst nachdenken und genau das werden wir tun, liebe Genossinnen und Genossen."

    Man mag Sigmar Gabriel ansehen, dass ihm die Grippe tief in den Knochen steckt. In seiner Rede aber ist von Mattigkeit nichts zu hören. Er spricht der SPD aus tiefster Seele, den gut 500 Delegierten, die an diesem Wochenende in der Messehalle sitzen, die ausgelaugt sind vom Wahlkampf und noch mehr von dem Ergebnis, das am Ende dieses Kampfes stand. Gabriel versucht gar nicht erst, das Ergebnis schön zu reden.

    "Wer ein derartiges Wahlergebnis bekommt, der hat mehr als nur ein Kommunikationsproblem."

    Und doch. Die elf Jahre in der Regierung seien nicht nur schlecht gewesen, sagt Gabriel und er sagt das, obwohl die SPD in diesen elf Jahren zehn Millionen Wähler verloren hat. Mit der ganzen Kraft des Wortes stemmt er sich gegen diese Zahl - auch gegen die hässliche 23. Nicht an die Wahlniederlage will er die Delegierten erinnern, das braucht er auch gar nicht. Nein, er will sie daran erinnern, warum sie einmal eingetreten sind, in die Partei, in ihre Partei, in die SPD.

    "Es ist eine Idee, die die Menschen immer zu uns geführt hat. Und das ist die Idee der Freiheit, nicht nur Freiheit von Not, Unterdrückung und Verfolgung, auch Freiheit so, aus seinem Leben etwas machen zu können. Und weil wir wissen, dass auf jedem Lebensweg Hürden sind, haben wir uns zusammengetan und haben gesagt: Jetzt wollen wir mal trainieren, dass wir die Hürden überspringen können, am besten durch eine gute Bildung und Ausbildung."

    Gabriel bewirbt sich um den Vorsitz einer Partei, in der auch er nehmen musste. Häufig ist er gestolpert, auf seinem Weg, manchmal auch über die eigenen Füße. Und es gab Zeiten, in denen er fürchten musste, als Pop-Beauftragter auf der Strecke zu bleiben. Jetzt aber ist er voll da, er steht ganz vorne auf der Bühne und er weiß, dass er genau jetzt zeigen muss, was er kann.

    "Ich mein, ihr könnt Euch das nicht vorstellen, aber selbst so einer wie ich hat ein bisschen Lampenfieber, vor dem, was jetzt kommt, so ist das nicht."

    Mit ihm an der Spitze, das begreifen die Delegierten bald, wird es ungemütlich für die da, die regieren in Berlin. Gabriel war kein Vize-Kanzler in einer großen Koalition. Man kann ihn kaum in dieser Rolle vorstellen, jedenfalls nicht nach dieser Rede. Er ist keiner, will auch keiner sein, der die politische Harmonie sucht. Er sucht den Konflikt.

    "Stolperstart und Fehlstart ist ja noch ein milde Untertreibung. Diesem Anfang wohnt nun wirklich kein Zauber inne, und gegen die aktuelle Bundesregierung ist ja eine Studentenversammlung der 70er-Jahre ein Hort der Disziplin."

    Den Zauber des Anfangs, den suchen sie auch hier. Doch bevor der Anfang verzaubern kann, muss Frust abgeschöpft werden. Frust und Ärger, die sich seit Jahren in der Partei aufgestaut haben. Deshalb sind Sigmar Gabriel und Andrea Nahles vor dem Parteitag durchs Land gereist. Auf dass die Tage von Dresden zauberhaft werden. Fast drei Wochen haben sie die Landesverbände und die Bezirke besucht, sie waren in Güstrow und Esslingen, haben 6.000 SPD-Mitglieder getroffen. Sie haben Demut gezeigt, sich der Kritik gestellt - auch für sich selbst geworben. Und sind dabei dem Zauber doch schon recht nahe gekommen.

    "Wenn ich den heutigen, bisherigen Abend so erlebe und beobachte, Andrea, lieber Sigmar, dann muss ich wirklich sagen, diesem neuen Anfang wohnt ein ganz, ganz großer Zauber inne. Ich wünsche mir, dass ihr politisch ein Traumpaar werdet, für uns alle. Was ihr privat daraus macht, darauf habe ich keinen Einfluss."

    Das Saalmikrofon, in das der Genosse spricht, steht im Hofbräukeller in München. Rund 300 SPD-Mitglieder sind gekommen an diesem tristen Sonntagabend, eine Woche vor dem Parteitag, weil sie endlich wieder mitreden wollen. Das Bild vom Traumpaar ist häufig bemüht worden, in diesen Tagen der gemeinsamen Reise. Was auch daran liegen mag, dass die Beziehung zwischen den beiden bislang alles andere als traumhaft war.

    "Wir haben tatsächlich nicht so eng zusammengearbeitet. Er macht Umwelt. Ich habe Arbeit und Soziales. Aber ich glaube, wir sehen uns jetzt jeden Tag, wir reden sehr viel, es läuft. Also machen Sie sich deshalb keine Gedanken."

    Gedanken macht sich allenfalls, wer sich erinnert. Wer sich erinnert, dass die beiden in der Vergangenheit tatsächlich nicht zusammen-, sondern gegeneinander gearbeitet haben. Beide wollten etwas werden in der Partei. Schon immer. Und dabei standen sie sich häufig im Weg. Jetzt aber wissen sie, dass es nur gemeinsam geht. Andrea Nahles scheint das ein bisschen besser zu wissen als Sigmar Gabriel. SIE ist es, die sich auf das Bild vom Traumpaar einlässt. Viel lieber als ER. Wenn hier jemand kleine weiße Zettel reichen würde, um Regieanweisungen zu geben, dann wäre das wohl Sigmar Gabriel. Etwa wenn Andrea Nahles einen kräftigen Schluck aus dem Bier-Krug nimmt, der an diesem Abend vor ihr auf dem Tisch steht:

    "Sigmar sagt, ich soll sagen, dass da Wasser drin ist, sonst hihihi ... ."

    Nicht nur in München, auch in Dresden ist es Andrea Nahles, die anknüpfen möchte, an das hübsche Bild vom Traumpaar:

    "Und Leidenschaft, das bekommt ihr im Doppelpack. Ich bin aus der Vulkaneifel. Und Sigmar habt ihr eben selber erlebt. Ich denke, das spricht für sich."

    Von Leidenschaft aber, in ihrer Rede, keine Spur. Zugegeben, nach Sigmar Gabriel ist es für jeden schwer, zu reden. Er, der den Saal in seinen Bann gezogen hat, fast zwei Stunden lang. Ihr will das in 20 Minuten nicht gelingen. Nicht, als sie von ihrem Vater spricht, der Mauerer war. Auch nicht, als sie von Kürbissen erzählt, die auf Misthaufen wachsen. Es gelingt ihr nicht, weil sie versucht, ein Image aufzubauen, das ihr keiner abnimmt:

    "Ich will eine Partei, die nicht nur nach Pfeife, Zigarillo und Zigarre riecht, sondern ruhig auch mal ein bisschen nach Jil Sander."

    Während man sich noch fragt, wie eigentlich Jil Sander riecht, hat man auch schon das Bild von Jil Sander vor Augen. Dieser schlanken, hanseatischen Frau. Und das Bild gesellt sich neben Andrea Nahles an das Rednerpult. Jil Sander, die Vulkaneifel und Kürbisse auf Misthaufen. Nein, etwas ist falsch an diesem Bild:

    "Ich glaube, es ist gut, wenn die SPD ne Frau als Generalsekretärin bekommt. Basta und Testosteron hatten wir in den letzten Jahren genug."

    Sagt es, und man denkt noch einmal an die Worte Gabriels. Von einem Traumpaar war da keine Rede. Nur einmal, ganz am Ende, als er auf die folgende Abstimmung anspielt, lässt er wenigstens Mannschaftsgeist erahnen:

    "Erstens dieses Team ist schon mal wichtig. Tut mir die Liebe, wenn ihr nun gar nicht mitwählen wollt, lasst es an mir aus. Aber machts nicht wieder mit dem links-/rechts-Schema. Das ist Quatsch auf diesem Parteitag. Wir brauchen alle an Bord, alle!"

    Man mag das ritterlich nennen. Oder einfach nur geschickt, denn so kann er vorbeugen - für den Fall, dass Nahles am Ende besser abschneidet als er selbst. Eine unbegründete Sorge, das zeigt schon der Applaus, der seiner Rede folgt. Sechs Minuten klatschen sie, stehend, die Genossen. Und für einen glücklichen Augenblick scheint sogar die 23 vergessen:

    "Mit ja haben 472 gestimmt, das bedeutet 94,2 Prozent, herzlichen Glückwunsch, lieber Sigmar."

    Er sieht erschöpft aus danach, erleichtert, und tatsächlich gerührt von dem Applaus:

    "Mit ja haben gestimmt 355, das bedeutet eine Zustimmung von 69,6 Prozent der abgegebenen Stimmen. Herzlichen Glückwunsch, Andrea."

    Ein trauriges Ergebnis, das sieht man ihr an. Warum ihr so viele Genossen die Gefolgschaft versagten, darüber kann man nur spekulieren. Vielleicht, weil sie abgestraft werden sollte für 2005, als sie Müntefering aus dem Parteivorsitz vertrieb. Vielleicht, weil die Parteilinke ihr nicht verzeiht, dass sie mit Gabriel zusammengeht. Weil nichts so schlimm ist wie enttäuschte Liebe. Vielleicht ist es auch einfach nur der Preis dafür, dass sich da jemand selbst nicht treu geblieben ist. Wäre Andrea Nahles nah am Wasser gebaut: Man wollte ihr jetzt, in diesem Moment, ein Taschentuch reichen.