Donnerstag, 28. März 2024

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Die Todesnacht von Stammheim

Es war ein Wechselbad der Gefühle, dem die deutsche Öffentlichkeit am 18. Oktober 1977 ausgesetzt wurde: Erst konnte sie angesichts der Befreiung der entführten Lufthansa-Maschine Landshut jubeln, dann erfuhr sie von dem Selbstmord dreier führender RAF-Mitglieder im Stammheimer Hochsicherheitstrakt, in den offenbar sogar Pistolen geschmuggelt werden konnten. Bis heute sind nicht alle Fragen nach dem Wie und Wieso geklärt.

Von Oliver Tolmein | 18.10.2007
    Am Morgen des 18. Oktober 1977 schloss ein Vollzugsbeamter im hochgesicherten 7. Stock der Justizvollzugsanstalt Stammheim um 7:41 Uhr die Zelle des RAF-Gefangenen Jan Carl Raspe auf. Raspe saß auf seiner Liege, aus seiner linken Schläfe rinnt Blut. Er atmete kaum noch und auch sein Puls war fast nicht mehr zu spüren. Der Notarzt wurde alarmiert. Helfen konnte er nicht mehr. Raspe starb auf dem Weg ins Krankenhaus. Zwanzig Minuten später wurden auch Andreas Baader und Gudrun Ensslin in ihren Zellen gefunden - beide tot. Irmgard Möller war schwer verletzt und wurde in die Klinik eingeliefert. Tags darauf fand die Polizei Hanns Martin Schleyer, den die RAF noch als Geisel hatte, ermordet im Kofferraum eines Autos. Als erster Politiker informierte der baden-württembergische Justizminister Traugott Bender die Medien über die Vorfälle in der JVA Stammheim.

    " Andreas Baader, Jan Carl Raspe und Gudrun Ensslin haben nach dem derzeitigen Stand der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen in den frühen Morgenstunden des 18. Oktober in ihren Zellen Selbstmord begangen. "

    Damit lebte von den prägenden Köpfen der ersten Generation der RAF keiner mehr. Für die Öffentlichkeit waren die Ereignisse eine Sensation: Ausgerechnet in dem bestgesicherten Gefängnis der Bundesrepublik sollten sich drei höchst prominente Gefangene umgebracht haben können? Eine Hörfunk-Sondersendung des selben Tages brachte die Fragen, die sich viele stellten, auf den Punkt:

    " Wie kann es möglich sein, dass in den Zellen von Baader und Raspe Pistolen auftauchen? Das zweite Unerklärte ist die Information: Es deutet alles darauf hin, dass die drei die geglückte Befreiung der Lufthansa-Maschine in Mogadischu erfahren haben mussten und daraufhin total resigniert haben. Noch unklar ist auch der Zeitpunkt des Selbstmords. "

    Irmgard Möller, die sich mit einem normalen Brotmesser einen sieben Zentimeter tiefen Stich ins Herz beigebracht haben soll, bestreitet die Selbstmordversion bis heute. Sie erinnert sich daran, eingeschlafen zu sein.

    " Meine erste Wahrnehmung war ein starkes Rauschen im Kopf, während mir im Umschlussflur unter ganz grellem Licht jemand meine Lider hochzerrte. Erst Tage später im Krankenhaus bin ich wieder richtig zu mir gekommen. Ein Staatsanwalt stand neben meinem Bett und wollte wissen, was passiert sei. "

    Das staatsanwaltschaftliche Todesermittlungsverfahren wurde im April 1978 abgeschlossen und bestätigte die Selbstmordversion. Die Waffen sollten durch die Anwälte in präparierten Aktenordnern in die Zellen geschmuggelt und dort versteckt worden sein. Auch ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss des baden-württembergischen Landtages kam zu dem Schluss, dass sich die Stammheimer Gefangenen selbst umgebracht haben. Trotzdem beschäftigen die Ereignisse in dieser Nacht weiterhin die Öffentlichkeit und die Medien. Zwei Punkte stehen im Mittelpunkt der Diskussion: Wussten die Behörden, dass die RAF-Gefangenen zwei Pistolen in den Zellen versteckt hielten? Und: Haben Geheimdienste die Gespräche in den Zellen abgehört? Der "Spiegel" zitiert den damaligen Leiter des baden-württembergischen Landeskriminalamtes Hans Kollischon auf die Frage nach Abhörmaßnahmen während der Schleyer-Entführung:

    "Es wäre doch idiotisch, wenn man solche Einrichtungen nicht nutzen würde, um das Leben Schleyers zu retten. Alles was machbar war, wurde gemacht."

    Dagegen behauptet der frühere BKA-Präsident Horst Herold, er habe von Abhörmaßnahmen nichts gewusst und halte sie auch für unwahrscheinlich. Der grüne Politiker Christian Ströbele, früher selbst Verteidiger von RAF-Mitgliedern, hat eine kleine Anfrage an die Bundesregierung gestellt, ob sie von Abhöraktivitäten wisse. Der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Dieter Wiefelspütz, fordert dagegen einen baden-württembergischen Untersuchungsausschuss:

    "Ich finde die Vorstellung unglaublich und unerträglich, dass Staatsbedienstete die Selbstmord-Vorbereitungen der Häftlinge mitgehört haben sollen, ohne etwas dagegen zu unternehmen. Die Spuren kommen aber aus Baden-Württemberg, dort muss man ihnen nachgehen."

    30 Jahre nach dem Deutschen Herbst bestätigt sich so, was ein Rundfunk-Kommentar schon einen Tag nach dem Tod der Gefangenen konstatierte:

    " Uneingeschränkte Offenheit ist jetzt tatsächlich ein zwingendes Gebot. Das schlechte Gewissen, dass sich hierin aber auch zeigt, haben die verantwortlichen Politiker zu Recht. Was immer im Einzelnen geschehen ist: Die Versäumnisse sind so groß, dass sie auch politisch Folgen haben werden. "

    Während damals aber viele Unterlagen und Dokumente möglicherweise noch der Geheimhaltung bedurften, schafft der zeitliche Abstand heute, mehr Recherchemöglichkeiten - auch die 30 Jahresfrist des Bundesarchivgesetzes ist mittlerweile überschritten.