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Die Stimme als Fährte

Seit sich die Aufzeichnung von Klängen auf breiter Front durchgesetzt hat, spielt die Akustik auch bei der Verbrechensaufklärung eine wichtige Rolle. Forensische Phonetiker heißen die Ermittler, die Erpresser und Entführer per Stimme ausfindig machen.

Von Kay Müllges | 18.08.2010
    Die Entführung des Hamburger Multimillionärs und Sozialforschers Jan Philipp Reemtsma ist einer der spektakulärsten Kriminalfälle der 90er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Den Tätern auf die Spur kam die Polizei auch durch die Analyse aufgezeichneter Entführeranrufe:

    " Hallo. Können Sie mich verstehen heute? Gut. Ihr Klient möchte Doktor sprechen bzw. das er die Sache regelt. Bitte. Gut. Dann halten sie Sie sich für morgen Abend bereit. Wir rufen Sie morgen Abend zwischen 21 und 23 Uhr an. Wir haben gewartet eine Stunde es ist niemand gekommen. Ich werde das klären wir rufen morgen wieder an. Wir werden beraten. Ja."

    Menschliche Stimmen sind höchst unterschiedlich. Die eine kiekst in höchsten Tönen, der andere brummelt bärbeißig vor sich hin. Die Stimmlagen der meisten Menschen liegen irgendwo dazwischen, weisen aber durchaus individuelle Charakteristika auf. In den USA führte diese an sich banale Erkenntnis seit den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts zur Entwicklung eines neuen Fachs, der forensischen Phonetik. Man glaubte der menschliche Stimmabdruck, ein sogenannter Voiceprint, sei genauso unverwechselbar wie ein Fingerabdruck. Beim Voiceprint werden die Muster von Frequenzen und Lautstärken visuell abgebildet. Solche Spektrogramme waren in den USA noch bis Ende der 90er-Jahre als Beweismittel vor Gericht anerkannt. Zu Unrecht, meint Angelika Braun, Professorin für Phonetik an der Universität Trier:

    "Inzwischen wissen wir, dass Sprechen überhaupt nicht wie ein Fingerabdruck funktioniert, sondern dass es Verhalten des Menschen ist. Und deshalb von ganz vielen Faktoren abhängig, wie etwa Gesundheit, Müdigkeit, bestimmten Operationen und so weiter, ob die dritten Zähne gerade getragen werden oder nicht. Dementsprechend klingt Sprache immer anders und ist nicht so unverwechselbar wie ein Fingerabdruck."

    Trotzdem lassen sich natürlich bestimmte Parameter messen und verlässlich darstellen. Und das sind gar nicht wenige. Angelika Braun:

    "Merkmale, die man betrachtet, betreffen eigentlich das gesamte stimmliche und sprachliche Verhalten des Menschen. Mit stimmlichem Verhalten meint der Phonetiker alles, was im Kehlkopf passiert. Das heißt, wie die Stimmlippen, die dort aufgehängt sind, schwingen. Wie auch das akustische Abbild dieser Schwingungen ist, darauf würde man durchaus achten. Man achtet aber auch auf die Sprache, das ist das, was in der Phonetik oberhalb des Kehlkopfes passiert, also Resonanzen des Nasenraums, ob jetzt jemand wie die ehemalige Ministerin Ulla Schmidt ständig so spricht, als ob die Nase verstopft sei, oder ein Näseln wie , die älteren werden sich noch erinnern, es für Theo Lingen charakteristisch war."

    Auch wie schnell jemand redet, wie viele Pausen er macht, wie viele Ähs und Öhs er einbaut, lässt sich messen. Und für dialektale Färbungen in der Sprache gibt es mittlerweile sogar eine umfangreiche Datenbank, aus der sich die Forscher bedienen können. Im Fall Reemtsma konnten die Forscher neben anderen Merkmalen klar feststellen, dass der Anrufer über 60 war. Doch was ist zum Beispiel, wenn ein Entführer seine Stimme verstellt? Normalerweise kein großes Problem, meint Angelika Braun, weil kaum jemand in der Lage sei, seine Stimme über mehrere Anrufe hinweg immer gleich zu verstellen. Etwas schwieriger sei eine Stimmerkennung dann, wenn der Entführer ganz einfach flüstert, statt normal laut zu sprechen. Bei normal im Kehlkopf gebildeter Stimme können wir alle mit ziemlicher Genauigkeit bestimmen, ob ein Sprecher jung, mittelalt oder alt ist.

    "Bei geflüsterter Stimme gibt es aber genau dieses, wir sagen Quellsignal , aus dem Kehlkopf nicht. Weil eben nur ein Geräusch produziert wird und die Stimmlippen nicht, wie normal schwingen. Da stellt sich schon die Frage, wie kann man denn unter diesen Umständen, wenn man also die beste Möglichkeit der Altersschätzung nicht mehr hat, feststellen ob ein Mensch jung, mittelalt oder alt ist?"

    Um das herzufinden, ließen die Forscher Menschen verschiedener Altersgruppen in ihre Mikrofone flüstern und legten die Aufnahmen anschließend Studenten vor. Ergebnis: Die konnten mit sehr hoher Genauigkeit auch bei den Flüsterstimmen eine korrekte Altersschätzung vornehmen. Das liegt daran, so die Trierer Forscher, dass am Menschen eben nicht nur der Kehlkopf altert. Auch der Mundraum, der Rachen- und der Nasenraum wird größer und das kann man dann auch bei Flüsterstimmen hören.