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Die Stimme der Neuronen

Früher, so schien es, konnte man sich auf sein Gewissen noch verlassen. Es galt als stabile Instanz, die sich warnend zu Wort meldet, wenn der wankelmütige Mensch dabei ist, gegen Sitte und Moral zu verstoßen. Heute dagegen stellen Hirnforscher und Kognitionswissenschaftler diesen Begriff des Gewissens hingegen radikal in Frage. Eine feste und stabile Instanz des Gewissens, sagen sie, sei im Gehirn nicht zu finden. Gewissensentscheidungen seien vielmehr labile und veränderliche Gebilde, die von unterschiedlichsten Faktoren geprägt werden, von Erziehungseinflüssen und persönlicher Erfahrung, von rationalen Überlegungen und elementaren Gefühlen. Das neue Bild eines dynamischen Gewissens entsteht - wie gewissenhaft lässt sich damit leben?

Von Martin Hubert | 10.10.2004
    Es gibt Stimmen, die von der Hirnforschung sagen, sie sei die eigentliche Philosophie der Gegenwart. Tatsächlich haben sich die Neurowissenschaftler auf Themenfelder vorgewagt, die ursprünglich den Philosophen und Geisteswissenschaftlern gehörten. Zunächst versuchten sie, das Bewusstsein und das Unbewusste als Produkt von Nervenerregungen zu erklären. Dann erschlossen sie sich das Ich, die Seele und schließlich die Freiheit des Willens. Das führte zwischen Hirnforschern und Geisteswissenschaftlern zu harten Kontroversen. Was könnte dabei herauskommen, wenn sich die Neurowissenschaftler nun auch noch einem so rätselhaften Gegenstand widmen wie der Stimme des Gewissens?

    "Göttlicher Instinkt, unsterbliche und himmlische Stimme, sicherer Führer eines unwissenden und beschränkten, aber vernünftigen und freien Wesens. Unbestechlicher Richter über das Gute und Böse."

    Das Gewissen nach Jean Jacques Rousseau

    "Jeder Mensch hat Gewissen, und findet sich durch einen inneren Richter beobachtet, bedroht und überhaupt im Respekt...gehalten. Und diese über die Gesetze in ihm wachende Gewalt ist nicht etwas, was er sich selbst willkürlich macht, sondern es ist seinem Wesen einverleibt. Es folgt ihm wie sein Schatten, wenn er zu entfliehen gedenkt."

    Das Gewissen nach Immanuel Kant

    Rousseau und Kant beschreiben die Instanz des Gewissens im 18. Jahrhundert als Ausfluss einer unbedingten, absoluten Macht, die im Menschen thront und seine Natur gleichzeitig überschreitet. Für Rousseau ist es noch die Stimme Gottes, die der menschlichen Vernunft vorgibt, was gut und was böse ist. Bei Kant ist das Gewissen ein innerer Richter, mit dem sich die Vernunft selbst zu Wort meldet. Sie sagt dem Menschen, ob sein Tun und Lassen mit den generellen Prinzipien moralischen Handelns übereinstimmt.
    Das sind die religiösen und philosophischen Wurzeln des Gewissensbegriffs. Heute spricht kaum mehr jemand so pathetisch darüber. Was nicht bedeutet, dass die Stimme des Gewissens vergessen werden kann.

    Das Gewissen ist natürlich ein ständiger aber nicht immer gemütlicher Begleiter, und wenn es sich bei einem in Erinnerung bringt, dann meistens in Situationen, bei denen man sich nicht ganz wohl fühlt. Trotzdem will keiner wohl auf das Gewissen verzichten, zumindest nicht bei seinen Mitmenschen.

    Für Andreas Dally, Biologe und Studienleiter an der Evangelische Akademie Loccum, ist das Gewissen heute ein offenes Problem: Kaum jemand bestreitet, dass es Gewissenbisse gibt und dass es ab und zu nötig ist, anderen ins Gewissen zu reden. Aber kaum jemand weiß mehr zu sagen, was dieses Gewissen eigentlich ist. Es ist nicht mehr die direkte Stimme Gottes oder der allgemeinen Vernunft - aber welche Stimme ist es dann?

    Das wäre eigentlich eine Chance für die Hirnforschung: sie könnte weiterhelfen, indem sie untersucht, wie das Phänomen des Gewissens aus der Aktivität der Neuronen entspringt. Allerdings könnten die Neurowissenschaftler dabei auch alles über Bord werfen, was nicht ihrer methodischen Herangehensweise entspricht. Zum Beispiel die soziale Komponente des Gewissens, die der Hannoveraner Philosoph Detlef Horster für wesentlich hält:

    Das Gewissen ist in dem klar umrissenen Kontext der Moral etwas, von dem wir sagen können: wir haben ein Schuldgefühl, weil wir den Tadel oder die Verachtung von anderen erwarten. D.h. also, wir haben hier auch ein Wechselseitigkeit! Der Andere verachtet uns, weil wir gegen moralische Regeln verstoßen haben, und weil der Andere uns verachtet, haben wir ein Schamgefühl oder ein Schuldgefühl. Das nennen wir Gewissen.

    Das Gewissen beruht darauf, dass wir die Anerkennung anderer Menschen brauchen. Und es sorgt dafür, dass wir die selbst die Anderen anerkennen. Hirnforscher könnten dazu neigen, diesen sozialen Aspekt des Gewissens zu vernachlässigen, weil sie normalerweise nur einzelne, isolierte Gehirne untersuchen.

    Der evangelische Studienleiter Andreas Dally jedoch hat keine Furcht vor den Neurowissenschaften. Auf einer Loccumer Tagung hat er die Vertreter unterschiedlichster Disziplinen zu einem Dialog über das Gewissen aufgefordert. Alle Disziplinen, meint Dally, könnten davon in Zukunft nur profitieren: denn vor dem Thema "Gewissen" seien heute alle gleich.

    Es ist von allen Disziplinen wissenschaftlich so weit weg, dass keiner einen glaubhaften Ansatz deutlich machen könnte, sie wäre in der Lage, das Phänomen sozusagen auf ihr Feld zu ziehen und auseinander zu bauen und die Funktion zu entschlüsseln. Das lässt mich hoffen, dass ein interdisziplinärer Zugang im Herangehen an die Frage, wie überhaupt man die Frage angehen muss, wie das Gewissen funktioniert, dass das zu einem Forschungsgebiet werden könnte, in dem nicht vorschnell reduziert und dann möglicherweise das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird. Also hier sehe ich wirklich eine Situation, wo Philosophen, Theologen, Psychologen, Sozialwissenschaftler, aber auch Neurologen, Entwicklungspsychologen, Entwicklungsbiologen, alle gleich viel beitragen können und wo nicht von vornherein klar ist, der oder jenige kann das Thema usurpieren.

    Mit dieser Hoffnung scheint Andreas Dally nicht ganz falsch zu liegen. Denn auch aus dem Gebiet der Neurowissenschaften wird interdisziplinäres Interesse signalisiert.

    Es gibt verschiedene Ansätze, um über Moral von Seiten der Hirnforschung nachzudenken.

    Hans- Jochen Heinze, Direktor der Klinik für Neurologie der Universität Magdeburg

    Aus unserer Sicht sind es drei Aspekte, die besonders interessant sind: das sind die moralischen Emotionen, das ist die Fähigkeit, sich in das Denken und das Fühlen anderer Menschen hineinzuversetzen /, und das ist das abstrakte Nachdenken über moralische Situationen. Und die Hirnforschung kann mit verschiedenen Ansätzen, insbesondere - jedenfalls aus meiner Sicht - mit dem Neuroimaging, dazu beitragen, festzustellen auf welche Weise werden die verschiedenen Aspekte im Gehirn realisiert.

    Neuroimaging heißt: mit bildgebenden Verfahren beobachten, welche Hirngebiete aktiv sind, wenn ein Mensch sich bewegt, etwas sieht - oder eben über eine moralische Entscheidung nachdenkt. Besonders gut geeignet dafür ist die so genannte Kernspin- oder Magnetresonanztomographie. Sie kann messen, wo im Gehirn sich etwa bei moralischen Überlegungen der Sauerstoffgehalt im Blut erhöht.

    Wenn wir solche Realisationen beispielsweise mit Magnetresonanztomographie, Kernspintomographie feststellen, dann heißt das keinesfalls, dass wir damit philosophische Grundsätze, theologische Überlegungen außer Kraft setzen und etwa diese Entitäten auf biologische Sachverhalte reduzieren. Aber es mag Grenzsituationen geben, das ist jedenfalls meine Überzeugung, wo es wichtig wäre zu schauen: was ist im Gehirn sozusagen evolutionär implementiert und was ist sozusagen aus abstrakten philosophischen Konzepten heraus wünschenswert. Ich glaube, da kann die Hirnforschung in einen sehr furchtbaren Dialog mit dem Gewissen treten.

    Ein Bahngleis, auf dem eine Draisine fährt. In hohem Tempo.

    Ein Kernspintomograph an der Universität von Princeton, USA. In einer großen Röhre liegt ein Mann. Während der Tomograph sein Gehirn durchleuchtet, liest der Mann auf einem Monitor folgende Geschichte:

    Sie befinden sich auf dieser Draisine. Kurz vor einer Weiche sehen sie: sie wird sie auf das linke Gleis führen. Dort stehen fünf Gleisarbeiter, die sie nicht bemerken.. Wenn Sie nichts tun, werden sie alle fünf töten. Aber Sie können die Weiche umstellen, sodass sie auf das rechte Gleis rasen. Dort arbeitet ein Gleisarbeiter. Sie werden ihn töten, aber es ist nur ein einziger Mensch. Was werden sie tun?

    Eine Grenzsituation, ein moralisches Dilemma. Ist es legitim, einen Menschen zu töten, um sechs zu retten? Seit vier Jahren konfrontiert der Philosoph Joshua Greene in Princeton Testpersonen mit solchen schwierigen Fragen, um festzustellen, wie moralische Entscheidungen zu Stande kommen.

    Der Monitor präsentiert der Versuchsperson ein zweites Dilemma.

    Wieder rast eine Draisine auf ein Gleis zu, auf dem fünf Eisenbahnarbeiter stehen. Aber diesmal befinden Sie sich nicht auf der Draisine, sondern auf einer Brücke über dem Geschehen. Neben ihnen steht ein sehr dicker Mann. Wenn sie diesen Mann sofort die Brücke hinunter auf das Gleis vor die Draisine stoßen, wird sein Gewicht diese bremsen. Der Mann wird getötet werden, aber Sie retten die fünf Arbeiter. Was werden Sie tun?

    Joshua Greene hat seine Testpersonen in Princeton tatsächlich mit diesem Konflikt konfrontiert. Und der Kernspintomograph lieferte ihm bemerkenswerte Resultate:

    Wenn die Testpersonen nur überlegten, ob sie die Weiche umstellen sollen, um fünf Menschen statt einen zu retten, waren hauptsächlich Gebiete in der vorderen Hirnrinde aktiv: sie sind für logisches Denken und den Vergleich unterschiedlicher Informationen verantwortlich. Dachten die Testpersonen hingegen darüber nach, ob sie den dicken Mann in den Tod stoßen sollen, leuchteten viel stärker noch zusätzliche Hirngebiete auf. Zum Beispiel evolutionär alte Gebiete des so genannten Limbischen Systems. Es ist unter anderem für Emotionen wie Entsetzen, Angst oder Trauer zuständig. Für Joshua Greene, der inzwischen einige Dutzend Testpersonen untersucht hat, bedeutet das: moralische Entscheidungen besitzen häufig eine instinktive emotionale Basis. Und zwar um so mehr, je direkter moralische Entscheidungen einen mit dem Schicksal anderer Menschen konfrontieren

    Hat Joshua Greene damit die neuronale Ursache für Gewissensbisse gefunden oder für den Antrieb, seinem Gewissen zu folgen? Die irische Neurowissenschaftlerin Denise Manahan-Vaughan von der Universität Bochum meint: zumindest liefern solche Untersuchungen wichtige Indizien.

    Ich würde denken, dass Gewissen, wenn man es sehr einfach betrachtet, dass es auf zwei Ebenen funktioniert. Das eine ist das instinktive Gewissen, das irgendwie evolutionär da ist in den alten Hirnbereichen wie dem Limbischen System, dass man einfach reagiert auf eine Situation. Wenn man sieht, dass ein Kind gerade ertrinken wird, dass man ohne zu denken einfach versucht, das Kind zu retten, ohne zu überlegen, was die Konsequenzen sind, auch die Konsequenzen für sich. Ich denke das ist etwas sehr Primitives, das in uns allen drin ist. Ich meine aber, dass auch vieles vom Gewissen erlernt wird. Und ich denke, die komplexeren Emotionen werden durch die höheren kortikalen Bereiche auch gesteuert.

    Das Gewissen ist zwar auch in seinen emotionalen Aspekten kulturell geprägt. Aber das kulturelle Gewissen hat eine instinktive Grundlage, die nicht zu unterschätzen ist.

    Zu ihr gehört offenbar auch die Fähigkeit zur Empathie, zum Mitfühlen. Denn in Princeton leuchtete bei den Testpersonen, die sich mit dem dicken Mann beschäftigen, auch eine Hirnregion über den Ohren auf: sie sammelt Informationen über andere Menschen, indem sie registriert, in welcher Weise sie ihre Lippen, ihre Augen oder ihre Hände bewegen.

    Dass das Vermögen, sich in andere Menschen einzufühlen, tief in den Nervennetzen des Gehirns verankert ist, zeigen auch neue Experimente am Wellcome Department des University College in London.

    Eine Frau liegt im Kernspintomographen, ihr Partner sitzt daneben. Die Frau erhält einen leichten Elektroschock. Der Tomograph registriert, welche Schmerzareale dabei unter ihrer Schädeldecke aktiviert werden. Dann sieht die Frau auf einem Monitor, dass auch ihr Partner einen solchen Elektroschock erhält. Obwohl sie selbst in diesem Moment keinen Schmerz verspürt, werden einige der Schmerzareale erneut aktiv: nicht diejenigen, die mitteilen, wo der Schmerz im Körper vorkommt und wie stark er ist. Aber die Hirnareale, die den Gefühlsaspekt des Schmerzes widerspiegeln, leuchten in gleicher Weise auf.

    Das heißt: Schmerz als Empathiegefühl wird wirklich gefühlt! Und ich denke, auch mit dem Gewissen kann man in diese Richtung gehen: man kann mit dieser Art Methodik die Beteiligten fragen: wie haben sie gefühlt, als sie was Schlechtes getan haben oder was Nettes getan haben und daraus kann man schon, demnächst, denke ich, sehr viel über das Gewissen verstehen.

    Zumindest indirekt sagen aber bereits die Experimente von Joshua Greene in Princeton etwas darüber aus, wie sich die Testpersonen fühlten, als sie über die Gewissensfrage nachdachten: Darf ich einen Menschen opfern, um fünf andere zu retten?

    Diejenigen Testpersonen, die sich entschlossen, den dicken Mann vor die Draisine zu stoßen, brauchten dafür doppelt so lange als diejenigen, die sich nicht dazu überwinden konnten. Sie hatten offenbar uralte instinktive Hemmungen zu überwinden.

    Es gibt also einige gute Argumente dafür, dass Gewissensentscheidungen mit instinkthaften Grundemotionen des Menschen zu tun haben. Aber damit ist der Zusammenhang zwischen moralischer Überlegung, Emotion und Empathie natürlich neuronal noch keineswegs aufgeklärt. Die Versuchsreihe in Princeton zum Beispiel ist längst nicht abgeschlossen. Und es gibt noch andere neurowissenschaftliche Befunde über den Zusammenhang zwischen moralischem Denken und Fühlen.

    Sie drehen sich um eine Hirnregion, die direkt oberhalb der Augenhöhlen liegt: den so genannten orbitofrontalen Kortex. Dieses Gebiet gehört zwar auch zum Limbischen System, sitzt aber an dessen äußersten Rand und verbindet es mit den höheren Kortexrealen, die für rationales Denken verantwortlich sind. Forschungsteams um Antonio Damasio von der Universität von Iowa und Edmund T. Rolls von der Universität Oxford zeigen: Menschen, bei denen der orbitofrontale Kortex geschädigt ist, handeln unsozial und unmoralisch, ohne Achtung vor anderen Menschen.

    Der orbitofrontale Kortex scheint mit dafür zu sorgen, dass die Einsicht über die sozialen Folgen möglicher Handlungen auch emotional realisiert, also in Taten umgesetzt wird. Seine Bedeutung könnte aber sogar noch grundlegender sein. Der Philosophen Dirk Stederoth von der Universität Kassel weist in diesem Zusammenhang auf eine neuere Studie von Antonio Damasio hin. Sie zeigt: wenn Menschen erst als Erwachsene eine Schädigung des orbitofrontalen Kortex erleiden, sind sie nicht so stark eingeschränkt wie Kinder.

    Dass sie also Situationen rational adäquat bewerten können, allerdings die Bewertung nicht in konkrete Handlungen umsetzen können. Währenddessen die Kinder, die Jugendlichen, die mit solche Störungen verhaftet sind, waren gar nicht fähig, solche moralischen Einsichten überhaupt auszubilden durch die Erfahrung. Und das ist eben ganz wichtig, da sich daran zeigt, dass der orbitofrontale Kortex nicht nur für die Gewissens-Ausführung, sondern auch für die Gewissens-Bildung eine wesentliche Rolle spielt.

    Aber auch diese Forschungsresultate sind noch nicht der Weisheit letzter Schluss In der Damasio-Studie wurden zum Beispiel gerade mal zwei Kinder mit orbitofrontaler Störung untersucht. Es lässt sich daher bisher eigentlich nur sagen, dass der orbitofrontale Kortex bei Gewissensentscheidungen beteiligt ist : wie er aber mit den anderen Regionen des Limbischen Systems, den Denk- und Empathie-Regionen zusammenspielt, ist ungeklärt. Ins Puzzle der neuronalen Grundlagen des Gewissens müsste wohl als Baustein auch noch das Gedächtnis aufgenommen werden. Denn es speichert nicht nur die erlernten moralischen Regeln, sondern auch die Erfahrungen, die jemand mit seinen Gewissensentscheidungen gemacht hat. Und nicht zuletzt wären noch Gebiete aus dem vorderen Hirnbereich zu berücksichtigen, die die Willenskraft regulieren. Sie bestimmen darüber mit, inwieweit Gewissensentscheidungen auch gegen Widerstände durchgehalten werden

    Die Princeton-Experimente von Joshua Greene werfen noch eine weitere Frage auf: Wie kommt es, dass manche Testpersonen eher nach dem Gefühl entscheiden, andere eher rational, dass manche eher pragmatisch und nutzenorientiert denken, andere eher prinzipienhaft?

    Manche Testpersonen dachten zum Beispiel keinen Augenblick lang darüber nach, ob sie den dicken Mann vor die Draisine stoßen sollen. Für sie galt die eherne Regel : benutze nie einen andern Menschen als Instrument. Andere sagten sich: sechs Menschenleben zählen mehr als eines.

    Wie entstehen solche unterschiedlichen individuellern Gewissensstrukturen? Wann bilden sich die emotionalen und die rationalen, die instinkthaften und die kulturell erlernten Anteile aus? Wie verbinden sie sich miteinander zur Einheit des Gewissens und wie werden sie gewichtet? Das ist eine Frage für die Entwicklungspsychologie.

    Ein Baby schreit und strampelt, bis es ganz rot im Gesicht ist. Die Mutter hat ihm seine Lieblingsente weggenommen, weil es sie zum x-ten mal aus dem Kinderwagen geworfen hat. Jetzt möchte sich die Mutter wieder mit dem Kleinen versöhnen und bietet ihm den Schnuller an. Aber der will nicht, beißt die Lippen zusammen und schreit immer weiter.
    Bedeutet das, dass sich das Baby in seinem Stolz verletzt fühlt?

    Manche Entwicklungspsychologe gehen davon aus, dass Kinder schon im frühen Säuglingsalter beginnen, moralische Gefühle wie Scham oder Stolz zu entwickeln. Moralisch seien sie, weil sie eine Unterscheidung zwischen dem machen, was gut ist und was schlecht ist. Die Mehrheit der Forscher meint jedoch, dass am Anfang nur elementare Emotionen wie Ärger, Angst oder Ekel stehen. Diese erhalten, so glaubt auch Manfred Holodynski von der Universität Bielefeld, erst allmählich eine soziale und damit moralische Färbung. Und selbst das geschieht noch recht früh:

    In allen Altersjahrgängen entstehen ja immer auch neue Gefühlsqualitäten, darüber kommen auch wieder neue, z.B. kulturelle Inhalte rein. Zum Beispiel, dass mit zwei, drei Jahren Kinder ein Gefühl dafür entwickeln, was man darf und was man dann nicht darf. Das heißt, es wird normorientiert. Sie entwickeln so etwas wie Stolz, dass sie eine Norm befolgt haben oder sie entwickeln Beschämung darüber, wenn sie etwas nicht befolgt haben. Beschämung ist so etwas wie soziale Angst, dass man sagen wir mal Angst davor hat, ausgeschlossen zu werden von seinen Eltern, und dann reagiert man mit Beschämung darauf. Oder dass man mit dem Vorschulalter jetzt so etwas wie Schuld entwickelt, wen man dann merkt, aha, ich habe etwas getan, was jemand schadet, dann muss man ja wissen, aha, aus der Perspektive des Anderen schadet das dem. Das muss man ja auch erst mal begriffen haben, dann kann man mit Schuld reagieren.

    Schuld und Scham, zwei der Basisgefühle des Gewissens, entstehen also mit den ersten Erfahrungen der sozialen Anerkennung oder Missachtung. Sie nehmen vorher bereits vorhandene Emotionen wie Ärger oder Ekel auf und richten sie gegen die eigene Person.

    Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren bestätigen diesen Zusammenhang. So leuchtet dann, wenn Versuchspersonen über vergangene Schuldgefühle nachdenken die gleiche Hirnregion auf, die auch für Ekelgefühle zuständig ist. Schuld scheint so etwas wie Ekel vor sich selbst zu sein, weil man anerkannten Prinzipien nicht gerecht geworden ist.

    Mit der Entwicklung der Schuld- und Schamgefühl beginnt das Gewissen eine individuelle Gestalt anzunehmen. Die emotionale Anlage, anderen instinktiv zu helfen, oder die Hemmung, jemandem zu schaden, werden überformt durch konkrete Erfahrungen, die sagen: dafür sollst du dich gut fühlen und dafür schlecht. Wann aber können Kinder eigenständig moralische Entscheidungen treffen, wann ist ihr Gewissen voll ausgebildet?

    Florian liebt gebrannte Mandeln über alles. Sein Freund Thomas hat sich eine Tüte davon gekauft, lässt sie aber auf dem Schulhof kurz mal unbeaufsichtigt liegen. Florian sieht das, und er hat einen Riesen-Appetit. Darf er die Mandeln ungefragt essen?

    In Form von Bildergeschichten wurden über zweihundert Kindern und Jugendlichen vom vierten Lebensjahr an solche Fragen vorgelegt. Die Studie entstand an der Abteilung Psychologie des Max Planck -Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in München. Studienleiterin Gertrud Nunner-Winkler interessierte sich dafür, wie moralische Kompetenz zu Stande kommt:

    Es hat sich gezeigt, dass die Kinder einfache moralische Regeln schon sehr früh kennen und angemessen verstehen. Also zum Beispiel 98 Prozent schon der Vierjährigen hat gesagt: "stehlen darf nicht sein". Und fragt man sie "Warum darf man nicht stehlen?", dann kommt raus, dass sie keineswegs darauf verweisen, dass Gefängnis drauf steht oder die anderen Kinder einen nicht mehr mögen. Sondern die allermeisten sagen: das darf man nicht, das ist ein Dieb, das ist Diebstahl.

    Vierjährige unterscheiden der Gültigkeit einer moralischen Norm selbst, und den Folgen, die eintreten, wenn man gegen diese Norm verstößt. Macht sie dieses Wissen aber schon fähig, moralisch zu entscheiden?

    Das Team um Gertrud Nunner-Winkler stellte den Kindern noch ein zweite Frage:

    Florian sieht, wie Thomas zurückkommt und vergeblich nach seiner Tüte Mandeln sucht. Florian hat sie alle aufgegessen. Sie haben lecker geschmeckt. Wie fühlt sich Florian s jetzt?

    Überraschenderweise sagte darauf die Mehrzahl der jüngeren Kinder: "Er fühlt sich toll, denn er hat ja bekommen, was er eigentlich wollte". Erst mit dem siebten, achten Lebensjahr nimmt die Zahl der Kinder zu, die sagen: Florian hat sich nach dem Naschen schlecht fühlt, weil er gestohlen hat.

    Aufgrund solcher Untersuchungen gehen die Entwicklungspsychologen heute davon aus, dass sich die moralische Entwicklung in folgenden Lernschritten vollzieht:

    Zwar begreifen die Kinder schon im Alter von vier oder fünf Jahren, was moralische Regeln sind. Wenn es aber darum geht, Situationen selbständig zu beurteilen, orientieren sie sich weniger an diesen Regeln als an unmittelbaren Motiven, Wünschen und Bedürfnissen. Moralisches Wissen und Fühlen klaffen bei ihnen also noch auseinander. Scham und Schuld empfinden die Kinder offenbar erst dann, wenn Reaktionen von Anderen sie dazu veranlassen. Im nächsten Entwicklungsschritt lernen die Kinder dann, die moralischen Regeln auch für sich selbst zu akzeptieren und als sinnvoll anzuerkennen. Wenn das gut funktioniert, sind sie etwa mit zehn Jahren fähig, eine moralische Motivation aufzubauen. Es ist für sie dann auch ein emotionales Bedürfnis, die moralisches Regeln einzuhalten.

    Es hat sich gezeigt, dass eine überwältigende Mehrheit dieser Kinder, die erwarteten, der Geschichtenheld würde sich schlecht fühlen nach der Übertretung, dies nicht mit dem Verweis auf Sanktionen begründeten, nicht weil sie selber Vor- oder Nachteile zu erringen hofften, sondern vorwiegend damit: "Das war nicht recht". Die sagen, der fühlt sich schlecht, weil er weiß, er hätte nicht stehlen dürfen, er hätte teilen sollen und der denkt: vielleicht sollte ich's doch lieber wieder gut machen, weil er weiß, dass es unrecht war, weil es böse war, wie der gemein war. Ich schließe daraus, dass die Motivstruktur, die diese Kinder aufgebaut haben, so aussieht, dass sie intrinsisch ist. Und damit meine ich:, es geht ihnen nicht darum, eigene Vor- und Nachteile zu maximieren, sondern sie verstehen, dass moralisches Handeln deswegen ausgeübt wird, weil es sozusagen "richtig" ist.

    Richtiges moralisches Handeln ist nun mit gutem, falsches mit schlechten Gefühlen verbunden. Aber ist es nicht immer so klar ersichtlich, worin das richtige moralische Handeln besteht. Ein Team um den Hannoveraner Philosophen Detlef Horster wollte daher noch genauer verstehen, worin moralische Kompetenz besteht.

    Du gehst in ein Kaufhaus in die Spielwarenabteilung und siehst, wie dein bester Freund ein Spielzeug klaut. Eine Verkäuferin kommt vorbei. Sollst du sie ansprechen und deinen Freund verpetzen? Sollst du nach Hause gehen und mit deinen Eltern darüber sprechen? Sollst du erst mal mit deinem Freund selber darüber reden? Oder sollst du es einfach verschweigen?

    Das Team um Detlef Horster legte fünfundvierzig Gruppen aus 3 bis 7 Kindern, solche Fragen vor. Im Unterschied zur Studie von Gertrud Nunner-Winkler kannten sich die Kinder untereinander, sodass keine Scheu für sie bestand, miteinander zu diskutieren. Detlef Horster:

    Wir haben unterschiedliche Altersgruppen gehabt und eben auch gesehen, dass Kinder mit sechs Jahren sehr autoritätsfixiert reagieren, also die Regeln einfach befolgen aus Angst vor Strafe oder aus Orientierung an Autoritäten. Wohingegen dann im Alter von 10 Jahren die Kinder doch viel freier darüber gesprochen haben und schon die Äußerung gemacht haben, warum sie motiviert sind, diese Regeln zu befolgen und warum sie im anderen Fall nicht motiviert sind, die Regeln zu befolgen. Wir haben hier also sehr deutlich herausbekommen, dass die Entwicklung des Gewissens etwa mit 10 Jahren abgeschlossen ist.


    Mit etwa zehn Jahren wissen also Kinder nicht nur, was moralische Regeln sind. Sie haben auch eine innere Motivation ausgebildet, diese Regeln einzuhalten und können diese Motivation auch noch rechtfertigen und verteidigen.

    Wie gut sie das einzelne Kinder können und welche Aspekte sie dabei stärker oder schwächer gewichten, hängt natürlich auch von den Einflüssen der Umgebung auf die Kinder ab. Aber die Untersuchungen von Detlef Horster und Gertrud Nunner-Winkler zeigen: die Ausbildung des Gewissens besteht nicht nur darin, einfach nur soziale Normen zu verinnerlichen. Es geht auch darum, ein persönliches moralisches Urteilsvermögen zu erwerben:

    Diese moralische Regel, die ich zwar gelernt habe, die habe ich mir ja qua Anerkennung selbst gegeben. Und dadurch, das ich diese moralische Regel anerkenne, gebe ich mir diese Regel selbst, das bedeutet in Konsequenz: das Gewissen bin ich selbst.

    Das Gewissen ist nicht mehr die feste Stimme Gottes oder der allgemeinen Vernunft, sondern es ist die Stimme einer individuellen Person. Eines moralisch urteilsfähigen, motivierten und sensiblen Wesens, das von anderen Menschen anerkannt werden will, sich in diese einfühlen kann sowie Gefühle und Normen engagiert gegeneinander abwägt. Und diese Fähigkeit muss sich als ein neuronales Netzwerk im Gehirn des Einzelnen niedergeschlagen haben

    Für den Kasseler Philosophen Dirk Sterderoth unterscheidet sich dieses neue Bild des Gewissens folgendermaßen gegenüber der Tradition.

    Wenn man sich diese Befunde, die neurobiologischen aber auch psychologischen Befunde anschaut, so denke ich, dass man von einem feststehenden Gewissen nicht mehr ausgehen kann. Sondern man wird feststellen, dass das Gewissen etwas ist, was dynamisch in der eigenen Entwicklung erst gewissermaßen hervorgebracht wird, entwickelt wird, ausgebaut wird, und was eben auch veränderbar ist. Also man hat eher ein dynamische Form des Gewissens vor sich, nicht mehr diese statische, festgelegte Form. Hat natürlich auch die große Konsequenz, dass man sich nicht mehr so sehr auf das eigene Gewissen verlassen kann.

    Dieses neue Bild des Gewissens existiert bislang aber nur in Gestalt eines vorläufigen Modells, das eine Menge Fragen aufwirft.

    Ungeklärt ist zum Beispiel, was genau passiert, wenn zum Beispiel instinktive und intuitive Gewissensbisse mit rationalen Entscheidungen in Konflikt geraten. Oder wenn subjektive Gewissensentscheidungen emotional so wichtig genommen werden, dass der Betreffende nicht mehr in der Lage ist, mit anderen Menschen sinnvoll zusammenzuleben. Oder wenn umgekehrt das soziale Gewissen zu schwach wird, weil die Menschen zu sehr ich-bezogen denken. Aufzuklären wäre auch, welche Bedeutung die unbewussten Anteile des Gewissens haben und inwieweit sich die Veränderung des Gewissens unbewusst oder bewusst vollzieht.

    Ein Vorschlag, um solchen Fragen nachzugehen, besteht darin entwicklungspsychologische und neurowissenschaftliche Untersuchungen zusammenzuführen. Man könnte etwa mit bildgebenden Verfahren studieren, was sich im Gehirn bei Kindern bei der Gewissensreifung zwischen dem vierten und zehnten Lebensjahr verändert.

    Allerdings werfen bildgebende Untersuchungen an vierjährigen Kindern ethische Fragen auf. Zum Beispiel ist nicht völlig auszuschließen, dass die auftretenden Magnetfelder die kindlichen Gehirne beeinflussen.

    Die Einsichten über das dynamische Gehirn ergeben stammen aus Studien, die in den individualisierten Ländern des Westens durchgeführt werden. Interessant wäre daher die Frage: Wie unterscheidet sich dieses von einem traditionellen, religiös oder kollektiv geprägten Gewissen?

    Mit bildgebenden Verfahren ließen sich Menschen aus unterschiedlichen Milieus und Kulturkreisen untersuchen, während sie über Gewissensentscheidungen nachdenken

    Damit könnte nicht nur ein interdisziplinärer, sondern auch ein interkulturellen Dialog über das Gewissen beginnen.
    Das menschliche Gehirn ist eine immer noch nicht vollkommen verstandene Maschine.
    Sitzt hier das Gewissen? Oder doch im Bauch... (AP)