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Die Spuren des Meisters

Verdi hat den Norden Italiens nicht nur mit seiner Musik geprägt. Auch die von ihm konzeptionierten Bauten sind heute Touristenattraktionen: etwa sein Wohnsitz in Sant'Agata oder das Musiker-Altenheim "Casa Verdi" in Mailand. Eine Spurensuche.

Von Franz Lerchenmüller | 06.10.2013
    "Er war eine bedeutende Persönlichkeit, ein außerordentlicher Repräsentant italienischer Musik und ein Patriot."

    "Man sagt, dass Verdi mit seiner Musik mehr für die Einheit Italiens getan hat, als Garibaldi mit seinen Schlachten."

    "Verdi ist das musikalische Genie Italiens, kann man sagen. Der tollste, der beste, der berühmteste Musiker."

    "Und neben seiner Musik begeistert uns natürlich, dass Verdi viele Touristen hierher bringt und wir gut auch von ihm leben können."

    Der Mann, dem diese Huldigungen zuteilwerden, wurde am 9. oder 10. Oktober vor 200 Jahren geboren. In El Roncole, einem kleinen Flecken nahe Busseto, in der Region Emilia Romagna. Sein Elternhaus steht noch, ein gedrungener, rosa gestrichener Bau aus dem 18. Jahrhundert mit hölzernen Fensterläden. In dem geweißten Elternschlafzimmer im ersten Stock mit dem groben Bett ist es recht kühl. Das liegt am Klima hier, meint Stefano Raineri, der sich um Besucher kümmert.

    "Der Fluss Po ist in der Nähe. Deshalb herrscht hier in unserer Gegend eine sehr hohe Luftfeuchtigkeit, meistens um die 90 Prozent. Da wird es auch im Oktober, in dem Giuseppe ja geboren wurde, schon sehr ungemütlich. Die Leute versuchten, mit diesen kleinen Kaminen etwas Wärme hineinzubringen und sie haben die Decken tief heruntergezogen, um sie besser zu halten."

    Die Eltern hatten einen Landhandel und ein Gasthaus. Sie verkauften Saatgut und boten reisenden Händlern Abendessen und ein Bett - der Kerzenleuchter und die Teller auf dem Tisch erinnern daran. Sie waren einfache Leute, aber ihr Horizont war nicht begrenzt.

    "Die Liebe zur Musik hat sein Vater in Giuseppe geweckt. Schon mit acht Jahren hat er in der Kirche gegenüber Orgel gespielt. Dort hat ihn ein Kaufmann aus Busseto, Antonio Baressi gehört. Er war sehr angetan von seinem Talent, hat ihn in die Stadt geholt und ihn dort weiter gefördert."

    In Busseto wohnte der Junge in der heutigen "Casa Barezzi". Das Klavier, an dem er nachspielte, was er sich dank seines absoluten Gehörs zuvor ausgedacht hatte, steht im prächtig restaurierten Salon. Riccardo Napolitano von der "Gesellschaft der Freunde Verdis" erzählt von den Anfängen des Tonkünstlers.

    "Mit zehn Jahren kam er hier ins Haus und ging aufs Gymnasium. Er hat da schon einige kleinere Musikstücke für Messen, Prozessionen oder Andachten geschrieben - aber das alles hat er später vernichtet, sodass uns nichts aus dieser Zeit geblieben ist."

    In den Räumen nebenan findet sich eine der umfangreichsten Verdi-Sammlungen: der Meister in Bildern. Der Meister in Karikaturen. Briefe des Meisters. Plakate seiner Opern. Aber das kam alles erst später.

    Der junge Giuseppe studierte Musik und wurde mit 23 Jahren Kapellmeister des Städtchens. Ganz allmählich machte er Karriere. Er schrieb erste Opern und zog nach Mailand um. Der große Durchbruch aber kam erst 1842, meint Josef Pohly, Historiker und Verdi-Kenner. Giuseppe Verdi komponierte "Nabucco".

    "Verdis dritte Oper führt uns zurück in das sechste Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung nach Jerusalem, wo Nabucco den Tempel der Juden zerstört, diese gefangen nimmt, nach Babylon verschleppt und dort gefangen hält. Nabucco, überheblich geworden, erklärt sich zum Gott. Seine Tochter Abigail tritt in die Fußstapfen ihres Vaters, will dessen Macht erhalten und versucht ihren Vater zu überzeugen, die Juden zum Tode zu verurteilen. Die Juden an den Ufern sehnen sich zurück, der berühmte Gefangenenchor `Va pensiero sull ali dorate - flieg, Gedanke, auf goldenen Schwingen`. Nabucco wendet sich, von seiner Tochter schachmatt gesetzt und wahnsinnig geworden, dem jüdischen Gott zu und wird durch den jüdischen Gott geheilt."

    Spuren von Verdi entdeckt man viele in der Emilia Romagna und der Lombardei: Wohnungen, Denkmäler, Museen, Theater. Viel mehr aber erstaunt, wie lebendig der Komponist im Bewusstsein der Menschen geblieben ist. Den deutschen Geigenbauer Gaspar Borchardt, der sich vor 30 Jahren in Cremona niederließ, wundert das nicht.

    "Ich habe eine Wohnung gemietet, hier in Cremona, und als ich rausguckte, war eine alte Dame, die sang - Arien. Dann bin ich auf den Domplatz gegangen und hab einen Kaffee getrunken, da kam ein halb besoffener Mann - der sang. Die Maurer, die Häuser reparierten, die sangen. Ich dachte: Mensch, das ist tatsächlich das Land der Musik."

    Nach dem Erfolg von Nabucco wurde Verdi bald berühmt und so reich, dass er sich 1848 bei Busseto den Gutshof Sant`Agata kaufen konnte. Damals gab es weder die gelbe Villa, noch den weitläufigen Park, sagt Giovanna Chiozza, die Führerin.

    "Als er ankam, stand hier nur ein einfacher Bauernhof. Im Lauf von 30 Jahren hat er das Haus zu einer Villa umgebaut, und rundherum diesen großartigen Park geschaffen. Er hat die Bäume selbst ausgesucht, einen See mit Brücken und Grotten anlegen lassen und Statuen aufgestellt. Alles hier atmet seinen Geist und seine Kreativität."

    Auch 900 Hektar Äcker und Wiesen gehörten zu dem Gut. Verdi ließ sie von 200 Angestellten intensiv bewirtschaften. Und zeigte als Gutsbesitzer ganz unterschiedliche Gesichter.

    "Er konnte zu seinen Arbeitern sehr hart sein. Aber er war gleichzeitig auch sehr human und hat sich um sie gekümmert. Vorher lebten die meisten von ihnen nur in Hütten. Er ließ als eine der ersten Maßnahmen richtige Häuser für sie bauen."

    Vier Räume der Villa sind heute für Besucher geöffnet. Die schweren, geschnitzten Möbel und die Himmelbetten mit ihren Vorhängen verströmen eine Aura düsterer Feierlichkeit. Eine große Büste zeigt Verdi als Mann mit eindrucksvoller Nase, Bart und zerfurchten Zügen. Der frühe Tod seiner Schwester, seiner ersten Frau und seiner beiden Kinder hatte ihn oft grüblerisch und schroff werden lassen.

    "Er war ein sehr introvertierter, sehr ernster, sehr verschlossener Mensch, der wenig gelacht hat. In einem Brief hat er sich selbst einmal als luziferisch bezeichnet."

    Hinter Glas liegt eine Partitur von Wagners Lohengrin, die er mit Anmerkungen versah, es gibt das kostenlose Bahnticket Nr. 308, das ihm während seiner kurzen Zeit als Abgeordneter zustand, und im letzten Raum steht die Original-Einrichtung jenes Zimmers aus dem Grandhotel "et de Milan" in Mailand, in dem er am 27. Januar 1901 starb.

    Den besten Überblick über sein Leben und sein Werk bietet das erst 2009 eröffnete Nationalmuseum Giuseppe Verdi in Busseto. Die hohen Räume sind mit goldgemusterten Wandbezügen ausgeschlagen und mit Gemälden, Kostümen und Theaterkulissen dekoriert. Jeder ist einer oder mehreren Opern gewidmet und der Besucher erfährt, aus welcher biografischen und politischen Situation heraus sie entstanden sind und wie sie beim Publikum ankamen. La Traviata etwa fiel bei der Uraufführung 1853 in Venedig gnadenlos durch, wurde aber schon ein Jahr später zu einem rauschenden Erfolg.

    1868 eröffnete sein Heimatstädtchen Busseto ein eigenes Theater, eine Mailänder Scala im Kleinformat für 300 Zuschauer, mit viel rotem Samt und vergoldetem Zierrat aus Pappmaschee, der besseren Akustik wegen. Auch Verdi trug zur Finanzierung dieser "Bonbonniere von Busseto" bei, erzählt die Studentin Valeria Mozzoni.

    "Kurz vor der Fertigstellung kaufte er eine Loge - für 1000 Lire, eine Menge Geld damals. Es ging dabei nicht so sehr um die Loge, an der Eröffnung des Theaters nahm er gar nicht teil. Aber er hat den Bau kräftig unterstützt, weil er sich so die Sympathie der Leute von Busseto kaufen wollte."

    Denn die Stadt Busseto und der Komponist Verdi - das war alles andere als eine Liebesbeziehung. Der Grund für das Zerwürfnis war seine spätere zweite Frau, Giuseppina Strepponi.

    "Die Leute waren empört, dass er, der Witwer, einfach mit ihr zusammenlebte. Ihr Ruf war nicht der beste, sie hatte bereits zwei Kinder, die sie nicht selbst aufzog, sondern schon kurz nach der Geburt weggeben hatte."

    Heute nimmt ihm das niemand mehr übel. Längst hat man ihn fest umarmt. In Busseto ist jeder aus vollem Herzen Verdianer, sagt Abele Concari, der grauhaarige Wirt der "Bottega Storica e Verdiana Baratta".

    "Wenn man hier lebt, ist man leidenschaftlicher Verdi-Fan. Man kommt an dem Maestro nicht vorbei, und nicht an seiner Musik, die einen so begeistert. Man hat es sozusagen im Blut."

    Der Wein kommt in Schalen, wie im 19. Jahrhundert üblich, die Nüsse zum Käse klopft man mit einem großen Holzhammer auf, und eben stellt Abele verführerische Wurstplatten für den Ansturm am Abend zusammen. Verdi, ein großer Freund alles Geräucherten, Gesottenen und Gebratenen, wäre begeistert gewesen von all den Würsten, dem Speck und dem Schinken.

    "Verdi liebte die Küche - er liebte vor allem die regionale von hier, die echte. Wir machen immer noch eine Spalacotta, einen Schinken, wie ihn schon der Maestro damals gekauft und genossen hat."

    Verdi, Verdi allenthalben. In den Schaufenstern von Cafés muss der "Schwan von Busseto" sein markantes Profil für Kekse, Kuchen und Pralinen hinhalten. In Parma kann man im Museo dell`Opera historische Aufnahmen seiner Opern vergleichen. Und in Mantua erinnert eine Statue gegenüber dem Herzogspalast an den Hofnarren Rigoletto aus der gleichnamigen Oper.

    Aber die Italiener lieben Verdi nicht nur wegen seiner Musik. Das heutige Italien war im 19. Jahrhundert ein bunter Flickenteppich kleiner Städte und Staaten, die von ausländischen Mächten beherrscht wurden, und in denen man ganz unterschiedliche Dialekte sprach. Verdi betrachtete sich als Teil des Risorgimento, der Bewegung für die Einheit und Freiheit Italiens. Er sammelte Geld für Kriegsopfer und wurde 1861 Abgeordneter der ersten italienischen Nationalversammlung. Vor allem aus seiner Musik soll das Gefühl der Zusammengehörigkeit unter den Italienern erwachsen sein. Ein geknechtetes Volk, wie die Juden in Nabucco - so sahen sie sich mehrheitlich in dieser Zeit.

    Am 27. Januar 1901 starb Giuseppe Verdi in Mailand. In der "Casa Barezzi" in Busseto liegen hinter Glas die Zeitungen mit den Schlagzeilen jener Tage. Riccardo Napolitano erzählt von der schier unglaublichen Totenfeier. Riesige Menschenmassen säumten Verdis letzten Weg.

    "Hier sieht man den Leichenwagen. Einige Tage nach seiner Beisetzung auf dem Friedhof von Mailand wurde Verdi in die Krypta der Casa di Riposo, eines Altersheims für Musiker überführt. Arturo Toscanini dirigierte, ein Chor von 833 Sängern intonierte `Va pensiero`. 300.000 Leute säumten die Straße. Und der Leichenzug dauerte von 10 Uhr morgens bis nachmittags um fünf."

    27 Opern hatte der Maestro im Lauf seines Lebens geschrieben. Sein, wie er meinte, größtes Werk aber besteht nicht aus Tönen, sondern wurde aus solidem Stein gebaut. Die "Casa Verdi" in Mailand liegt direkt an einem belebten Kreisverkehr. Sie ist ein Altersheim für ehemalige Musiker.

    "Ungefähr ab den 80er Jahren hatte er den Plan gefasst. Er selber war reich geworden, er arbeitete aber mit vielen Musikern, Sängerinnen und Sängern zusammen und merkte, dass die nicht so viel Glück im Leben hatten wie er und die dann vor allem Probleme hatten im Alter. Und für die wollte er im Grunde genommen sorgen und so hat er dann dieses Werk in Auftrag gegeben und es ist dann 1897 vollendet worden."

    Am Ende des Innenhofs liegen Giuseppe Verdi und seine Frau Giuseppina in einer Krypta unter schweren Bronzeplatten, während über ihnen auf goldenen Mosaiken Jungfrauen Blumen streuen und Jünglinge das Medaillon des Meisters mit Lorbeer umkränzen - Heldenkult in Jugendstil.

    Heute ist Tag der offenen Tür. Und die Studentin Beatrice Marcias wird nicht müde, den Mailänderinnen und Mailändern zu erklären, wer hier wohnt.

    "Hier leben 80 Menschen, die alle auf irgendeine Weise mit der Musik zu tun hatten: Sängerinnen, Pianisten, Dirigenten und Komponisten, dazu 16 Musikstudenten mit Stipendium. Wer hier aufgenommen werden will, muss einen Lebenslauf präsentieren, in dem die Musik die allerwichtigste Rolle spielte."

    Wollte Verdi sich ein Denkmal setzen? Kann sein - aber wenn, war es eines der sinnvollsten Denkmäler überhaupt. Um den Beifall seiner Zeitgenossen ging es ihm dabei jedenfalls nicht.

    "Als er das Heim bauen ließ, hat er ausdrücklich verfügt, dass es erst nach seinem Tod eröffnet werden dürfe. Er wollte nicht, dass irgendeiner seiner Musikerkollegen sich persönlich bei ihm bedanken konnte."

    Es ist seine Musik, es sind die weltberühmten Melodien. Es sind aber auch Geschichten und Anekdoten wie diese, die dafür sorgten, dass dieser schroffe, düstere, widersprüchliche Mann schon zu Lebzeiten die Herzen seiner Landsleute eroberte. Und dass er seinen Platz darin bis heute nie verloren hat.