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Die Sprache, der Sinn, das Unbewusste. Psychoanalytisches Grundverständnis und Naturwissenschaften

Die Wissenschaften gewinnen aus zwei gegenläufigen Tendenzen ihre größten Impulse und Wirkmöglichkeiten: nämlich einerseits aus der Isolierung und Abschottung gegen andere Disziplinen, also durch die geradezu arrogante Selbstüberhöhung und die dadurch möglich werdende Konzentration auf eine Fragestellung, und andererseits durch den Willen zur Kooperation und interdisziplinären Forschung. Viele neuere Arbeiten im weiten Feld zwischen Geistes- und Naturwissenschaften, und speziell zwischen Psychoanalyse, Hirnforschung und Neurophysiologie, offenbaren, wie fruchtbar beide Tendenzen sind, wenn sie gleichsam wie zwei Flussläufe betrachtet werden, die zeitweise eigene Wege gehen und dann wieder zueinander finden. Die nun vorliegenden, ganz im Geist der Kooperation geschriebenen und sich doch auch jahrzehntelanger psychoanalyse-interner Forschung verdankenden Arbeiten Alfred Lorenzers demonstrieren dies auf eindringliche Weise.

Hans-Jürgen Heinrichs | 02.10.2002
    Der von der Soziologin Ulrike Prokop herausgegebene und mit Einleitungen der Psychoanalytiker Bernard Görlich und Marianne Leuzinger-Bohleber bestens ausgestattete, vielleicht ein wenig überladene Band enthält bearbeitete Vorlesungsschriften Lorenzers zu den Themen der unbewussten Sinnstruktur, der Sprache, der Sprachzerstörung und Symbolbildung, zur Geschichtlichkeit des Unbewussten, zum Verhältnis von Trieb und Gesellschaft und eben zur Neurophysiologie.

    Die sprengende Kraft, die in den siebziger Jahren von Alfred Lorenzers Psychoanalyse-Verständnis ausging, ist uns heute kaum noch gegenwärtig. Die Bedeutung seiner materialistisch und hermeneutisch begründeten Theorie scheint sich weitgehend verloren zu haben. Die beiden von ihm engagiert in die Diskussion gebrachten Ansätze - der gesellschaftstheoretische in der Tradition der Frankfurter Schule und der geisteswissenschaftlich-verstehende - sind zum Teil integrierter Bestandteil des psychoanalytischen Verständnisses geworden oder spielen nun einfach keine besondere Rolle mehr. Um so erfreulicher und erstaunlicher, wie inspirierend jetzt die Zusammenstellung der Vorlesungen des seit vielen Jahren zurückgezogen in Italien lebenden Mediziners und Psychoanalytikers auf den Leser wirken. Gerade der Bezug zu den Neurowissenschaften, aus einem fundierten kulturwissenschaftlichen Denken heraus, kann der heute aktuellen Diskussion neue Impulse liefern. Seine zentrale These lautet:

    Freuds holistische Sicht ist von der Neurophysiologie bestätigt worden. Freud hatte betont, dass die Sprachproduktion an den Zusammenhang der Zentren im Gehirn gebunden ist, dass es sich also nicht um isolierte Produktionsstätten handelt.

    Lorenzer kann nun zeigen, wie sich die psychoanalytischen und physiologischen Betrachtungen Freuds mit denen der Neurophysiologie (die die Verbindungsbahnen im Gehirn viel subtiler zu deuten vermag) sinnvoll und kooperativ befruchten. Eine Charakterisierung, die in diesem Zusammenhang von Lorenzer vorgebracht wird, ist für das ganze Buch ausschlaggebend:

    Sigmund Freud war Physiologe und Erlebnisanalytiker, einer, der sich am szenischen Verstehen des vom Analysanden dargestellten Erlebens orientiert.

    Die ebenso intime wie sozial geprägte Erlebnisinnenwelt des Analysanden kann der Psychoanalytiker nur im emotionalen Zusammenspiel mit seinem Gegenüber verstehen und deuten. Im Spiel der Phantasien und Triebwünsche übernimmt der Analytiker eine Rolle, die ihn dazu befähigt, den beschädigten Sinn im Leben des Analysanden zu rekonstruieren.

    An diesem Punkt setzen Lorenzers damals, in den siebziger Jahren, als so aufregend empfundenen Schriften an: Verdrängungen sind, so seine These, Sprachzerstörungen, Desymbolisierungen. Deren verborgenen Sinn gilt es wieder zu entschlüsseln. Also: Sprachzerstörung und Rekonstruktion.

    Die Rekonstruktion des Psychoanalytikers ist aber eingebettet in Lebenspraxis; sie ist gerade nicht, wie Habermas damals meinte, "selbstreflexiv". Bernard Görlich bemerkt in seiner Einleitung zu Recht:

    Wo Habermas zu fragen aufhört, beginnt für Lorenzer der eigentlich spannende Untersuchungsteil, aus dem die vorliegenden Vorlesungen ihre eigentliche Sprengkraft beziehen: Lorenzer engagiert sich dafür, den Metapsychologen und Physiologen Freud zu rehabilitieren. In ihm sieht er den Platzhalter für die Problematik der psychophysischen Prozesse, der Leiblichkeit, die der Reflexionswissenschaft fremd vorkommen und unzugänglich erscheinen muß. Gerade der von Habermas gescholtene Energetismus der Freudschen Metapsychologie beansprucht sein Recht.

    Pointiert wählt Lorenzer die Formel von der "Hermeneutik des Leibes". Alle psychoanalytischen Begriffe sind für Lorenzer im Bezug zur Leiblichkeit und zu soziokulturellen Prozessen definiert. In diesem Sinn ist auch Freuds Theorie, daran hält Lorenzer als eiserner Bastion fest, weder nur Sozial- noch nur Naturwissenschaft, sondern Grundlage einer Kooperation. Dieses Projekt im Sinne einer "Tiefenhermeneutischen Kulturanalyse" fortzusetzen, ist Lorenzers Anliegen.

    Der psychoanalytische Ansatz weist weit über die therapeutische Situation hinaus; er ist Teil unseres modernen Verständnisses von Kultur. Lorenzers Überlegungen kreisen um die Neurose als individuelles Scheitern bei der Vermittlung von Interaktions- und Sprachfiguren und um die Kultur als ein Wechselspiel von Gelingen und Scheitern bei dieser Vermittlung. Auch hier geht er wieder von der physiologischen Basis aus, um zu beschreiben, wie sich praktisches Verhalten an Gehirnfunktionen orientiert und wie dann aber unbewußte lebenspraktische Erinnerungsspuren hinzukommen und sich zu Sprachsymbolen verkoppeln.

    Die Verknüpfung geschieht in realen Lebenssituationen, in Erlebnisszenen, die aus einem Ensemble unbewußter Erinnerungsspuren gebildet wurden. Einem Ensemble von Erinnerungsspuren, denn natürlich evoziert jede Lebenssituation in ihrer Vielgestaltigkeit eine Anzahl von Erinnerungsspuren. Die konkrete Szene re-aktualisiert diese Erlebnisspuren in einer bestimmten Anordnung - und eben dies macht ihre lebensgeschichtliche Unverwechselbarkeit aus.

    In der Ankündigung des Lorenzer-Bandes hatte der Klett-Cotta-Verlag ein Nachwort des zur Zeit sicher populärsten Hirnforschers Wolf Singer versprochen. Die Tatsache, dass es nicht zustande gekommen ist, lässt vor allem zwei Vermutungen zu: Wolf Singer konnte dem psychoanalytischen Vermittlungsansatz von Lorenzer doch zu wenig für seine eigene Forschung abgewinnen, oder ihn haben Lorenzers Überlegungen eher noch darin bestärkt, dass die effektiveren Therapien vonseiten der modernen Hirnforschung ausgehen würden. Wenn die Hirnforschung einen ernstgemeinten Schritt auf die Psychoanalyse zugeht, kann sie Behauptungen wie die folgende in Singers neuem Buch Der Beobachter im Gehirn nicht weiter aufrecht erhalten:

    Es gibt derzeit keinen Grund daran zu zweifeln, dass auch mentale und psychische Funktionen auf Abläufen in unserem Gehirn beruhen, die sich im Rahmen naturwissenschaftlicher Beschreibungssysteme darstellen und untersuchen lassen ... Wir werden eines Tages keine Schwierigkeiten mehr haben, Bewußtsein und Gefühle als emergente Eigenschaften hochkomplexer Gehirne zu verstehen...