Freitag, 19. April 2024

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"Die Staatengemeinschaft ist gefordert"

Angesichts der Flüchtlings-Problematik im Irak haben die Vereinten Nationen die internationale Gemeinschaft zum Handeln aufgefordert. Sonst drohe eine Eskalation der Situation, sagte der Sprecher des Flüchtlingshilfswerks UNHCR, Stefan Telöken. Nach Angaben der UNO sind derzeit rund vier Millionen Iraker auf der Flucht.

Moderation: Stefan Heinlein | 18.04.2007
    Stefan Heinlein: Attentate, Schießereien, Entführungen. Die Gewalt ist alltäglich im Irak. Dutzende Menschen sterben Tag für Tag. Ein normales Leben ist in weiten Teilen des Landes unmöglich. Der Bevölkerung geht es vielerorts schlechter als vor Beginn des Krieges. Immer mehr Familien haben die Hoffnung auf eine bessere Zukunft in ihrer Heimat verloren. Sie verlassen ihr Land. Rund zwei Millionen Iraker sind auf der Flucht. Weitere zwei Millionen Menschen sind innerhalb des Landes entwurzelt. Ein gigantischer Aderlass für ein Land mit einer Gesamtbevölkerung von nur insgesamt 24 Millionen Menschen. Die Nachbarländer Jordanien und Syrien sind überfordert mit dem Strom der Flüchtlinge. In Genf gibt es deshalb jetzt eine Irak-Konferenz des UN-Flüchtlingshilfswerkes UNHCR.

    Am Telefon in Berlin begrüße ich jetzt den Sprecher des UN-Flüchtlingshilfswerkes UNHCR Stefan Telöken. Guten Morgen!

    Stefan Telöken: Schönen guten Morgen!

    Heinlein: Erschreckende Zahlen, wir haben es gehört. Eine bedrohliche Entwicklung. Kommt die internationale Hilfe noch rechtzeitig, um eine tatsächliche humanitäre Krise, eine humanitäre Katastrophe abzuwenden?

    Telöken: Eine humanitäre Krise gibt es. Es gibt Zeichen für eine humanitäre Katastrophe. Aber natürlich kommt die Konferenz rechtzeitig, wenn jetzt energisch gehandelt wird, wenn diese Konferenz nicht eine Abschlussveranstaltung ist, sondern ein Auftakt zu einem Prozess, der zu konzertiertem humanitärem Handeln in der Region für die irakischen Flüchtlinge und im Irak selbst führt.

    Heinlein: Sind Sie denn optimistisch, dass tatsächlich energisch gehandelt werden wird?

    Telöken: Wenn wir vor drei Monaten von dem Irak-Konflikt gesprochen haben, dann sprach man von den militärischen oder den politischen Aspekten eines Konfliktes. Heute ist klar: dieser Konflikt hat eine gewaltige humanitäre Dimension. Ich glaube niemand kann heute sagen, dass er nicht wüsste, was dieser Irak-Konflikt an Flüchtlingstragödien hervorgebracht hat. Das bedeutet auch, dass die Staaten ihre Verantwortung jetzt übernehmen müssen, gerade den Nachbarstaaten des Iraks zu helfen, mit der Aufnahme dieser großen Zahl von Flüchtlingen - rund zwei Millionen - fertig zu werden, hier in Strukturen zu investieren, um gerade auch in Bereichen wie Bildung, Gesundheit, aber auch in der direkten Versorgung der großen Zahl der Flüchtlinge, die jetzt mittlerweile mittellos sind, unterstützend wirken zu können.

    Heinlein: Welche Staaten, Herr Telöken, sind denn besonders gefordert? Die USA?

    Telöken: Die Staatengemeinschaft ist gefordert. Gefordert ist derzeit vor allen Dingen Syrien und Jordanien und es gilt, diese Staaten zu unterstützen. Es ist klar, dass dies nur gelingen kann, wenn eine größere Lastenteilung erfolgt, wenn also auch unmittelbar diesen beiden Staaten geholfen wird, diese Herausforderung zu bewältigen, die sich auch für die eigene Bevölkerung durch die Aufnahme einer so großen Zahl von Flüchtlingen stellt.

    Der Irak selbst ist gefordert. Die irakische Regierung ist auch gefordert. Sie hat ja bei der Konferenz sich bereit erklärt, hier auch führend tätig zu werden. Für diese Flüchtlingstragödie, für die meisten Menschen, wenn es eine Lösung gibt, so wird sie letzten Endes doch nur in ihrem Heimatland zu suchen sein. Das heißt die Situation im Irak muss sich stabilisieren, um dieser Flüchtlingstragödie Herr zu werden.

    Heinlein: Können Sie denn im Irak, kann das UNHCR im Irak selber tatsächlich Hilfe leisten, denn eigentlich können Ihre Helfer ja in dieses Land nicht einreisen?

    Telöken: Die internationalen Helfer derzeit nicht. Der Irak selbst ist eine so genannte "No-Go-Area" für die UN, was die internationalen Helfer angeht. Wir haben lokale Helfer vor Ort, die in sieben Städten tätig sind, mit einem Netzwerk von anderen Hilfsorganisationen arbeiten. Ihre Mittel sind aber natürlich sehr begrenzt. Ihre Möglichkeiten sind sehr begrenzt. Das wird der schwierigste Teil der Arbeit sein, im Irak selbst jene Strukturen zu schaffen, die es ermöglichen, die jetzt mittlerweile fast zwei Millionen Binnenvertriebenen, also die Flüchtlinge im eigenen Land angemessen zu versorgen und jene zu entlasten, die derzeit für die Versorgung dieser Menschen geradestehen.

    Heinlein: Herr Telöken, wer kann denn im Irak helfen, wenn nicht das UNHCR?

    Telöken: Es ist noch einmal natürlich die irakische Regierung gefordert, hier auch die Verantwortung für die Binnenvertrieben, für ihre eigene Bevölkerung zu übernehmen. Die Menschen, die fliehen, fliehen ja nicht vor der Verfolgung der irakischen Regierung, sondern sie fliehen vor den extremistischen Übergriffen verschiedener Gruppen, vor der eskalierenden Gewalt. Insofern ist hier die irakische Regierung zuerst gefordert. Das UNHCR kann und wird seine Zusammenarbeit anbieten, aber ich sage es noch einmal: Das wird der schwierigste Teil der Arbeit sein, denn das erfordert natürlich auch angemessene Sicherheitsbedingungen für die internationale Hilfe, um im Irak selbst tätig werden zu können. Allerdings hier ist jetzt wirklich auch eine Kraftanstrengung notwendig. Da kann eigentlich nicht mehr gewartet werden, wenn man nicht eine weitere Eskalation der Situation in humanitärer Hinsicht hinnehmen will.

    Heinlein: Kraftanstrengung, das heißt ja in Genf zunächst einmal das Sammeln von Geld. 45 Millionen Euro wollen Sie zusammen bekommen auf dieser Konferenz. Reicht das denn aus?

    Telöken: Insgesamt haben wir Anfang des Jahres einen Hilfsappell für die Region im Umfang von rund 60 Millionen Dollar gestellt und ich kann heute sagen, dass diese 60 Millionen Dollar zur Verfügung gestellt werden. Nur das ist ein Tropfen auf den heißen Stein und es geht auch bei dieser Konferenz nicht nur darum - das ist erfreulich, aber es geht nicht nur darum -, dem UNHCR Mittel zur Verfügung zu stellen, sondern es müssen auch bilaterale Hilfen geleistet werden. Es müssen auch Hilfen für andere Organisationen zur Verfügung gestellt werden und wir werden sicherlich unseren Finanzierungsappell auch in diesem Jahr noch einmal erweitern.

    Die finanzielle Seite ist wichtig, sie ist sehr wichtig. Keine Frage! Ohne Finanzierung von Hilfsmaßnahmen werden die Betroffenen keine Unterstützung erhalten. Gleichzeitig geht es natürlich auch darum, die Grenzen offen zu lassen für die Menschen. Flüchtlingsschutz ist wichtig. Die irakischen Flüchtlinge, die vor der eskalierenden Gewalt fliehen, sind unserer Auffassung nach Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention. Sie verdienen diesen Schutz.

    Drittens geht es auch um eine Lastenteilung. Ein geringer Teil der Flüchtlinge, ein sehr geringer Teil der Flüchtlinge wird auch in den Nachbarstaaten nicht bleiben können. Wir glauben, dass rund 20.000 Aufnahmeplätze für irakische Flüchtlinge außerhalb der Region zur Verfügung gestellt werden müssen. Das ist für besonders gefährdete Gruppen, für besonders verfolgte Gruppen, für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge. Das ist also nur ein sehr, sehr geringer Teil, aber er ist erforderlich, um den Flüchtlingsschutz gewährleisten zu können, den wir uns vorstellen.

    Heinlein: Das ist ein wichtiger Punkt, Herr Telöken, den Sie ansprechen. Organisationen wie Amnesty International oder Pro Asyl fordern auch die Bereitschaft der EU und auch Deutschlands, mehr irakische Flüchtlinge aufzunehmen und in jedem Fall die Abschiebepraxis zu stoppen. Teilt der UNHCR diese Forderung?

    Telöken: Abschiebungen in den Irak gibt es nur wenig. Von Deutschland aus wird kaum ein Iraker abgeschoben. Aus Großbritannien sind in der Vergangenheit Iraker abgeschoben worden. Wir teilen die Auffassung, dass auch die Europäische Union nach Möglichkeit Aufnahmeplätze für besonders gefährdete irakische Flüchtlinge zur Verfügung stellen sollte. Man muss zu Deutschland wissen, dass in Deutschland mit über 50.000 anerkannten irakischen Flüchtlingen die meisten irakischen Flüchtlinge außerhalb der Region leben. Wir haben in Deutschland aber auch die Situation, dass in den letzten Jahren nach dem Sturz von Saddam Hussein über rund 20.000 anerkannte Flüchtlinge ein so genanntes Widerrufsverfahren erhalten haben. Das heißt ihnen droht die Aberkennung des Flüchtlingsstatus. Wir meinen, dass dieses Verfahren verfrüht ist und dass in diesem Verfahren, in diesem so genannten Widerrufsverfahren zu wenig geprüft wird, ob die Betroffenen tatsächlich in Sicherheit nach Hause zurückkehren können und ob die Behörden des Heimatlandes effektiven Schutz leisten können, so wie es nach unserer Auffassung nach der Genfer Flüchtlingskonvention notwendig wäre.

    Heinlein: Zur laufenden Irak-Konferenz des UN-Flüchtlingshilfswerkes in Genf war das heute Morgen hier im Deutschlandfunk der UNHCR-Sprecher Stefan Telöken. Herr Telöken, ganz herzlichen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören nach Berlin!

    Telöken: Auf Wiederhören!