Amerika wurde einfach kritischer wahrgenommen. Und im Ostberliner Sportkaufhaus am Frankfurter Tor kauften gern Angehörige aller West-Alliierten preiswert ein. Warum erschienen mir die Blicke der französischen Soldaten aufgeweckter und neugieriger? Weil es Wehrpflichtige waren und keine Berufssoldaten wie die Amerikaner und Briten? Frankreichs Kinohelden ob tollkühn wie Belmondo oder witzig wie Louis de Funès, standen in der DDR für den populären Film an sich. (Was ihnen durch den Ausschluss vieler amerikanischer Filme für den DDR-Vertrieb erleichtert wurde.) Frankreich leuchtete trotz Algerienkrieg, brutaler Polizei und skrupelloser Geheimdienstaktivitäten. Davon wußten wir natürlich. Das sahen wir in den sehr gesellschaftskritischen Filmen, die auch alle aus Frankreich kamen und uns vorführen sollten, wie schlimm es im Westen war. Zuerst einmal präsentierten sie hervorragende Schauspieler und Regisseure und sensibilisierten früh für den psychologischen Terror von Geheimdiensten und Polizei generell. Keine Kultur und Literatur zeigte nach 1945 so konsequent wie die französische, dass das Maß an Selbstbewusstsein von der Fähigkeit zur Selbstkritik bestimmt wird. Frankreich überzeugte durch seine Literatur und Philosophie. Nicht nur Sartre und Camus, auch Alfred Jarry erschien in der DDR und lieferte ein Muster für subversive Sprach-Strategien. Alles Gute kam nicht aus Frankreich. Aber alles, was aus Frankreich kam, schien etwas besser zu sein. Strahlender, vielfältiger. Selbst die Kommunisten in Frankreich waren die überzeugteren und damit besseren. Außerdem schienen es mehr zu sein. Die Staatspartei der DDR, SED, hätte in geheimen Wahlen nicht die Ergebnisse der französischen KP erreicht. Und dann verströmte Frankreich auch jenen gewisse antiamerikanische Flair, in dem sich sowohl die DDR-Regierung als auch die Bevölkerung heimischer fühlten.
Die Liebe zu Frankreich auch ein wenig als Ausdruck der Skepsis bis Ablehnung gegenüber Amerika. Und Frankreich war besonders an der DDR interessiert. Zu den subkulturellen Zirkeln und oppositionellen Kreisen Ostberlins kamen aus Frankreich mehr Journalisten als aus anderen nicht-deutschen Staaten. Seine Diplomaten und Kulturleute zeigten besondere Neugier. (Sie ließen bei den Kontakten oft vergessen, dass sie aus einem anderen politischen System stammten. Das war bei Filmvorführungen in der amerikanischen Botschaft schwieriger, wenn zwei GIs in voller Bewaffnung am Rande des Stehempfangs entlang patroullieren mussten.) Frankreich gelang es als einzigem westlichen Staat ein Kulturzentrum in der DDR zu eröffnen, trotz Überwachung lockte es "Unter den Linden" zahlreiche Besucher an. Frankreich hat mit die Angst vor dem Westen abgebaut. In dem es bei skeptischen Ost-Intellektuellen (und nicht nur bei denen) die Befürchtungen dämpfte. Frankreich als Fenster nach Europa – ein künftiges Deutschland würde ein europäisiertes sein. Ein Versprechen, das im Osten und dort auch eher durch den Osten noch einzulösen ist. (Wer sich per Zug oder Auto auf unseren Nachbarn zu bewegt, merkt im Badischen oder in Saarbrücken die zunehmende mentale und kulturelle Präsenz von Frankreich.)
LUTZ RATHENOW, Berliner Schriftsteller, übersetzt in "Die Zeit danach. Politische Prosa seit 1990" DDR-Erfahrungen ins Europäische (Hohenheim Verlag, Stuttgart, Sommer 2003).
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