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Die Stunde der Heuchler

Mit Heinrich von Kleists "Der zerbrochne Krug" und Thomas Vinterbergs "Die Kommune" ist das Wiener Burgtheater in die neue Spielzeit gestartet. Beiden Hauptfiguren, dem Richter und dem Kommunarden, mangelt es nicht an Ausreden, Finten und Volten.

Von Christian Gampert | 12.09.2011
    Dies ist die Stunde der Heuchler. Nicht nur in der Politik, wo an die Errettung Griechenlands im Grunde niemand mehr glaubt; auch auf dem Theater. In Wien begegnen wir einem 70er-Jahre-Freak, der das väterliche Haus für eine Kommune zur Verfügung stellt und dort dann als heimlicher Alleinherrscher mit liberalsten Normen residiert. Und wir sehen einen Richter, der zunächst wie ein Sozialfall im Schneetreiben liegt, verprügelt und verletzt, und sich dann als Sprachartist aus einer Klemme zu befreien sucht, in die ihn das erotische Verlangen gebracht hat.

    An Ausreden, Finten, Volten mangelt es beiden nicht, sie halten sich beide für unschuldig - nur dass der eine, der Kommunarde Erek, in Zeiten angeblicher sexueller Befreiung lebt, auf die der andere, der Dorfrichter Adam, noch vergeblich hofft.

    Seltsamerweise ist Adam die interessantere Figur - weil der Regisseur Matthias Hartmann ihn zum klumpfüßigen Behinderten macht, zum benachteiligten armen Teufel. Und weil Adam und Eva, von Kleist Evchen genannt, ja eigentlich zusammengehören könnten, wenn sie, wie in Ereks Kommune, ein älterer Intellektueller und eine junge Studentin wären. Sie sind aber auf dem Dorf, in Huisum, und 170 Jahre zu früh dran.

    Außerdem ist das Evchen ja dem Ruprecht versprochen, in Wien ein bäurischer Tölpel, der unter der Fuchtel seines Vaters steht. Was die an dem finden mag? Man weiß es nicht. Evchen ist nämlich in der Tat eine ziemlich studentisch aussehende Brillenschlange, eine Verlockung für ältere Herren, die bei ihr fensterln, ohne ans Ziel zu kommen. Nur der Krug, das Unschulds-Symbol, geht dabei zu Bruch.

    In Thomas Vinterbergs "Kommune" ist das alles viel einfacher und gleichzeitig brutaler. Er beamt uns zurück in die Hippie-Ära, in ein leicht schmuddeliges Wohnküchen-Ambiente, wo Erek mit Frau und Tochter lebt und wo künftige Kommunarden merkwürdige Vorstellungsgespräche über sich ergehen lassen müssen. Anfangs sind alle Möbel mit weißen Planen abgehängt, dann wird dieses Leichentuch abgezogen und das bunte Gerümpel alternativer Lebensformen vorgezeigt.

    Ditte und Steffen zum Beispiel haben kein Kind, aber Ditte hat "eine Menge Gefühle dazu" und schreibt eine Doktorarbeit. Mona pflegt ein grundloses Dauerlachen und produziert die schönsten Orgasmusgeräusche, was die anderen stillschweigend erdulden. Ole ist ein bierseliger Alternativ-Spießer, der bei den Hausversammlungen den Vorsitz führt. Virgil, Franzose, jobbt naiv herum und schreibt Songs.

    Das sind alles nette Familienbilder aus alten Zeiten, die Ausstatter Stefan Mayer sogar mit einem Rahmen aus Leuchtstoff-Röhren versieht. Dann aber wird es ernst: Der älter gewordene Erek bringt eine junge Geliebte ins Haus und besteht energisch auf dem Recht seiner Triebe. Der Terror des ständigen Zusammenseins bekommt nun eine ganz neue Dimension: Vor den Augen der übrigen Kommunarden leidet Ereks Frau Anna still vor sich hin und lebt Erek schamlos sein neues Glück; die halbwüchsige Tochter schaut verstört zu.
    Als von den WG-Genossen Widerspruch kommt gegen die ständige Verletzung von Gefühlen, lässt Erek die Maske fallen:

    "Das ist mein Haus! Ihr werdet mir nicht vorschreiben, wie ich mein Leben zu führen habe."
    "Also bist du nun doch der Boss?"
    "Wenn ihr nicht hören wollt, was ich sage, müsst ihr verschwinden!"

    Joachim Meyerhoff ist als Erek ein scheinliberaler Egomane, der mit großer Kälte die Leiden seiner Frau ignoriert. Am beeindruckendsten Regina Fritsch, die von Erek verlassene Anna: Fritsch lässt diese zunächst durchaus attraktive Figur immer weiter zusammensinken, bis nur noch eine gedemütigte, aber überlebenswillige graue Maus da ist, die sich verzweifelt an Ereks Füße klammert.

    So wird aus dem Familienalbum bei Thomas Vinterberg doch noch ein Drama - was man von Matthias Hartmanns "Zerbrochnem Krug" leider nicht sagen kann. Michael Maertens, der Dorfrichter Adam, ist anfangs ein bedauernswerter Krüppel in kahler Eiswüste, flüchtet sich aber sehr schnell in die üblichen Sprachfaxen. Und Roland Koch, der Robert Redford des Burgtheaters, reißt als nobler Gerichtsrat Walter die Verhandlung an sich, versinkt dann aber selber, armerudernd (und zeigefingernd), im sorgfältig zubereiteten Bühnenmatsch. Was uns lehrt, dass man an die Unabhängigkeit auch des höchsten Gerichts nicht glauben sollte.