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Die Strafgefangenen der Landstraße

Albert Londres, geboren 1884 in Vichy gilt als der große französische Reporter. Er war Kriegskorrespondent, Schriftsteller und Poet. Auch Satire und Schwarzer Humor waren ihm nicht fremd. Dabei war er stets sozialkritisch und investigativ. Und konsequent. So wechselte er seinen Arbeitgeber, weil dieser ihm die Veröffentlichung einer Reportage über die Besetzung des Ruhrgebiets durch französische Truppen verweigerte, die nicht linientreu erschien.

Von Ralf Meutgens | 09.07.2011
    Man braucht nicht zu erwähnen, dass diese Arbeit vor dem Wechsel zum neuen Arbeitgeber in einer anderen Zeitung erschien. Londres´ Reportagen zeigten Wirkung. Ein Jahr nach seiner Veröffentlichung über die Käfighaltung von Gefangenen im berüchtigten Straflager von Französisch-Guayana, wurde es aufgelöst.

    1924 erschien in der Tageszeitung Le Petit Parisien Londres´ Artikelserie über die Tour de France. Aus den Archiven der französischen Nationalbibliothek hat sie nun dank des Übersetzers Stefan Rodecurt den Weg in ein 123 Seiten starkes, kleinformatiges Buch des Covadonga Verlages aus Bielefeld gefunden. Titel: "Die Strafgefangenen der Landstraße – Reportagen von der Tour de France." Anders als bei Londres´ Veröffentlichung über die Gefängnisinsel von Französisch-Guayana, wurde damit nicht das Ende der Tour de France eingeläutet.

    Rodecurt widmet Londres einen Prolog, indem er den Lebensweg des "rasenden Reporters" nachzeichnet.

    Die Aufmachung und die 19 historischen Fotos machen Lust es in die Hand zu nehmen und Londres´ Credo "porter la plume dans la plaie – die Feder an die Wunde setzen" als Leser genussvoll auf sich einwirken zu lassen. Zwölf Kapitel widmet er der 18. Tour de France, die damals über 5.000 Kilometer lang war.

    Dabei war Londres nicht Radsport affin; mit entwaffnender Naivität widmete er sich dieser weltberühmten Radsport-Veranstaltung. Vielleicht war das, gepaart mit seiner Berühmtheit als Journalist, Grund dafür, dass die Radsportlegenden Henri und Francis Pélissier sowie Maurice Ville aus dem Nähkästchen plauderten. Die Brüder Pélissier hatten die Tour de France aus Protest gegen ein unbarmherziges Reglement verlassen. Ein Rennkommissär hatte Henri ohne Kommentar unter sein Trikot gegriffen, um zu kontrollieren, ob er nicht ein zweites darunter trug. Es war verboten, etwa wegen extremer Kälte bei Bergetappen, ein zweites Trikot zu tragen. Aber noch mehr als über dieses unmenschliche Reglement ärgerte sich Henri Pélissier über die Vorgehensweise des Kommissärs.

    Sein Bruder Francis zeigte sich solidarisch und gemeinsam verließen sie die laufende Tour de France. Unterwegs trafen sie auf einer Landstraße den völlig erschöpften und resignierten Radprofi Maurice Ville. Kurz danach saßen alle drei mit Albert Londres in einem Café am Bahnhof von Coutances und tranken heiße Schokolade. Was dann folgte, sollte die erste Dopingbeichte im Radsport werden. Text und Foto gingen um die Welt. Kokain und Chloroform werden in diesem Gespräch genannt. Jeder von den dreien kramt drei Schachteln Pillen aus dem Verpflegungsbeutel. "Wir fahren mit Dynamit" meint Francis Pélissier. Eine Umschreibung für Amphetamine, Aufputschmittel und andere Dinge, die zahlreichen Radprofis das Leben kostete.

    Auch für Londres sollte sein Beruf zum Verhängnis werden. 1932 recherchierte er in China. Es ging um Organisierte Drogenkriminalität. "Ich bringe Dynamit mit" telegrafierte er vor der Abreise des Luxusdampfers in Shanghai. Am 16. Mai brannte das Schiff im Roten Meer komplett aus. Londres kam dabei ums Leben. Seit 1933 wird jedes Jahr am 16. Mai einer der bedeutendsten Preise für französische Printmedien vergeben: Der Albert-Londres-Preis für die beste Reportage.




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    Albert Londres
    Die Strafgefangenen der Landstraße
    Reportagen von der Tour de France

    Covadonga Verlag – Bielefeld