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Die Top Ten der meistverkauften Bücher seit Erfindung des Buchdrucks

Zeit für den literarischen Menschenversuch im Deutschlandfunk: Was geschieht mit einem Gehirn, das Monat für Monat abwechselnd die zehn in Deutschland meistverkauften Romane und Sachbücher von der ersten bis zur letzten Seite tatsächlich liest?

Kommentiert von Denis Scheck | 01.03.2013
    Nach zehn Jahren ist dieses Gehirn neugierig geblieben: Welche Titel mögen jenseits der Tagesaktualität seit der Erfindung von Johannes Gensfleisch aus Mainz die meistgedruckten, wenn schon nicht die meistverkauften oder gar die meistgelesenen sein?
    Die Top Ten Belletristik seit Erfindung des Buchdrucks

    Diesmal mit den zehn meistverkauften Büchern aller Sprachen und aller Zeiten seit Erfindung des Buchdrucks mit Ausnahme von: Comics, Heiligen Schriften wie der Bibel, den Aussprüchen des Großen Vorsitzenden Mao, dem Koran und anderen Büchern,(über die man im Radio kein Urteil abgeben sollte) sowie Büchern von oder über Helmut Schmidt.
    In diesem Monat bringen die zehn meistgedruckten Romane der Deutschen 4173 Gramm auf die Waage: zusammen 4389 Seiten.

    Platz 10) Paulo Coelho: "Der Alchimist"

    Dieser aus dem proto-literarischen Urschleim gekrochene Einzeller der Erbauungsliteratur erzählt von dem Hirtenjungen Santiago, der auf der Suche nach irdischen Schätzen das ewige Seelenheil findet. Ein Buch, dessen Streicheleinheiten für die Psyche so profund sind wie Kalenderweisheiten der Sorte: "Wenn’s Arschel brummt, ist’s Herzl gsund". Langsam ausgesprochen, fasst die letzte Silbe des Titels das Buch schlüssig zusammen.
    Platz 9) J.D. Salinger: "Der Fänger im Roggen"

    Der 16-jährige Holden Caulfield rebelliert gegen die Verlogenheiten der US-amerikanischen Gesellschaft Anfang der 50er-Jahre. In gewisser Weise ist diese Darstellung pubertärer Auflehnung wohl ein ewiges Motiv in der Literatur, und Salinger ist ohne Frage ein blendender Stilist. Aber wenn ich heute diesen einst so heiß geliebten Roman wieder lese, bin ich doch verblüfft, mit wie großer moralischer Selbstgerechtigkeit Salingers Held über seine Mitwelt urteilt. So leid es mir tut: Dieser Roman hat sein Verfallsdatum deutlich überschritten.
    Platz 8) Dan Brown: "Sakrileg"

    Dan Brown erzählt eine abstruse Mär über den Heiligen Gral, die Kinder von Jesus Christus und ein über Jahrtausende gehütetes Geheimnis. Literarisch völlig unerheblicher Schrott, aber: wahnsinnig spannend und durch die Stoffwahl von einer schwer zu schlagenden Grandeur.
    Platz 7) Henry Rider Haggard: "Sie"

    Nie hat die Angst vor der starken Frau schöneren Ausdruck gefunden als in dieser Länder- und Zeitengrenzen sprengenden Abenteuergeschichte um die unsterbliche Ayesha, genannt Sie, die in einem Engländer des 19. Jahrhunderts die Wiedergeburt ihres antiken Geliebten sieht und kurzerhand beschließt, mit ihm nach England zu gehen und sich an die Stelle Königin Viktorias zu setzen. Haggards Roman ist immer noch ein literarisches Lehrstück darüber, wie man aus Ängsten von Kleinbürgern Literatur macht.
    Platz 6) C. S. Lewis: "Der König von Narnia"

    Vier während des Zweiten Weltkriegs aus London aufs Land evakuierte Kinder, ein Schrank, durch den man in ein Land namens Narnia gelangt, in dem die Tiere sprechen können und in dem seit hundert Jahren Winter herrscht, sowie eine uralte Prophezeiung. Mehr braucht es nicht für eines der wunderbarsten Werke der Fantasyliteratur, das den Katholizismus mit der Zauberei versöhnt. Von seinem Autor C. S. Lewis stammt der schöne, an uns Leser gerichtete Satz: "Eines Tages werden Sie alt genug sein, wieder Märchen zu lesen."
    Platz 5) Agatha Christie: "Und dann gabs keines mehr"

    Zehn Menschen werden auf eine unbewohnte Insel eingeladen und finden dort einer nach den anderen Tod, weil sie in ihrer Vergangenheit schwere Schuld auf sich geladen haben. Der Clou: Der Mörder muss unter ihnen sein. Dieser Roman der momentan eher unterschätzten Agatha Christie wurde zum meistverkauften Krimi aller Zeiten. So reizvoll die aristotelische Einheit von Zeit, Ort und Handlung dieses Krimis auch ist: Dieser Ruhm ist sicher unverdient, amüsant und spannend liest sich das im Original 1939 unter dem Titel "Ten little Niggers" erschienene Buch aber immer noch.
    Platz 4) Cao Xueqin: "Der Traum der roten Kammer"

    Der Verfall einer chinesischen Adelsfamilie im 18. Jahrhundert steht im Mittelpunkt dieses mit an die 400 Charakteren überaus figurenreichen Romans. Seine Textgestalt ist umstritten, doch bis heute hat dieser Roman über das Schicksal von zwölf jungen Frauen, die ihrem Wesen nach alle sehr unterschiedlich sind, und dem tagträumerischen, antriebslosen Adelssprössling Jia Baoyu, einem Wesensverwandten Hanno Buddenbrooks, nichts von seiner Faszination eingebüßt. Die Mutter aller Familienromane, auf Deutsch leider oft absurd gekürzt: ein Werk für die großen Ferien.
    Platz 3) Antoine de Saint-Exupery: "Der kleine Prinz"

    In seinem wunderbaren kleinen Meisterwerk scheibt Saint Exupery:

    "Ich möchte nicht, dass man mein Buch leicht nimmt",

    Deshalb an dieser Stelle nur der Hinweis, dass nicht der Prinz, sondern der Fuchs die Quelle aller Weisheit in diesem Buch ist. Vom Fuchs stammt nicht nur der oft zitierte Satz

    "Man sieht nur mit dem Herzen gut",

    sondern die weit weniger populäre Erkenntnis:

    "Du bist zeitlebens für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast."

    Man sollte sich also zum Beispiel gut überlegen, welche Bücher man sich ins Regal stellt. Sie färben unweigerlich auf einen ab.
    Platz 2) J.R.R. Tolkien mit "Der Herr der Ringe" und der auf vielen Listen auf Platz vier stehenden Vorgeschichte "Der Hobbit"

    Dass eine Sprache selbst Geschichten braucht, um zu wachsen und sich zu entfalten: diese wunderbare Erkenntnis machte Tolkien, als er sich als junger Mann einige Fantasiesprachen ausdachte. Die Folge war die Mythologie von Mittelerde – und eines der großen Meisterwerke der Literatur des 20. Jahrhunderts.
    Platz eins - Charles Dickens: "Die Geschichte zweier Städte"

    Paris und London in Zeiten unmittelbar vor und während der französischen Revolution, vertauschte Identitäten, dunkle Familiengeheimnisse, psychische Beschädigungen nach 18 Jahren Haft in der Bastille, zu Unrecht zum Tode Verurteilte, Leichenschänder und Wiedergänger Christi, himmelschreiendes Unrecht und grausam vollzogene Rache: das sind die Ingredienzien des meistverkauften Romans aller Zeiten. Kolportage? Wenn es um den Rang von Charles Dickens geht, vergessen wir Heutigen gern, dass etwa Franz Kafka seine ersten Schreibversuche als "glatte Dickens-Nachahmung" bezeichnet hat. Allein der erste Satz dieses Romans ist ein Fanfarenstoß, für mich der brillanteste Romananfang aller Zeiten, in dem sich der Triumph des historischen Romans und des Erzählers Charles Dickens ankündigt:

    "Es war die beste Zeit, es war die schlimmste Zeit, ein Jahrhundert der Weisheit und des Unsinns, eine Epoche des Glaubens und des Unglaubens, eine Periode des Lichts und der Finsternis: es war der Frühling der Hoffnung und der Winter der Verzweiflung; wir hatten alles, wir hatten nichts vor uns; wir steuerten alle unmittelbar dem Himmel zu und auch alle unmittelbar in die entgegengesetzte Richtung – mit einem Wort, diese Zeit war der unsrigen so ähnlich, dass ihre geräuschvollsten Vertreter im guten wie im bösen nur den Superlativ auf sie angewendet wissen wollen."

    Wer würde nach diesem Anfang nicht gern darauf verzichten, gen Himmel zu fahren?