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Die Temperatur der Literatur

"Vier Jahreszeiten", unterteilt in zwölf Kapitel, das könnte ein bloß formaler Akt sein. Doch die wundersam weltklugen Miniaturen des ungarischen Dichters Sándor Márai atmen im Rhythmus der Natur, mit einer gravierenden Ausnahme: Sommerhell wird es nie darin. Zudem herrscht Vorkriegszeit in Europa. Die Fratzen der Diktatoren Hitler und Stalin schieben sich vor die Verheißungen einer menschenfreundlichen conditio humana.

Florian Felix Weyh | 26.05.2008
    Selten spricht die Literatur über das Verhältnis von Temperatur und Formulierung. Wurde seit Einführung der Zentralheizung anders geschrieben als im Zeialter offener Kamine? Das ist durchaus keine obskure Frage germanistischer Doktoranden. Schon weil man mit klammen Fingern keine Feder führen kann, bestimmt das Klima über die schriftstellerische Ausbeute mit.

    Auch Lesen unterliegt seinen Vorgaben. Bei minus 20 Grad werde Goethe so sinnlos wie Byron, befindet an einem eisigen Februartag des Jahres 1937 zähneklappernd der ungarische Dichter Sándor Márai, und stellt fest: "Die Temperatur der Literatur liegt bei 18° Celsius. Unter- oder oberhalb dieses Werts hat niemand echten Bedarf."

    Das scheint zunächst nur so hingeschrieben, doch zieht sich Wetterfühligkeit wie ein Leit-faden durch sein Buch "Die vier Jahreszeiten". Im Juli konstatiert er angesichts drückender Hitze: "Ich bin Schriftsteller, brauche das künstliche Klima, um arbeiten zu können." Und im November fühlt er sich "wie ein Delinquent, der seine Strafe im Knast antritt. Fünf Monate lautet das Strafmaß, vielleicht überstehen wir sie."

    Gemach, man übersteht jede Winterzeit, doch prägt sie die Wahrnehmung. Vermehrt treten dunkle Gedanken in die Bewusstseinshelle, Tod und Vergänglichkeit werden zum täglichen Begleiter. Der Autor sinniert über den stofflichen Zustand eines drei Jahre zuvor verstorbenen Freunds und stellt sich dessen Verwesungsprozess vor. Da muss noch etwas vorhanden sein! "Der Mensch stirbt langsam", notiert er. "Nicht nur zur Unsterblichkeit braucht es Zeit, auch zur Sterblichkeit."

    "Vier Jahreszeiten" - Frühling, Sommer, Herbst und Winter, unterteilt in zwölf Kapitel, das könnte ein bloß formaler Akt sein, um lose geschütteltes Gedankengut auf den Markt zu tragen. Doch die wundersam weltkluge Miniaturen des ungarischen Dichters Sándor Márai atmen im Rhythmus der Natur, mit einer gravierenden Ausnahme: Sommerhell wird es nie darin.

    Wer Antonio Vivaldis lebensfrohe Musik im Ohr hat, mag sich über die Düsternis dieser "Vier Jahreszeiten" wundern: So viel Melancholie im sonnenverwöhnten Ungarn? So heftige Lebensendgedanken, solch unverhohlene Resümee¬bereitschaft bei einem 37-Jährigen? Kennt man das mit dem Suizid abschließende Tagebuch Márais 50 Jahre später, weiß man, dass dies kein Zufall ist: Der Same der Selbstauslöschung ist früh gesät und reift lange.

    Zudem herrscht Vorkriegszeit in Europa. Die Fratzen der Diktatoren Hitler und Stalin schieben sich vor die Verheißungen einer menschenfreundlichen conditio humana, auch der landeseigene Autokrat Admiral Horthy wirkt nur im Kontrast als milderer Herrscher. Gallig zu werden, ist eine Option für Intellektuelle in dieser Lage, abgeklärt eine andere. Márai wird beides zugleich, und das liest sich im Abstand eines Menschenlebens wie das Selbstportrait eines beneidenswert souveränen Geistes.

    Der folgt seinem heimlichen Vorbild Goethe, dem er eine süffisant-entlarvende Charakterskizze widmet: Was würde der Weimarer Dichterfürst anno 1937 tun? "Vermutlich dasselbe", spekuliert Márai. "Mit Kanzler Müller oder mit Eckermann plaudern, auf begeisterte Briefe junger Dichter misstrauisch und kühl antworten, und er würde dem Verleger von Hermann und Dorothea in Sachen Honorarabrechnung einen gestrengen Brief schreiben. Nichts anderes könnte er tun. Deshalb war er Goethe."

    Und deshalb ist Márai Márai, der distanzierte Beobachter, der genau hinschaut, um hinter jeder Oberfläche tiefere Wahrheiten auszuloten. Eine neu eröffnete Bankfiliale, modisch eingerichtet und nachts zu Werbezwecken beleuchtet, entlockt ihm einen Stoßseufzer mit Widerhaken: "Es gibt also auch einen stimmungsvollen Kapitalismus." Absatz. "Ungefähr so, als wenn ein Löwe sich Rosen hinters Ohr klemmen würde."

    Siegen wird dieser Kapitalismus freilich nicht, den der liberalkonservative Márai keines-wegs verdammt, aus anthropologischen Gründen: "Eines Tages muss man alles wegwerfen, alles", ahnt er resignativ, "die Uhr, die Möbel, die Bildung, und muss zu den Armen heimkehren. Man kann nicht anders. Sie sind die Stärkeren. Rufen einen unentwegt."

    Dem Piper Verlag lässt sich gar nicht genug danken, dass er diesem lange vergessenen Autor seit Jahren eine Heimstatt bietet und sein Gesamtwerk wie mit dieser deutschen Erstausgabe akribisch aufbereitet. In seiner Weltläufigkeit - Márai hatte slowakische Wur-zeln, schrieb auf ungarisch, beherrschte das Deutsche nicht minder - wirkt das Werk wie ein letztes Vermächtnis des Habsburgerreichs. Ein Erbe, das dem Fortschrittsglauben des 20. Jahrhunderts demütige Skepsis entgegensetzt.

    In den "Vier Jahreszeiten" lugt sie immer wieder zwischen den Zeilen hervor: "Ich will die Welt nicht mehr erklären", schreibt der 37-Jährige, fast müde. "Aus mehreren Gründen. Vor allem deshalb, weil ich sie nicht verstehe."

    Sándor Márai: Die vier Jahreszeiten
    Aus dem Ungarischen von Ernö Zeltner,
    Piper Verlag, 272 Seiten, 12 Euro