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Die Suche nach einer europäischen Identität

Probleme mit dem Euro und den Finanzen, mit der Integration und mit erstarkendem Nationalismus. In Europa brodelt es derzeit heftig. Die verschiedenen Interessen von immerhin 27 Staaten wollen unter einen Hut gebracht werden, wenn Europa mehr als ein schöner Traum werden soll.

Von Ursula Storost | 22.12.2011
    Bundeskanzler Konrad Adenauer brachte es schon in einem Hörfunkinterview 1952 auf den Punkt.

    "Wir sind der politischen Einigung Europas viel näher als im Allgemeinen angenommen wird."

    Damals gab es gerade mal eine Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die sogenannte Montanunion. Aber nicht nur Konrad Adenauer wusste, dass ein gemeinsames Europa nach den verheerenden Folgen des 1. und 2. der einzige Weg war, um Nationalismus und Rassenhass wirksam zu begegnen.

    "Wir können diese Chance verspielen. Und dann wird sie uns auf sehr lange Zeit nicht wieder geboten werden. Dann müsste Europa und nicht etwa nur Deutschland zurückfallen in ein Zeitalter des Nationalismus. Überall regen sich Gespenster. Wirklich und für immer kann man sie nur mit Europa verscheuchen."

    Man hatte aus den vergangenen Kriegen endlich gelernt, sagt Gabriele Clemes, Professorin für westeuropäische Geschichte am historischen Seminar der Universität Hamburg. Schwerpunkt Europastudien.

    "Dass von daher geschlussfolgert wurde, so etwas darf nicht wieder passieren. Wir müssen einen Weg finden, dass die Nationen in Europa miteinander leben können."

    Die neue Friedenssehnsucht siegte über die Rachegelüste, die viele gegenüber Deutschland hegten. Einem Deutschland, das so viel Unheil über die Welt gebracht hatte.

    "Man hat gelernt, aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, man kann nicht dieses Land hart bestrafen. Man kann nicht so etwas wie die Versailler Verträge wiederholen. Das führt zu Rachegedanken, Revanchegelüsten. Man kann aber auch dieses mächtige Land mitten in Europa nicht einfach brachliegen lassen und sagen, dieses Land muss abrüsten, dieses Land darf nur begrenzt sich industrialisieren. Dieses, so wird argumentiert, wird auch wieder zu Streitigkeiten, zu Unzufriedenheiten führen. Also muss man eine Lösung finden, dass man Deutschland wieder aufnimmt in die europäische Staatengemeinschaft. Aber gleichzeitig auch Sicherheit vor diesem Land hat."

    Schon während des Zweiten Weltkrieges hatten antifaschistische Widerstandsgruppen in verschiedenen europäischen Ländern die Idee, dass man eine europäische Union bilden solle. In die Deutschland eingegliedert werden muss.

    "Deutschland wäre gar nicht so schnell wieder aufgebaut worden, wirtschaftlich, politisch, wenn es nicht den Integrationsprozess gegeben hätte. Und deshalb empfindet die deutsche Politik wohl eine besondere Verpflichtung auch gegenüber Europa. Und wenn Sie zum Beispiel jetzt gerade in den letzten Wochen im Rahmen der Eurokrise sich reden von Politikern angehört haben, dann finden Sie immer wieder den Satz, wir haben eine Verantwortung. Wir haben eine Verpflichtung gegenüber Europa."

    Altkanzler Helmut Schmidt formulierte es im November dieses Jahres so:

    "Wir haben Grund zur Dankbarkeit. Als bevölkerungsreichste Nation in der Europäischen Union und als ökonomisch stärkstes Land im Euroraum haben wir zugleich die Pflicht uns der empfangenen Solidarität würdig zu erweisen, indem wir solidarisch sind mit unseren Nachbarn und mit unseren Partnern."

    Dabei hat es von Anbeginn Divergenzen gegeben, wie dieses gemeinsame Europa eigentlich aussehen soll, sagt Gabriele Clemens. Und heute sei es schwieriger denn je. Immerhin müssen inzwischen 27 Staaten unter einen Hut gebracht werden.

    "Wenn man sich die ganzen Verträge anschaut, von Amsterdam, von Nizza, dann sieht man ja, was da für ein Geschacher an der Tagesordnung war. Dass die unterschiedlichen Vorstellungen zusammenprallten und man immer Kompromisse finden musste, um irgendwie weiter zu schreiten. Und das ist ein Prozess, der dürfte auch schwierig bleiben."

    Nach wie vor schwierig sei es auch, zu definieren, was Europa eigentlich ist, konstatiert die Historikerin. Geografisch sei es jedenfalls nicht genau zu umreißen.

    "So hat ja Herodot schon im 5. Jahrhundert vor Christus gesagt, von Europa weiß man nichts Genaues. Und das ist etwas, was man eigentlich heut noch sagen kann. Das, was Europa ist, hat sich immer wieder verändert. Es ist immer eine Frage der Perspektive, was man unter Europa versteht. Und Sie sehen es auch jetzt bei der Frage, gehört die Türkei zu Europa."

    Geografisch gesehen ist der Begriff Europa genauso umstritten wie historisch, ergänzt Michael Borgolte. Der Historiker an der Berliner Humboldt Universität ist Experte für mittelalterliche Geschichte. Gerade hat er für seine Arbeiten den europäischen Forschungspreis bekommen.

    "Man meinte lange Zeit, dieses mittelalterliche Europa sei das christliche Europa, das christliche Abendland gewesen. Diese Auffassung ist heute überwunden. Wir wissen heute, dass das mittelalterliche Europa eine multikulturelle und multireligiöse Welt gewesen ist. Ich spreche gerne vom monotheistischen Europa, weil hier Christentum, Islam und Judentum die dominierenden Religionen waren. Im Unterschied zur Antike, in der es politheistische Kulte gegeben hat. Beziehungsweise Naturreligionen gegeben hat."

    Einen vereinigten europäischen Gesamtstaat hat es in der Geschichte bislang nie gegeben, resümiert Michael Borgolte. Selbst die Großreiche, das römisch-deutsche, das byzantinische oder das Osmanische Reich haben es nie geschafft ganz Europa zu okkupieren.

    "Es gibt aber Grundlagen aufgrund derer die Europäischen Einigung sich vollziehen kann. Also die Wertediskussion, die in Europa geführt wird, ist natürlich eine Diskussion, die darauf abzielt nicht im politischen Sinne, sondern im Sinne eines Konsenses über einen Wertekanon, die Europäische Gemeinschaft zu definieren. Und in diesem Punkt stoßen die europäischen Politiker immer wieder auf die Voraussetzung der europäischen Einigung, die nämlich darin beruht, dass die Wurzeln Europas mehrere Kulturen und mehrere Religionen sind, die bisher häufig friedlich, manchmal auch konflikthaft miteinander gerungen haben. Und diese muss man zu Ausgleich bringen."

    In diesem Sinne sei es fatal, sich nur auf christliche oder jüdische Werte zurückzubesinnen, glaubt Michael Borgolte. Es gehe um Ausgleich.

    "Und das nenne ich transkulturelle Verflechtung. Also es geht darum in vernünftiger Weise zu diskutieren und auszuhandeln, welche Bestandteile der eigenen und fremden Kulturen miteinander vereinigt werden können und uns auf ein gemeinsames kulturelles Niveau heben können."

    Diskutiert müssen Fragen wie zum Beispiel die, ob die deutsche Gesellschaft es akzeptieren muss, dass türkischstämmige Frauen Kopftücher tragen.

    "Also wir sprechen von Stufen der kulturellen Vermischung. Hybridisierung bedeutet, dass verschiedene Elemente verschiedener Kulturen nebeneinander existieren. Aber auch wieder getrennt werden können. Und transkulturelle Verflechtung bedeutet, dass etwas Neues entsteht. Dem können wir nicht mehr entgehen. Und das ist vollkommen neu. Das war in der Nachkriegszeit gar nicht so."

    Europa sei inzwischen global geworden, sagt Michael Borgolte. Und die Europäer seien gut beraten, sich auf ihre wirklichen Wurzeln zu besinnen.

    "Weil ja die Grundlagen der europäischen Kultur aus Vorderasien stammen. Schon der Homo sapiens ist von Vorderasien nach Europa eingewandert. Er stammt aus Afrika und nicht aus Europa. Die Ackerbaukultur, die grundlegende Kultur, die wichtigste Weltrevolution hat darin stattgefunden, dass die Ackerbaukultur eingeführt worden ist. Kam von Vorderasien. Und schließlich kamen auch die drei großen Religionen aus dem Orient. Umgekehrt hat sich die dominante kulturelle Richtung nach dem Westen erst im 20. Jahrhundert."

    Europa ist keineswegs die Wiege der Hochkultur. Und der eurozentrierte Blickwinkel vieler Europäer hätten, sei lange obsolet, glaubt Professor Heimo Reinitzer.

    "Die Europäer haben eine Zeit lang geglaubt, sie beherrschten die Welt. Es waren Spanier, Portugiesen, Franzosen, Niederländer et cetera. Aber die Zeit ist vorbei."

    Heimo Reinitzer ist Präsident der Akademie der Wissenschaften in Hamburg. Der Historiker und Literaturwissenschaftler hat gesehen, dass die Idee von Europa sich in den letzten Jahrzehnten verändert hat.

    "Als Kind war für mich klar, was Europa ist. Der freie Teil Europas. Und man hatte die Vorstellung, wir kämpfen gegen den Kommunismus. Hat eine lange Tradition. Auch eine aus dem Dritten Reich, dem sogenannten glorreichen. Der Kampf gegen den Bolschewismus, das hat sich über 45 in Deutschland auch gehalten. Man führte diesen Kampf weiter. Das hatte Tradition. Und hat dabei vergessen, dass man einen Ostblock auch im Kopf hatte, den es so nie gegeben hat. Die Polen waren zutiefst beleidigt, wenn man sie als ein Land des Ostblocks bezeichnet hat. Sie waren nie ein Ostblock und die Ungarn waren es auch nicht. Und die Tschechen auch nicht."

    Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 verlor das westliche Europa gewissermaßen seine Zielvorstellung. Nämlich gegen den Kommunismus zu sein, resümiert Heimo Reinitzer. Seitdem gelte es, sich eine neue europäische Identität aufzubauen.

    "Meine Sorge ist, dass man eine neue Identität aufbaut in Richtung Kampf gegen eine andere Religion. Das könnte der Islam sein oder Kampf gegen Terroristen, die man mit einer ganzen Religion identifiziert. Und in diesem Kampf dann versucht eine sogenannte einheitliche christliche Position für Europa aufzubauen, die es überhaupt nicht gibt. Wir vergessen, dass 60 Prozent unserer Bevölkerung in Europa in keinerlei kirchlichen Zusammenhängen mehr haben. Das interessiert die nicht mehr. Insofern ist dieser Rückgriff ein Kampf von Christentum gegen den Islam und so, das ist eine Ideologie, die gibt es so nicht."

    Aber in vielen europäischen Ländern schürten regionale und nationale Bewegungen die Ängste der Menschen. Vor Überfremdung und Entpersönlichung. Ängste, die man sehr ernst nehmen muss, glaubt Heimo Reinitzer.

    "Und müssen sehen, dass wir nicht ausgrenzen und nicht nur Gewalt üben, sondern zeigen, wo denn die neuen Erfolge sind. Wo der neue Nutzen ist. Wenn da aber Generationen heranwachsen sollten, die nicht mehr wissen, welchen Segen Frieden bedeutet für unsere Entwicklung, dann wird das verheerend sein."

    Die Idee eines gemeinsamen Europas müsse sein, eine gemeinsame Wirtschafts- und Rechtspolitik zu verwirklichen. Und die Grundideen der Französischen Revolution konsequent durchzusetzen, sagt Heimo Reinitzer. Freiheit, Gleichheit Brüderlichkeit. Für alle. Egal ob Mann oder Frau, Greis oder Kind, Schwarz oder Weiß.

    "Wenn wir diese wichtigen Dinge gemeinsam als Ziel hätten, wäre das ein gemeinsames Europa. Ob die den Euro gemeinsam haben oder nicht, ist ziemlich egal. Aber das sollte für England genauso gelten wie für Frankreich und Deutschland. Für Rumänien genauso gelten wir dann auch für Griechenland."

    Das, sagt der Geschichtsprofessor, das sei sein Traum vom gemeinsamen Europa.

    "Wir dürfen nicht glauben, dass ein einheitliches Europa ein Europa ist, das wirklich zu einem Einheitseuropäer führt. Das ist ja auch nicht gewollt so. Es ist die Vielfalt in der Einheit."

    Was ist also Europa. Anja Pistor-Hatam, Professorin für Islamwissenschaften an der Christian Albrechts Universität in Kiel weiß darauf auch keine Antwort.

    "Europa bedeutet für mich eigentlich nicht, dass es etwas Besseres wäre oder Zivilisierteres als andere Teile der Welt. Europa ist auch kein Kontinent, sondern klebt an Asien."

    Ein Vorzeige-Abendland sei Europa jedenfalls nicht, sagt die Islamwissenschaftlerin. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts seien zumindest in Deutschland die Juden ausgegrenzt worden. Heute seien es die Muslime.

    "Wir sind ja als Gesellschaft nicht für alle Zeiten festgelegt, sondern wir verändern uns dauernd. Wir verändern uns durch alle möglichen Einflüsse und müssen immer wieder neu überlegen wie gehen wir mit bestimmten Situationen um. Und das heißt eben auch, wir müssen aushandeln mit Leuten, die neu dazu kommen und solchen, die schon länger hier sind und bestimmte Forderungen stellen."

    Neu Aushandeln innerhalb der europäischen Gesetze. Die verbieten Zwangsehen, Ehrenmord, Kindesmisshandlung und Fernbleiben vom Schulunterricht. Eben Delikte, die oft muslimischen Menschen zugeschrieben werden, weiß Anja Pistor-Hatam.

    "Man kann heute sagen, dass die meisten problematischen Situationen entstehen aufgrund der sozialen Situation in der Menschen leben und nicht aufgrund ihrer religiösen oder kulturellen oder sonstigen Zugehörigkeit. Also das ist eine Tatsache in den Sozialwissenschaften, die ziemlich deutlich ist."

    Im Übrigen könne man bei einer Europarundreise erleben, welche großartigen Kulturschätze die Muslime in früheren Jahrhunderten hinterlassen hätten. Viele Europäer würde das gar nicht realisieren. ZUM BEISPIEL seien viele einzigartige Bauwerke heute gewissermaßen christianisiert.

    "In Spanien ist es ganz deutlich. Wenn man sich in Cordoba die Mekito ankuckt, also eine Moschee, die zur Zeit der Omajaden von Cordoba gebaut wurde, also im 8. Jahrhundert. Das ist eine fantastische Moschee in die dann die christlichen Könige nach der Eroberung der letzten moslemischen Bastion haben dann in Cordoba in die Moschee eine Kathedrale hineingesetzt, um ihre Macht zu demonstrieren."

    Die großen Zeiten der christlichen Könige sind lange vorbei. Derzeit ist die erste Assoziation zu Europa das Wort "Krise". Aber Cord Jakobeit, Professor für Politikwissenschaften an der Universität Hamburg warnt vor Panikmache.

    "Ich glaube, dass man vorsichtig sein muss mit der Bemerkung, dass sich Europa in einer schweren Krise befindet. Wie solche Erfahrung hat man in der Vergangenheit auch öfter gemacht, dass es weltwirtschaftliche Turbulenzen, Finanzprobleme etc. gegeben hat. Ich denke, dass die Zusammenarbeit in Europa schon sehr robust ist."

    Cord Jakobeit ist überzeugt: auch wenn England gerade einige Entscheidungen nicht mittragen möchte. Europa läuft nicht Gefahr, auseinander zubrechen.

    "Dazu sind die Engländer viel zu sehr daran interessiert auch bei anderen Fragen ihre Möglichkeit der Mitsprache in Europa nicht zu verlieren."

    Aber die Ressentiments gegen Deutschland würden in manchen Ländern derzeit wachsen, prognostiziert der Politologe.

    "Wenn Deutschland in einer Position ist, wo sie sagen, Solidität, Haushaltskonsolidierung, Schuldenbremse, Abbau der Defizite. Das ist für die Staaten, die in einer schweren Wirtschaftskrise stecken natürlich nicht so sehr die willkommene Botschaft."

    In diesem Zusammenhang müsse man immer wieder auf die Leistungen des vereinten Europa hinweisen. Denn europäische Identität, so Cord Jakobeit sei nicht geprägt durch Mythen vom christlichen Abendland, sondern durch 60 Jahre gelebte Geschichte.

    "Die zu einer Mehrebenenidentität bei einzelnen Menschen in Europa geführt hat, die sich wahrnehmen als Leute aus Hamburg oder weiter zugespitzt aus Barmbek oder aus St. Pauli. Die sich als Norddeutsche wahrnehmen, die sich als Deutsche wahrnehmen und die, wenn sie in Amerika sind, auch als Europäer sich einordnen."

    Und, fügt Cord Jakobeit hinzu, er glaube, dass viele außereuropäische Nationen unser Europa und die europäische Integration sehr viel objektiver sähen als die Europäer selber. Regionale Zusammenarbeit, Versuche mit Nachbarstaaten zu kooperieren, das sei eine Aufgabe der Zukunft. Weltweit.

    "Wir sind ein Modell für den Rest der Welt. In der Art und Weise wie wir es schaffen, jenseits des Nationalstaates mit unseren Nachbarn friedlich zusammenzuarbeiten. Zwar nicht immer schnelle Lösungen finden. Auch nicht immer die rasch guten Lösungen finden. Aber wir aber auf gar keinen Fall zurückkehren werden zu einer Form, die ja das Zusammenleben der drei Generationen vor uns, der deutsch-französischen bestimmt hat. Das waren drei Generationen, die in jeder Generation einen großen Krieg ausgefochten haben. Ich würde sagen, dass das für meine Generation, auch für die folgende Generation absolut unvorstellbar geworden ist. Wir haben Möglichkeiten geschaffen, wie wir auf einem friedlichen Weg zu einem Interessenausgleich kommen. Und das ist eine Errungenschaft, um die uns die Welt beneidet."